Gregory Klimow. Berliner Kreml. Kapitel 14

Dialektischer Zyklus

1.

Der Sommer 1946 neigte sich seinem Ende zu. Tagaus, tagein brannte über Berlin die Sonne. Wie eine glühende Kugel lohte sie durch den leichten Schleier des Kalkstaubes, der über der Stadt hing. In dichter Schicht lag der gleiche Staub auf dem Grase und den Blättern der Bäume.

In der sengenden Glut des Spätsommers wickelte sich in Karlshorst das gewohnte Leben ab. Bemüht, den Zutritt zum Hauptstab zu erlangen, liefen die Deutschen an dem Gebäude der Kommandantur geschäftig hin und her. In den Verwaltungsdienststellen und den Abteilungen des Hauptstabes der SMA wurde fieberhaft gearbeitet. Daß Karlshorst nur eine ferne, von einem fremden und feindseligen Element umgebene Insel ist, das war den Trägern der goldenen Schulterstücke im Wirbel der Arbeit mitunter nicht mehr gegenwärtig. Wenn aber der Tag des Urlaubs und der Fahrt in die Heimat heranrückte, empfanden sie mit verdoppelter Schärfe, daß' in den weiten Räumen des Ostens ein ungeheures Land liegt, i h r Land, dessen Interessen außerhalb seiner Grenzen zu verteidigen ihnen Vorbehalten ist.

Briefe aus der Sowjetunion berichteten über eine ungewöhnliche Dürre auf dem ganzen Territorium des europäischen Teils der UdSSR. Uber den Ertrag der bevorstehenden Ernte wurden offen Befürchtungen geäußert. Das Getreide, noch nicht reif geworden, bröckelte in die Furchen. Die kleinen Gemüsegärten, von denen die breite Masse des Volkes lebte, waren in der Hitze verdorrt. Die Leute blickten schwermütig in den wolkenlosen Himmel und befürchteten den Ausbruch einer Hungersnot, die noch schlimmer sein konnte als die, welche sie in den Kriegsjahren durchgemacht hatten. Die Briefe aus der Heimat atmeten Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung.

Seit dem Tag, an dem ich in Berlin eingetroffen war, um meine Tätigkeit bei der sowjetischen Militärverwaltung aufzunehmen, war unmerklich ein Jahr verstrichen. Ich stand in den Anfängen des zweiten. Am Ende des Sommers war endlich auch für mich der Urlaub fällig. Ich durfte für anderthalb Monate Berlin den Rücken kehren und mich in der Heimat erholen.

Andrej Kowtun nahm seinen Urlaub zur gleichen Zeit wie ich, und wir wurden uns einig, miteinander zu fahren. Wir beschlossen, zunächst einmal in Moskau Halt zu machen, dann unsere Heimatstadt im Süden aufzusuchen, um schließlich unsere Erholungstage irgendwo an der Küste des Schwarzen Meeres zu verbringen. Andrej wollte den Urlaub unbedingt im Zeichen der Erinnerungen an unsere Jugendzeit einrichten.

Auf dem Schlesischen Bahnhof in Berlin herrscht lebhaftes Gedränge. Am Militärschalter geht ein rühriger Handel vor sich – das Besatzungsgeld wird gegen Rubel eingetauscht. Ankömmlinge aus der UdSSR suchen ihre nutzlosen Dukatenpäckchen gegen die anziehenden Markscheine zu wechseln. Die UdSSR-Fahrer sind ihrerseits froh, ihre Markscheine gegen sowjetische Valuta loszuwerden.

Andrej begab sich, seine MWD-Offiziersuniform als Vorspann benutzend, zum Militär-Kommandanten des Bahnhofs und kehrte gleich darauf mit zwei Fahrkarten 2. Klasse zurück. Seine Umsicht erwies sich als sehr angebracht. Sämtliche Wagen sind brechend voll. Die Mehrheit der Passagiere führt eine Menge Gepäck mit sich, von dem sie sich, dem Kundendienst der Gepäckwagen kein Vertrauen entgegenbringend, unter keinen Umständen trennen möchte. Auch wir sind keineswegs gewillt, das Problem unserer vier Koffer, die in der Hauptsache mit Geschenken für Verwandte und Bekannte angefüllt sind, hintanzustellen.

Ungeachtet dessen, daß sowjetische Militärzüge, die die Strecke Berlin – Moskau befahren, den sich in Wäldern versteckt haltenden polnischen Nationalisten des öfteren ein willkommenes Beschuß- und Angriffsobjekt bieten, erreichte unser Zug Brest ohne die geringsten Zwischenfälle. Die erste Kontrolle der Papiere und des Gepäcks findet an der sowjetischen Grenz- und Passiersperre in Brest statt. Alle Passagiere steigen da in einen anderen Zug. Besonders gründlich durchsucht der Grenzschutz des MWD das Gepäck der demobilisierten Militärpersonen nach Waffen, die als Trophäen mit nach Hause genommen werden könnten. Auch auf Urlaub fahrende Militärs werden mit großem Argwohn unter die Lupe genommen.

Ein Leutnant des Grenzschutzes des MWD in grüner Mütze, der die Papiere eines vor uns stehenden, auf Urlaub fahrenden Hauptmannes prüft, wendet sich an diesen mit der Frage: "Warum haben Sie Ihre Dienstwaffe nicht da abgeliefert, Genosse Hauptmann, wo Sie eingesetzt sind?"

"Ich erhielt keinen diesbezüglichen Befehl", erwidert jener, verdrossen mit den Achseln zuckend.

"An Ort und Stelle angelangt, werden Sie die Pistole auf der Ortskommandantur, bei der Sie sich registrieren lassen, abliefern müssen", sagt, die Papiere retournierend, der Leutnant des MWD.

"Da haben wir’s – die Zustände friedlicher Zeiten", brummt der Hauptmann halblaut, als wir den Raum des Kontrollpunktes verlassen. "Allen sitzt vor irgend etwas die Angst in den Knochen."

Auf die Abfahrt des Moskauer Zuges wartend, sitze ich mit Andrej im Wartesaal des Bahnhofs. Um uns herum gibt's viele Offiziere in polnischen Uniformen mit viereckigen Schirmmützen auf den Köpfen. Sie sprechen miteinander durchweg russisch und bedienen sich des Polnischen lediglich zum Fluchen. Das sind Offiziere der sowjetischen Truppen Marschall Rokossowskijs, die, in polnische Uniformen gesteckt, in Polen stationiert sind. Es entspinnt sich ein Gespräch über örtliche Themen.

"Na, wie sieht's denn, bei euch in Deutschland aus?" fragt ein Offizier mit unverkennbar sibirischem Dialekteinschlag und dem polnischen Hoheitsadler an der Mütze, indem er sich an einen Leutnant aus Dresden wendet. "Machen euch die Deutschen viel zu schaffen?" "1 – wo, keine Spur!" antwortet sorglos der Leutnant. "Das ist ein diszipliniertes Volk. Ihnen wurde gesagt – ihr dürft nicht —, und dabei bleibt’s. Kein Mensch lehnt sich dagegen auf! Zu Beginn rechneten wir schwer mit Unruhen und Attentaten. Weit gefehlte "Wie ist das bloß möglich!" wundert sich der Bursche aus Sibirien und schüttelt seinen Kopf. "Dafür sorgt aber das feudale Gesocks bei uns mehr als uns lieb ist für Abwechslung. Keine Nacht vergeht, ohne daß einer erstochen oder über den Haufen geknallt wird. Selbst diese Glucke hier kann uns nicht helfen..." Er weist auf den Adler an seiner polnischen Militärscfairmmütze.

"Ihr habt es eben mit denen nicht heraus!" sagt der Leutnant mit einem Anschein von Überlegenheit.

"Das ist nicht so einfach", drängt sich ein anderer sowjetischer Offizier in polnischer Uniform ins Gespräch. "Rökossowskij hat in den Kriegsjahren sechzehn Erkenntlichkeiten von Stalin eingeheimst, und für das laufende Jahr in Polen – zwanzig Verweise! Alles wegen der Polacken! Sie schießen aus dem Hinterhalt auf dich, und du darfst sie nicht einmal mit dem Finger anrühren – ansonsten Kriegsgericht. Das ist Politik, mein Junge!" Der Offizier seufzt schwer.

"Da war doch neulich in Gdingen was los", sagte der Sibirier mit dem polnischen Militärwolkenschieber. "Eine Flottille unserer Kanonenboote lag drüben im Hafen. Nun, die Matrosen, die ruhigsten Burschen unserer Wehrmacht, wie Ihr wißt, machten sich auf zu einem Spaziergang. Und hier, just auf der Landungsbrücke, rückten ihnen die Polen auf den Leib und suchten Händel. In fünf Minuten war der Haufen komplett. Messer sausten durch die Luft – Pistolengeknatter – alles, was das Herz begehrt. Direkt vor den Augen der übrigen Mannschaft wurden mehrere Matrosen getötet.

"Nun, und weiter?" interessiert sich der Leutnant aus Dresden. "Unsere Seebären, du kennst ja die Brüder", zwinkert der Sibirier, "die machten nun, so herausgefordert, nicht mehr viel Federlesens mit der Sache. Im Nu waren sämtliche Boote gedreht, Schnellfeuerkanonen direkt gerichtet, und der Feuerzauber aus allen Rohren schmetterte gegen die Uferstraße. Die haben den Polen einen Wischer erteilt! Auf den Dächern wurden hernach eine ganze Woche lang die feudalen Kaldaunen gesammelt."

"Dafür kam der gesamte Kommandostand der Flottille vors Kriegsgericht", bemerkte lakonisch der zweite Pseudo-Pole. "Und Rokossowskij bekam wieder eine Zigarre."

Da die durchreisenden Offiziere in der Absicht, einen Abstecher in die Stadt zu machen, sich erheben, versandet allmählich das Gespräch. "Passen Sie auf, nach Einbruch der Dunkelheit ist es nicht empfehlenswert, sich in der Stadt aufzuhalten", rufen ihnen die Offiziere in polnischer Uniform nach.

Kurz nach Abfahrt des Zuges fand in sämtlichen Wagen eine wiederholte Prüfung der Dokumente statt. Wir waren kaum einige Stunden gefahren, als sich diese Prozedur noch einmal wiederholte.

Hinter dem Fenster des Abteils läuft die dürftige weißrussische Landschaft zögernd mit. Die Bahnhöfe starren noch von Trümmern, wie in den Jahren des Krieges. Schwarz und trostlos heben sich an Stelle von niedergebrannten Anwesen vereinzelte Ofenrohre ab. über verlorenen Brunnen ragen tot in den Himmel die Kräne. Nur hie und da werden menschliche Gestalten sichtbar. Die Leute sind genau so zerlumpt und elend wie vor einem Jahr. Wie auch vor zehn Jahren.

Wortlos sitzt, in die Ecke zurückgelehnt, Andrej. Er achtet nicht darauf, was um ihn herum vorgeht, und ist in seine Gedanken vertieft. Von Zeit zu Zeit wird die Tür des Abteils heftig aufgerissen. Ein neuer Passagier blickt flüchtig hinein. Beim Anblick der MWD- Offiziersuniform tut er so, als sei er an die verkehrte Tür geraten, und sucht sich einen Platz in einem anderen Kupee. Selbst in der 2. Klasse, wo jeder Fahrgast das Parteibuch in der Tasdie trägt, ziehen es die Leute vor, dem MWD gegenüber Distanz zu wahren. Gegen Abend lebt Andrej, der bislang kein Wort verloren hatte, ein wenig auf. Unter dem Eindruck der Landschaft hinter den Fenstern des Abteils entspinnt sich ein Gespräch über die Vergangenheit. Nach und nach gehen Andrejs Erinnerungen auf Galina über. Er läßt sich immer mehr hinreißen. Staunend beobachte ich ihn. Offenbar hatten seine Gedanken die ganze Zeit um Galina gekreist, aber erst jetzt war er so weit, das Gespräch eindeutig auf Galina abzustellen. Zeit und Entfernung hatten eine gewisse Abschwächung der Gefühle mit sich gebracht. Nun aber brennt sein Herz wieder in dem gleichen Feuer wie früher.

Die Geschichte der Beziehungen zwischen Andrej und Galina entbehrte nicht einer gewissen Originalität. Galina war ein selten schönes Mädchen. In ihrer Schönheit lag etwas Erhabenes und Reines. Und was die Hauptsache war – ihr Inneres entsprach vollständig ihrem Äußeren. Andrej vergötterte das Mädchen und diente ihr wie einer Priesterin. Eine lange Zeit begegnete Galina kalt dem Werben Andrejs und bemerkte die unterwürfigen Zeichen seiner Aufmerksamkeit nicht. Dann bildete sich zwischen ihnen eine starke Freundschaft heraus. Vielleicht wurde das Mädchen von der grenzenlosen Opferfreudigkeit und Ergebenheit Andrejs besiegt, vielleicht fühlte sie, daß die Liebe Andrejs der Verehrung der anderen jungen Leute nicht ähnelt.

Den Bekannten erschien diese Freundschaft seltsam. Der Gegensatz zwischen der eckigen Gestalt Andrejs und der ausgesprochenen Beseeltheit, die Galinas Äußeres ausstrahlte, stach zu sehr in die Augen. Niemand konnte begreifen, was die beiden miteinander verband. Wiederholt wurde Galina von ihren Freundinnen zum Weinen gebracht, weil sie es sich gefallen lassen mußte, von diesen bei jeder Gelegenheit auf Andrejs Mängel aufmerksam gemacht zu werden. Die Kameraden Andrejs gratulierten ihm unverblümt zu seinem, wie sie meinten, "unverdienten Glück". Einige Male führte das dazu, daß sich die beiden für eine kurze Zeit voneinander lösten. In solch einem Fall fand Andrej keine Ruhe mehr. Er pflegte da, gleich einem Schatten, Galinas Spuren zu verfolgen, und weder zur eindeutigen Annäherung noch zur endgültigen Trennung brachte der Ärmste die Kraft auf. Wie dem auch sei – bis zu Beginn des Krieges waren oder galten die beiden als ein unzertrennliches Paar. Der Krieg verschlug Andrej ins Dickicht der Partisanenwälder und lenkte die ungebändigte Welt seiner Gefühle in andere Bahnen. Die Stadt, in der Galina zurückgeblieben war, wurde bald darauf von deutschen Truppen besetzt und damit jegliche Verbindung zwischen den beiden abgebrochen.

Ins Fenster des Abteils blickt eine drückend heiße Septembernacht. Andrej knöpft seinen Rock auf und bietet die entblößte Brust dem künstlichen Wind dar, der ihm durch das Fenster entgegenschlägt. Er ist wie umgewandelt und erzählt lebhaft über seine Taten und Streiche im Kriege.

"Ununterbrochen erstreben wir in unserem Leben ein ungewisses Etwas", sagt er plötzlich gedämpft. "Wir streben nach Macht, Ruhm, Auszeichnungen. Aber das alles ist äußerlich. Ist man nun hart an die bestimmte Grenzlinie herangerückt, so wird es einem klar, daß man die ganze Zeit hindurch immer nur hergegeben hat. Und dann springt einen die Frage an – was für eine Gegenleistung hast du nun für all deine gottverdammte Müh und Not erhalten?"

"Ich habe ein seltsames Gefühl", fährt er fort. "Lasse ich alle äußeren Triebfedern links liegen und denke ich nur an mich, so will es mir scheinen: alles, was ich in meinem Bestreben, mich empor- zuarbeiteni, tat, tat ich um der Galina willen – diese Uniform und diese Orden lege ich jetzt Galina vor die Füße."

Andrejs Blick tastet die sorgfältig gepflegte Uniform ab, er schüttelt ein Stäubchen von den blauen Reithosen und sagt schwärmerisch: "Jetzt ist Galina Dipl.-Ingenieur, wohnt in Moskau, hat eine Arbeit, die ihrer würdig ist und ein gemütliches Heim. Ist das nicht die Höchststufe dessen, was eine Frau heute erreichen kann? Und siehe da, zur Vollendung des Ganzen, da erscheint vor ihr ein gewisser Major der Staatlichen Sicherheit – Bürge und Beschützer ihrer Wohlfahrt! Ist denn das als Abschluß nicht logisch? – Und hier, alter Knabe, hier hoffe ich, daß mich das Leben für alles entschädigt. Mit Zinsen und Zinseszinsen!" Andrej versetzt mir aufs Knie mit der Handfläche ein paar kräftige Hiebe, erhebt sich und starrt zum Fenster hinaus, starrt vorwärts, als hoffe er, in dem sich vor ihm ausbreitenden Dunkel den Lohn wahrzunehmen, den das Schicksal für ihn bereithält.

Schon früher hatte ich des öfteren bemerkt, daß Andrej in bezug auf Galina seltsame Betrachtungen anstellt. Nachdem er sich mit der ganzen Leidenschaftlichkeit seines Wesens einem ehrgeizigen Streben hingegeben und an der Frucht dieses Strebens nicht die geringste Freude gefunden hatte, im Gegenteil, nachdem ihm der Zustand, der ihm ein Handeln gegen seine Überzeugung abforderte, fast unerträglich geworden war, suchte er unbewußt irgendeinen Ausgleich. Er begann sich einzureden, die "alte Liebe" und das, was man Familienglück nennt, seien in der Lage, die Leere in seinem Inneren auszufüllen und ihn mit der quälenden Wirklichkeit zu versöhnen. Das Wiedersehen mit Galina war für ihn nach und nach zu einer Zwangsvorstellung geworden. Er flüchtete sich, gleich einem Wahnsinnigen, in Traumbilder, indem er sich einredete, das Wiedersehen mit der geliebten Frau werde ein Wunder auslösen, das ihm die Rettung bringt.

"Weißt du was?!" Andrej reißt sich vom Fenster los. "Ich muß eine Pulle Schnaps auftreiben."

"Du trinkst ja nicht", sage ich.

"Das ist für dich, antwortet er abrupt. "Ich will, daß es um mich herum lustig zugeht. Teufel auch, ich fahre ja nicht zu einem Begräbnis. Ich fahre zur Hochzeit!"

Ich suche abzulehnen. "Du willst mich wohl beleidigen? Was?!" erklärt kategorisch Andrej. Mir bleibt nicht anderes als zu hoffen, daß es ihm kaum gelingt, in dieser Nachtstunde Schnaps aufzutreiben.

Gleich auf dem ersten Bahnhof verschwindet Andrej. Nach einigen Minuten kehrt er mit abstehender Hosentasche zurück. "Erstanden nach allen Regeln des Gesetzes", grinst er. "Der Bahnhofskommandant hat’s bei irgend jemand konfisziert, und ich konfiszierte bei ihm. Da sieht man, was so’ne rote Mütze wert ist!"

"Ich wünschte, links und rechts krachten die Wände!" Andrej schenkt das Glas voll, daß die farblose Flüssigkeit über den Rand plätschert. "Mein Inneres brennt – und irgend etwas fehlt mir. Trink an meiner Statt!"

In stählerner Gleichmäßigkeit schlagen die Räder der eignen Bewegung den Takt, und in dem hämmernden Gedröhne des von menschlichen Kunstgriffen in harte Gesetze gepreßten Metalls ver- rasselt Kilometer um Kilometer.

Unter der Decke des Abteils brennt matt die elektrische Funzel. Irgendwo weit hinter uns verliert sich ins Unwirkliche Berlin. Irgendwo vor uns, in gebietender Wirklichkeit zwar, zeichnet sich mit gespenstischer Kühle und Nüchternheit Moskau ab und rückt näher und näher.

"Diese Leere in der Brust, die empfinde ich mitunter als physischen Schmerz." Mit weit auseinandergespreizten Beinen und gegen die Kniescheiben gestemmten Handflächen sitzt Andrej auf dem Polster. "Manchmal sinne ich über Gott nach – und beneide die Menschen, d'ie sich zu ihm bekennen. Es ist besser, an einen vielleicht nicht- existierenden, aber unfehlbaren Gott zu glauben als an die falsch- namigen Oberschurken der Erde."

"Wann bist du das letzte Mal in der Kirche gewesen?" frage ich.

"Vor zwanzig Jahren etwa", erwiderte Andrej nachdenklich. "An der Hand führte mich der Vater zur Kirche. Als Junge konnte ich alle Gebete auswendig."

"Ja, die menschliche Seele ist kein Lackmuspapier", seufzte er. "Auf Anhieb begreift man nicht wie sie ist – ob sie ins Rote schlägt oder ins Blaue. Bei der verfluchten Tätigkeit, die ich ausübe, bleibt es einem nicht erspart, sich Gedanken über die Seele des Menschen zu machen. Bei mir ist jetzt eine Psychose akut – ich suche Menschen, die an irgend etwas glauben."

Im Takt der Bewegung des Zuges plätschert der Schnaps gegen den Rand des Glases. Andrej schiebt das Glas zur Seite und fährt dann fort: "Solche Menschen trifft man selten. Ich hatte einmal den Fall eines SS-Mannes zu bearbeiten. Der hatte viel auf dem Kerbholz. Stand schon auf der Liste derer, die erschossen werden sollten. Ich kam zu ihm in die Zelle, und er springt auf und reißt die Hand hoch: «Heil Hitler!» – Er sitzt in der Zelle der Todesanwärter, aber seinen Glauben verleugnet er nicht."

Im Zug herrscht Ruhe. In den anderen Abteilen schlafen die Leute schon. Auf den Haltestellen dringt in diese Stille von der Bahnsteigkante her Lärm. Haufen von Menschen, mit Koffern und Säcken beladen, stürmen die benachbarten Wagen.

"Jenen SS-Mann habe ich damals sogar beneidet", spinnt Andrej weiter. "Um den Glauben, den er hatte."

"Das hat ihm wenig geholfen", sage ich, "es sei denn in jener Welt." "Weiß ich nicht", murmelt Andrej, und ein finsteres Lächeln huscht über sein Gesicht. "Ich ließ an seiner Statt einen anderen das Zeitliche segnen."

"Wen?"

"Auch einen SS-Mann, aber von einer anderen Façon", antwortet Andrej mit Widerstreben. "Zuerst war er Kommunist, dann arbeitete er bei der Gestapo, doch nach der Kapitulation ließ er sich die alte Glorie wieder einfallen und suchte bei uns um Arbeit nach. Nun, ich fand für ihn umgehend Verwendung."

"Ist denn das bei euch so einfach?"

"In jener Zeit wuchs uns die Arbeit über den Kopf. Die Sache verlangte weder Fingerabdrücke noch Lichtbilder. Tag und Nacht wurde ja damals filtriert. Mit der Nummer der Zelle hatte man alles."

Um uns herrscht Stille. Unser Heimatland eilt uns entgegen.

Am nächsten Tag traf der Zug in Moskau ein. Wir betraten den vom Sonnenlicht übergossenen Bahnhofsvorplatz und hielten, uns umschauend, inne. Rings dröhnten die Straßenbahnen, geräuschlos rollten die Autos, geschäftig hasteten die Menschen. Das fieberhafte Leben und Treiben der Hauptstadt vollzog sich im gewohnten Rahmen. Alles war so alltäglich und einfach. Es war, als hätten wir diese Stätte niemals verlassen.

Dank seiner MWD-Uniform und dem goldenen Stern des "Helden der Sowjet-Union" trieb Andrej mühelos auf der anderen Seite des Flusses Moskwa im Hotel "Staro-Moskowskaja", gegenüber dem Kreml, ein Zimmer für zwei Personen auf. Von den Fenstern unseres Zimmers aus, die auf den Fluß Moskwa hinausblickten, sieht man die neue Steinbrücke, die Reihen der bereits gelb schimmernden Bäume am Kreml-Kai sowie die spitzen Türme und goldenen Kuppeln hinter der Kreml-Mauer. Vom Ufer aus erhebt sich steil hinter der Mauer eine mit Tannen bepflanzte Böschung. Auf der Böschung hebt sich ein langgestrecktes weißes Gebäude ab und schaut mit zahlreichen Fensterreihen leblos drein. Dieses Gebäude ist die Gehirnschale unseres Landes. Es umschließt das Gehirn der UdSSR, das Laboratorium zur Errichtung einer neuen Welt.

In einem ziellosen Umherschweifen verbrachten wir in Moskau den ersten Tag. Beide brannten wir darauf, uns das Leben in Moskau mit eigenen Augen anzusehen. Das Bedürfnis, den Vorgenuß des Wiedersehens mit den Menschen zu verlängern, für die wir aus der Entfernung heraus geschwärmt hatten, wurde in uns immer lebendiger. Seit dem Tag, an dem ich Moskau verlassen hatte, war nur ein Jahr vergangen, aber dieses Jahr war so sehr von Ereignissen gesättigt, daß mir war, als lerne ich die eigene Hauptstadt zum ersten Male kennen. Irgendwo in der Tiefe des Gemüts verflochten sich die Gefühle unbegreiflichen Höffens und Erwartens mit denen des Mißtrauens und heimlicher Vorsicht. Als sei ich allem zum Trotz bestrebt, in Moskau etwas zu finden, was mich umstimmen könnte in dem, was bereits fest beschlossen ist.

In Berlin hatten wir sowjetischen Offiziere, namentlich in der ersten Zeit, uns daran gewöhnen müssen, daß man uns beobachtet. Jetzt aber, auf den Straßen Moskaus, werden wir zu unserer Überraschung das seltsame Empfinden nicht los: die uns umgebenden Menschen verfolgen uns mit den Blicken. Etwas an uns ist den Leuten ungewohnt: vielleicht sticht unsere geschniegelte und gebügelte ausländische Ausstattung in die Augen, die sich von der Einkleidung der Mehrheit der Offiziere bedeutend unterscheidet, vielleicht liegt die Ursache der Aufmerksamkeit, die wir auf uns ziehen, in der freien und sicheren Art, uns zu benehmen, die aus dem Milieu und der Arbeit unter den Bedingungen des Sieges und des Okkupationsregimes in Deutschland ihre Nahrung zieht. Ein seltsames Gefühl – in seinem eigenen Vaterland kommt man. sich als Ausländer vor.

Der Abend des sommerlichen Tages traf Andrej und mich auf dem Majakowskij-Platz an. Auf der Gorkistraße hinter uns rauschte ein Strom von Automobilen. Vor uns, aus dem Abenddämmem heraus, ragte gen Himmel der schwarze Würfelbau des Marx-Engels-Lenin- Instituts. In dieser steinernen Schachtel wird in Spiritus das Gehirn Lenins, des Ideologen und Begründers des Sowjet-Staates, als höchstes Heiligtum aufbewahrt.

Links vom Platz erhebt sich das Redaktionsgebäude der Zeitung "Prawda". Auf dem Dach der "Prawda" funkelt eine Lichtreklame, die die neuesten Nachrichten bekanntgibt. Kein Mensch auf dem Platz schenkt diesen Nachrichten auch nur die geringste Beachtung. Wir warfen den Kopf in den Nacken und schickten uns an, die springenden Lichtbuchstaben zu ordnen: "Die Brotbauern melden... die vorfristige Übererfüllung... des Planes der Ablieferung des Ernteertrages." Andrej und ich sehen einander an. Vor dem Kriege tanzten ähnliche Nachrichten auf dem Dach der "Prawda" Abend für Abend, Jahr für Jahr. Und heute wieder das gleiche! Hat es denn keinen Krieg gegeben und nichts, was mit ihm zusammenhängt? "Was steht denn dort, Söhnchen, geschrieben?" ertönt hinter uns eine altersschwache, zittrige Stimme.

Andrej reißt seine Augen von den leuchtenden Buchstaben. Neben ihm steht ein gebrechlicher alter Mann. Er trägt eine handgewebte Bauernjoppe von undefinierbarer Farbe. Ein zottiger rötlicher Bart umrahmt ein zerfurchtes, aber von Natur gesundes Greisengesicht, aus dem uns ein Paar ungewöhnlich lebendiger Augen anblitzt. Unter der verschlissenen Schirmmütze hängen Strähnen langen Haars herab. Der Greis steht, die Hände hinter dem Rücken, leicht vornübergebeugt. Inmitten der uns umgebenden Unruhe im Zentrum Moskaus nimmt er sich aus wie ein Ankömmling aus einer anderen Epoche.

"Schwach sind mir, Söhnchen, die Augen geworden, und auch in der Kunst des Lesens und Schreibens hab' ich's nicht weit gebracht", murmelt, als ob er sich entschuldigen wollte, der Alte. "Tu mir den Gefallen – lies mir Unwissendem vor, was dort gemeldet wird." Er redet mit Andrej so, wie es einfache Menschen zu tun pflegen, wenn sie sich an die sozusagen Höherstehenden wenden – mit Ehrerbietung und bestechender Offenherzigkeit.

"Warum hast du denn, Vater, die Kunst des Lesens und Schreibens nicht erlernt?" sagt, von dem Anblick und der Bitte des Greises gerührt, mit warmem Lächeln Andrej.

"Wozu brauchen wir einfachen Leute diese Kunst? meditiert jener, indem er verlegen von einem Fuß auf den anderen tritt. "Dazu sind die gelehrten Menschen da, um alles zu verstehen."

"Wo bist du denn her, Vater?" sucht Andrej sich ihm in Wort und Tonfall anzupassen.

"Wir sitzen in der Umgebung von Moskau", antwortete der Alte gedehnt. "60 Kilometer von hier weg, da liegt unser Dorf."

"Willst wohl deinen Sohn aufsuchen?" fragt Andrej.

"Nein, Söhnchen", schüttelt der Alte den Kopf. "Ich bin hier auf der Suche nach Brot."

"Gibt's bei euch im Dorf kein Brot?"

"Nein, Söhnchen. Wir haben alles Brot abgeliefert. Jetzt bleibt uns nichts anderes übrig als auf dem Moskauer Markt unsere Kartoffeln anzubringen, und für den Erlös kaufen wir uns Brot."

"Wie teuer ist denn jetzt das Brot auf den Märkten?" interessiert sich Andrej.

"Siebzig Rubel das Kilo, Söhnchen."

"Und für wieviel gabt ihr’s dem Staat her?"

Der Alte tritt verlegen von einem Fuß auf den anderen, seufzt und sagt widerstrebend: "Für sieben Kopeken..."

Ein peinliches Schweigen tritt ein. Wir tun so, als wüßten wir nichts mehr von der eigentlichen Bitte des Alten, ihm die leuchtenden Buchstaben vorzulesen, und gehen weiter. Nach einigen Schritten bleiben wir in der Mitte des Platzes vor einem Granit- Obelisken stehen, an dessen Seiten bronzene Schilder angebracht sind. Dutzende von Malen war ich früher über diesen Platz gegangen, aber erst heute fesselt dieser Granit-Obelisk meine Aufmerksamkeit. Andrej und ich treten näher, indem wir in der Dämmerung die auf den Schildern eingravierten Inschriften zu entziffern suchen.

"Sag mir wenigstens, Söhnchen, worüber hier die Rede ist", ertönt wieder die uns inzwischen vertraute, altersschwache Stimme. Hinter unserem Rücken steht wie ein Schatten der Alte und tritt demütig von einem Fuß auf den anderen.

Uber Andrejs Gesicht gleitet ein Lächeln, derweil er, in der Absicht, die Bitte des Alten dieses Mal zu erfüllen, seinen Blick wieder auf den Obelisken richtet. Langsam liest er die ersten Worte vor, dann verstummt er und überspringt stockend einige Reihen der bronzenen Buchstaben. Seine Mundwinkel sinken nach und nach herab, und zwischen die Augenbrauen legt sich eine tiefe Falte.

"Söhnchen, was fehlt dir denn?" murmelt entgegenkommend der Alte. "Am. Ende steht, dort alles gar nicht, auf russisch...?"

Andrej schweigt und vermeidet den Anblick des Greises. Ich folge seinem Blick und entziffere die in der Abenddämmerung grünlich schimmernden Buchstaben. Es handelt sich um Auszüge aus der Verfassung der UdSSR, um die gesetzlich verankerten Rechte und Freiheiten der Sowjetbürger. Hie – Moskau, hinabgedrückt in Hunger und Elend, da – ein beklagenswerter Landmann, der auf Suche nach Brot in Moskau aufkreuzt und trostlos, von leuchtenden Lügen und umschnörkelten Granit verwirrt, weiter im Finstern umhertappt. Und dennoch stehen in Bronze die Verheißungen des Paradieses auf Erden vor uns! Ich begreife, warum Andrej verstummte, warum sein Gesicht im Schatten dieser Bronze versank.

Wir entfernen uns vom Denkmal, und Andrej stößt durch die Zähne. "Dieser Alte... nennt mich «Sohn», und ich muß ihm Spott und Hohn herunterstammeln." Schweigend gehen wir eine Zeitlang weiter. Kaum gebe ich mich dem Gedanken hin, die Begegnung am Obelisken sei in der Erinnerung Andrejs bereits verblaßt, da murmelt er wieder halblaut: "Während des Krieges gaben mir Greise wie dieser ihren letzten Happen Brot her. Und jetzt..."

Am nächsten Tag, es war ein Samstag, entschlossen wir uns endlich, Galinas Wohnung zu ermitteln und sie aufzusuchen. Auf Grund brieflicher Äußerungen unserer gemeinsamen Bekannten war ich so weit im Bilde, daß sie sich als Dipl.-Ingenieur in einem der Moskauer Betriebe betätigt. Als Andrej die Betriebsdirektion anrief, teilte ihm diese mit, Galina zähle nicht mehr zu den Angestellten des Betriebes, und lehnte jede weitere Auskunft ab. Wir stellten darauf im Adreßbuch Erkundigungen an und erhielten zu unserem Erstaunen eine Anschrift, aus der ersichtlich wurde, daß Galina in einer Vorortgegend, etwa eine Stunde Fahrt mit der elektrischen Eisenbahn von Moskau entfernt, ihren Wohnsitz hat.

Die Sonne neigte sich berdits den Wipfeln des Fichtenwaldes zu, als ich mit Andrej in einer ärmlichen Siedlung, unweit der Eisenbahn, an die Tür eines aus Baumstämmen zusammengezimmerten Häuschens klopfte. Die Siedlung war auf sandigem Boden angelegt und versank fast im Flugsand. Nackte Stämme verkümmerter Fichten reckten sich aus dem Treibsand zum Himmel. Die nachlässig gekleidete Frau in vorgerücktem Alter, die uns die Tür öffnete, musterte uns mit einem feindseligen Blick, nahm unser Anliegen wortlos zur Kenntnis und wies dann, ebenfalls wortlos, mit der Hand auf eine schwanke Treppe, die zum zweiten Stockwerk führte. Andrej ließ mich vortreten, damit ich sein Gesicht nicht sehe. Am Schall seiner Schritte und an der Art, wie er, nach Luft schnappend, sich an dem Geländer stützte, erkannte ich, was ihm diese Begegnung mit Galina bedeutet. Indem wir uns, Mißtrauen im Herzen, immer wieder umschauten, stiegen wir langsam die knarrenden Stufen hoch.

Oben auf dem Treppenflur ist Wäsche zum Trocknen aufgehängt. Auf dem Fensterbrett türmen sich neben schmutzigen Lappen verrußte Kasserollen. Eine abgehaarte magere Katze springt, von unseren Schritten emporgescheucht, zum Fenster hinaus. Das Schloß, in dem heute unsere Prinzessin haust, ist alles andere als ansprechend.

Vor uns eine Brettertür in verrosteten Angeln. In den Ritzen zwischen den Brettern steckt Watte. Zaudernd fingre ich an der wackligen Klinke herum und klopfe an.

Wir vernehmen schleppende Schritte. Es folgt ein Stoß von innen gegen die Tür. Das baufällige Gebilde wankt in seinen Angeln, kratzt über den bretternen Fußboden hin und geht langsam auf. Eine Frau, einfach gekleidet und barfuß in abgetretenen Schuhen stehend, erscheint im Türrahmen.

Mit fragendem Gesichtsausdruck, so als wundere sie sich darüber, daß jemand es fertigbringt, ihr einen Besuch abzustatten, blickt die Frau ins dämmrige Licht des Treppenflurs. Ihr Blick stellt alsdann zwei militärisch uniformierte Gestalten fest, und die Verwunderung, die aus ihren Augen spricht, schlägt in Angst um. Die gleiche wortlose Angst lähmt ihre halbgeöffneten Lippen.

"Galina!" ruft leise Andrej.

Tiefes Rot übersteigt das Antlitz der jungen Frau. Sie taumelt einen Schritt rückwärts. "Andrej!" – entfährt ihr der erdrückte Schrei. In diesem Aufbranden des Gefühls schwingt unerwartete Freude, mädchenhafte Verschämtheit und ein kaum zu fassender Kummer. Mit stockendem Atem steht sie da.

Andrej gönnt sich keinen Blick in Galinas Behausung. Er bemüht sich, die bettelarme Ausstattung ihres halbleeren Zimmers nicht zu beachten, sowie keine Notiz zu nehmen von ihren zerrissenen Schuhen und dem alten Kleid, in dem sie steckt. Er sieht nur das ihm so schmerzhaft vertraute Antlitz der geliebten Frau, aus dem ihm zwei heißgeliebte große Augen entgegenleuchten. Die ganze Welt hört für ihn auf existent zu sein, versinkt in der strahlenden Tiefe dieser Augen.

Wie häufig hatte Andrej in diesen langen Jahren von den Augen Galinas geschwärmt. In Nebel und Schnee, in Blut und Brand, schritt er, Leichen unter den Füßen, dieser ersehnten Begegnung zu. Und heute ist seine Sehnsucht erfüllt – die Augen der geliebten Frau liebkosen Andrej vom Scheitel bis zur Sohle.. . Die junge Frau tastet mit ihren Blicken die goldenen Schulterstücke mit den blauen Kanten und dem Majorsstern auf den Schultern Andrejs ab sowie den karmesinroten Mützenrand über dem glanzledernen Schirm der Mütze. Und noch einmal kehren ihre Augen, von Mißtrauen gegen sich selbst erfaßt, zu dem MWD-Armabzeichen zurück und richten sich dann auf das Gesicht des Offiziers, der vor ihr steht.

"Galina!" wiederholt gleichsam im Traum Andrej und streckt ihr beide Arme entgegen.

"Gregory, schließ bitte die Tür", bringt Galina hervor, als bemerkte sie Andrej nicht und als hörte sie nicht seine Worte. Ihre Stimme klingt fremd, ihre Augen sind erloschen, das Gesicht in Kälte erstarrt. Sie weicht Andrejs Blick aus und geht, ohne ein Wort zu sprechen, zum offenen Fenster am anderen Ende des Zimmers. "Galina, was fehlt dir?!" fragt Andrej nervös. "Wie kommt es, daß du hier wohnst...? In solchen Verhältnissen ...?"

Mit stacheligen Pfoten winken lautlos hinter dem Fenster die kahlen Fichten. Die schrägen Strahlen der untergehenden Sonne werfen lange Schatten über den bretternen Fußboden des Zimmers. Mit den weichen Locken der jungen Frau, die am Fenster steht, spielt ein Windzug, "Erzählt lieber irgend etwas über euch selbst..." Galina vermeidet es, uns bei unserem Namen zu nennen. Es ist offensichtlich, daß sie dieses Wiedersehen und unsere Anwesenheit als quälend empfindet. "Galina! Was fehlt dir?!" Die Stimme Andrejs verrät, daß er der Unruhe, die sich in ihm erhoben hat, nicht mehr lange gewachsen sein kann.

Eine Zeitlang herrscht im Zimmer Schweigen. Dann wendet Galina uns den Rücken zu und bringt, indem sie zum Fenster hinausschaut, kaum hörbar hervor: "Mir wurde der Dienst gekündigt... und man hat mich aus Moskau ausgewiesen."

"Warum?!"

"Ich bin – Feind des Volkes...", antwortete Galina still.

"Was ist geschehen?!"

Wieder Schweigen. Und darauf, wie ein Windhauch hinter dem Fenster: "Weil ich mein Kind liebte..."

"Bist du verheiratet?" Grenzenlose Verzweiflung erstickt die Stimme Andrejs. Es ist, als höre er sein Todesurteil.

"Nein..." Es ist, als falle dieses Wort in einen Brunnen.

"Das ist dann... Das ist doch nicht so schlimm, Galja!"

Unvermittelt schlägt Andrejs Entsetzen in ein Gefühl der Erleichterung um. Und dennoch spürt er, daß sich ihm Galina – ungeachtet dessen, daß er ihr blitzschnell verzeiht – auch weiterhin versagt. Wie an einen Pfahl gespießt, legt er sein ganzes Herz, das ihm so grausam hin und her gerissen wird, in wortlose Blicke. Nur von seinen schweren Atemzügen unterbrochen, verdichtet sich im Zimmer wieder die Stille.

"Schau her!" Mit einer langsamen Kopfbewegung weist die junge Frau auf ein kleines Lichtbild, das auf dem Tisch steht. Die Augen Andrejs folgen ihrem Blick. Aus einem einfachen Holzrahmen lächelt dem Major der Staatlichen Sicherheit der UdSSR ein Mann in deutscher Offiziersuniform entgegen.

"Das ist der Vater meines Kindes . . klingt die Stimme des Mädchens vom Fenster her.

"Galina... Ich versteh nicht... Erzähl mir, wie's ist..." Kraftlos läßt sich Andrej, am ganzen Leibe zitternd, auf einen Stuhl fallen. "Ich gewann ihn lieb, als unsere Stadt besetzt war", antwortet, nachdem sie uns wieder den Rücken zugewandt hat, die junge Frau und blickt zum Fenster. Wir spüren beide, daß sie im Grunde mehr sagen möchte, unendlich mehr, als es die Worte ausdrücken, deren sie sich bedient. Und in ihrem Verzicht auf das, was in ihrem Erlebnis mehr ist als persönlicher Schmerz, liegt so viel Härte und Bitterkeit, daß sich kein Vorwurf in uns gegen sie erhebt. Denn hinter diesem Verzicht, das fühlen wir, steht eine andere zusammengebrochene Welt, die mit jenem jungen Mann in deutscher Offiziersuniform nur äußerlich zusammenhängt. Jener heimliche Schmerz, dem sich kein Wort aufdrängt, hat in inneren Zusammenhängen seine Wurzel, die so keusch ist, daß sie sich jedem Zugriff verschließt. Und nicht nur auf russischem, sondern auch auf deutschem Boden spielte sich in gläubigen menschlichen Herzen jenes bittere Erlebnis einer Enttäuschung ab, die Galinas Schicksal mit dem ihrer deutschen Leidensgenossen jenseits der Grenze verschwistert und ihren wirtschaftlichen und seelischen Niedergang dadurch, daß Stalin Hitlers Werk fortsetzt, nur noch besiegelt.

"Als sich die Deutschen zurückzogen", fährt Galina mühsam fort, "hielt ich das Kind versteckt. Jemand zeigte mich an. Nun, das weitere mußt du selber wissen..."

"Wo ist denn das Kind?" fragt Andrej.

"Es wurde mir weggenommen." Krampf schnürt Galina die Kehle zu. Ihre Schultern zucken. So weint ein Mensch, der keine Tränen mehr hat.

"Wer hat es dir genommen?" Andrejs Stimme läßt sich zu einer drohenden Note hinreißen.

"Wer?" Galinas Antwort klingt wie ein Echo. "Männer in der gleichen Uniform wie auch du!"

Sie wendet uns ihr Gesicht zu. Mit dem zarten und freundlichen Mädchen, wie wir sie in den Tagen unserer Jugend kannten, hat sie jetzt nichts gemein. Vor uns steht eine Frau in der ganzen Nacktheit ihres fraulichen Schmerzes. Ich weiß nicht, ob da nicht menschliche Größe hätte herhalten müssen, um doch noch neuen Möglichkeiten den Weg frei zu lassen und eine Entwicklung zu verhindern, die, eine halbe Minute darauf, über sie und Andrej hereinbrach. In der Ausweglosigkeit der Lage, in die Galina und Andrej – nicht ganz ohne eigenes Verschulden – von einem unerbittlichen System gedrängt worden sind, mag das weniger leicht sein als anderswo. Ich war jedenfalls keiner Anregung fähig, ich war fast genau so hilflos wie Andrej.

Und jetzt bitte ich Dich, mein Haus zu verlassen..Galina fixiert die unbewegliche Gestalt Andrejs. In ihrem Blick, so schien es mir, lag halb Herausforderung, halb Erwartung.

Wie unter den Schlägen einer Geißel sitzt Andrej geduckt auf dem Stuhl und starrt, keines Gedankens mehr fähig, den Fußboden an. Seine Schultern hängen herab, die Augen sind jeden Ausdrucks beraubt, das Leben verließ seinen Körper.

Mir ist, als ginge ein Zucken durch Galinas Leib. Vielleicht ist das der letzte Rest einer Hoffnung, den sie zerdrückt. Ein noch härterer Zug, der wieder über ihr Gesicht kommt, vernichtet den Ausdruck der Erwartung in ihm. Es verrät nichts mehr als Ablehnung. Hinter dem Fenster verloht orangegelb die Sonne. Die staubigen Fichten wiegen lautlos ihre Zweige. Uber die duftigen Haare der Frau, die vor dem Fenster steht, breiten die letzten Strahlen der Sonne einen bebenden Lichthof, sie liebkosen ihr zurückgeworfenes Haupt, die zarten Linien ihres Halses sowie die feinen Schultern unter dem abgetragenen Kleid. Dieser Lichtschein überwölbt die bettelarme Einrichtung des halbleeren Zimmers und alle weiteren Spuren menschlicher Dürftigkeit. Am Fenster, von den Sonnenstrahlen umschmeichelt, steht eine Frau, die nun noch mehr in die Ferne gerückt ist, aber brennender denn je begehrt. Auf dem Stuhl inmitten des Zimmers sitzt, zusammengekauert und in jeder Fiber erschauernd, eine lebendige Leiche.

"Galja... ich werde versuchen", sagt Andrej dumpf. Er weiß selber nicht, worauf er hoffen darf, und verstummt.

"Wir haben einander nichts mehr zu sagen", erwidert Galina leise und fest. Ihre Augen sind unentwegt auf das MWD-Abzeichen am Ärmel des einst geliebten Mannes gerichtet, das im verlöschenden Schein der Sonne erglänzt.

Andrej muß sich Gewalt antun, um seinen Körper wieder in die aufrechte Lage zu bringen. Er steht auf und blickt sich hilflos um. Unverständlich murmelt er etwas, streckt die Hand vor, und man weiß nicht, ob er Galina anfleht oder sich von ihr verabschiedet. Galina blickt zur Seite, ohne von der ausgestreckten Hand Notiz zu nehmen. So geht das einige zermürbende Augenblicke weiter. Wie in der Gegenwart eines Hingeschiedenen verlasse ich vorsichtig den Raum, in dem Andrej sein Glück zu finden hoffte. Andrej folgt mir. Er steigt die Treppe hinunter, indem er sich wie ein Blinder an der Wand festhält. Sein Gesicht ist aschgrau, seinem Munde entfahren, abgerissen und zusammenhanglos, einige Worte. Dumpf hallen die knarrenden Stufen vom Schall unserer. Schritte wider.

Wir gehen zum Bahnhof zurück, über unseren Köpfen rauschen mit ihren Nadeln die Fichten. Unsere Füße versinken im Treibsand. Ein sinnloses Geflüster oben – eine hinabziehende Schwere unten. Und zwischen den nackten Stämmen ist's leer. Ebenso leer ist's in den Augen und der Seele Andrejs.

In der Elektrischen starrt Andrej mit gläsernem, der Sehkraft beraubtem Blick ins Fenster und schweigt hartnäckig. Ich suche seine Gedanken durch ein Gespräch abzulenken. Er hört meine Stimme nicht, er nimmt keine Notiz von meiner Gegenwart.

In Moskau angelangt, steigen wir aus und begeben uns zur Untergrundbahn. Zum ersten Male unterbricht hier Andrej das Schweigen und fragt mich unvermittelt: "Und Du fährst in welcher Richtung?" Mir wird klar, daß er mich loswerden will. Gleichzeitig fühle ich, daß ich ihn unter keinen Umständen allein lassen darf.

Wir kehren ins Hotel zurück. Den ganzen Rest des Abends schleiche ich wie ein Schatten hinter Andrej her. Als er für kurze Zeit das Hotelzimmer verläßt, entlade ich unsere im Schubfach des Tisches untergebrachten Pistolen. Andrej lehnt das Abendbrot ab und legt sich ungewöhnlich früh ins Bett. Ich stelle im Dämmerlicht fest, daß er sich im Bett unruhig hin und her wirft und nicht einschlafen kann. Er will wenigstens im Traum aus diesem Leben scheiden, will die ihn guälenden Gedanken betäuben – und er bringt es nicht zustande. "Andrej, das beste wird sein, wenn Du morgen nach Hause fährst", sage ich.

"Ich habe kein Zuhause", kommt mir aus der anderen Ecke des Raumes nach längerem Schweigen die Erwiderung.

"Fahr hin zu Deinen Angehörigen", wiederhole ich unentwegt.

"Ich habe keine Angehörigen", antwortet Andrej dumpf.

"Dein Vater..."

"Mein Vater hat sich von mir losgesagt", klingt es aus der Dunkelheit.

Der Vater Andrejs war ein Mann von altem Schrot und Korn. Hart wie eine Eiche und halsstarrig wie ein Stier. In den Jahren der Kollektivisierung zog es der alte Kosak vor, seine heimatliche Scholle zu verlassen und in die Stadt zu ziehen, statt in der Kollektivwirtschaft mitzuarbeiten. In der Stadt widmete er sich einem Handwerk. Repressalien und Steuerbelastungen trieben ihn genau so wenig in eine Arbeitergenossenschaft hinein wie früher ins kollektivierte Dorf. "Als freier Mensch bin ich geboren und als freier Mensch werde ich sterben!" – war seine einzige Antwort. So hatte er ein Leben lang seinen widerspenstigen Rücken über dem Pflug gebeugt, so tat er es auch späterhin über der Werkbank. Mit dem Aufgebot letzter Kraft erzog er seinen Sohn, in der Hoffnung, dieser würde ihm im Alter Trost und Freude bringen. Und als der alte Kosak erfuhr, daß sein Sohn ins Lager der Feinde übergegangen war, gab er ihm eine harte Antwort.

"Dein Vater hatte ja auch früher schon Raupen im Kopf", suche ich, ohne überflüssige Fragen zu stellen, Andrej zu trösten. "Du hattest doch mehr mit der Mutter zu tun."

"Der Vater hat mich verflucht, und meiner Mutter verbot er, meinen Namen auszusprechen", erwiderte Andrej tonlos.

Die ganze Nacht wälzte sich Andrej im Bett hin und her. Seine Bemühung, sich durch Schlaf zu betäuben, schlug fehl. Die ganze Nacht lag ich, ohne ein Auge zu schließen, in dem dunklen Raum und kämpfte gegen den Schlaf an. Die Stunden gingen dahin. Die Rubinsterne der Kreml-Türme blickten ins offene Fenster. Als der Himmel am Horizont verblaßt war und das erste dämmrige Licht des heraufziehenden Tages über das Zimmer kroch, lag Andrej noch wach da. Er hatte sein Gesicht in die Kissen gewühlt, und seine Arme hingen an beiden Seiten des Bettes kraftlos herab. In der Stille des Zimmers waren seltsame Laute vernehmbar. Mir war, als hätte ich in der frühesten Zeit meiner Kindheit etwas Ähnliches gehört.

Im Halbdunkel des Zimmers raunte es inbrünstig: "Herr, neige Deine Ohren und erhöre mich, denn ich bin elend und arm..."

Zum ersten Male in dieser Nacht schließe ich die Augen. Ich will einem Menschen, der an der Grenze des Jenseits steht, nicht im Wege sein. Und wieder ertönt in der Stille des anbrechenden Tages der von allem Irdischen gelöste Flüsterton, das Raunen eines längst vergessenen Gebetes: "Herr, erbarme Dich. Deines sündigen Knechtes..."

Jenseits des Flusses Moskwa schlägt die Kreml-Uhr mit ihrem Glockenspielwerk die Antwort.

2.

Während meines Aufenthalts in Berlin hatte ich mit Shenja nur wenige Briefe gewechselt. Shenja war allem gegenüber, was auch nur die leiseste Tönung des Unausgesprochenen und Unaufrichtigen in sich barg, viel zu empfindlich: die militärische Zensur hatte indessen nicht abgedankt und mußte wohl oder übel in Rechnung gestellt werden. Eine offene Schilderung unserer Eindrücke und der uns umgebenden Wirklichkeit wäre töricht und absolut unverzeihlich gewesen. Ein privates Leben, das Shenja hätte interessieren können, gab es bei mir in Karlshorst nicht. Und wir beide waren noch viel zu jung und liebten das Leben allzu sehr, als daß wir einander aus Höflichkeit inhaltslose Briefe hätten schreiben können.

So kam es, daß ich jene Nächte zu nutzen vorzog, in denen ich beim Stab den 24-Stunden-Wachdienst zu versehen und mich im Arbeitszimmer des Oberbefehlshabers aufzuhalten hatte, in dem ich mir selbst und der "Wertuschka" überlassen blieb, einem Selbstanschlußfernsprecher, der direkte Verbindung mit Moskau hatte. Unter solchen Umständen pflegte ich mich mit Shenjas Wohnung zu verbinden, und über die Fernsprechverkehrslinie Berlin—Moskau erschollen dann langanhaltende Gespräche, die mit Politik und dem Arbeitszimmer des Marschalls wenig zu tun hatten. Die am Kabel diensttuenden Horchmänner mochten da getrost ihre Romane weiterlesen.

Als ich meinen Urlaub nach Moskau antrat, erwartete ich ungeduldig den Augenblick meines Wiedersehens mit Shenja. Und als ich mich anschickte, ihr meinen ersten Besuch abzustatten, strich ich recht lange im Zimmer auf und ab, Überlegungen darüber anstellend, was ich wohl tunlichst anziehen sollte – meine Militäruniform oder den Zivilanzug. Ich entschied mich schließlich für das letztere.

Im Elternhaus Shenjas traf ich nur Anna Petrowna an. Sie verging vor Langeweile und nützte meine Ankunft, um mich mit Fragen über Berlin und gleichzeitig mit den letzten Moskauer Neuigkeiten zu überschütten. Bald kehrte auch Shenja aus dem Institut zurück.

Jetzt war die Familie vollzählig. Der Vater Shenjas, Nikolai Ssergejewitsch, war nach Abschluß der Operationen gegen Japan nach Hause zurückgekehrt und befand sich schon längere Zeit in Moskau. Der Anna Petrowna war wie auch früher über den Dienst und die Arbeit des Generals nichts bekannt; sie kannte nur die Telefonnummer seiner Dienststelle und lebte in der beständigen Angst, daß er heute oder morgen in unbekannter Richtung und auf unbestimmte Zeit wieder verschwinden würde.

Nach dem Mittagessen schlug Shenja vor, daß wir miteinander für den Rest des Tages aufs Land fahren. Anna Petrowna lächelte verständnisvoll und lehnte unsere Einladung, sich uns anzuschließen, ab. Ich war Shenja aufrichtig dankbar, daß es sie gerade zu dem Landhaus ihrer Eltern zog. Die kleine außerhalb der Stadt gelegene Sommervilla war die Zeugin meiner ersten Begegnung mit Shenja, unserer ersten Zusammenkünfte, um die Hoffen und Träumen und die Ungewißheit der Kriegszeit einen zarten Schleier gebreitet hatten. Shenja selbst setzte sich vor das Steuer ihres offenen "Kapitäns". Als der Kraftwagen das Weichbild der Stadt weit hinter sich gelassen hatte und sich rings um die Chaussee, zwischen Fichtenjungholz verstreut, ländliche Ortschaften dahinzogen, packte mich ein unbestimmtes Gefühl der Unruhe. Shenja bog von der Chaussee in einen Feldweg ein. Die längs des Weges von Fichten umgebenen Häuschen rückten näher heran. Meine Unruhe nahm zu. Schließlich hielt ich's nicht aus und wandte mich an Shenja:

"Hast du eine Landkarte bei dir?"

"Wozu brauchst Du eine Karte? fragte sie überrascht. "Ich kenne den Weg auch so!"

"Ich möchte mir hier einen Ort ansehen", erwiderte ich ausweichend, indem ich aus einer Tasche am überzeug des Wagens eine Karte des Moskauer Umkreises herauszog.

Während ich konzentriert meinen Finger über die Karte hin und her wandern ließ, sah mich Shenja ab und zu verdutzt an. Ich konnte sie nicht wissen lassen, was ich suchte. Ich suchte die Siedlung, in der Galina wohnt. Mich verfolgte dauernd das Gefühl der Angst, daß wir an dem baufälligen Häuschen vorbeifahren können, in dem einsam hinter offenem Fenster das stolze und unglückliche Mädchen haust. Irgendwo aus der Ferne drangen mir Worte ins Ohr, die Andrej einmal nachts in Potsdam geprägt hat – "...Menschen, auf die das Los gefallen ist." Ich fürchtete, Galina könnte aus ihrer traurigen Zurückgezogenheit heraus das sorglose Glück erblicken, von dem ich umgeben bin.

In der Villa angelangt, fragt mich Shenja ungewöhnlich genau und lange über das Leben in Deutschland aus. Alle meine Erklärungen und Schilderungen erwiesen sich als ungeeignet, sie zufriedenzustellen. Sie forschte nadi jeder Einzelheit und sah mir dann plötzlich, jeden Zusammenhang mit dem Vorhergehenden sprengend, tief in die Augen:

"Und warum bist du so mager?"

"Ich fühle mich ausgezeichnet", antwortete ich. "Bin vielleicht einfach durch die Arbeit abstrapaziert."

"Nein, nein . . schüttelte Shenja den Kopf. "Du siehst sehr schlecht aus. Du verschweigst irgend etwas." Sie sah mich aufmerksam an, als suchte sie in meinen Gedanken zu lesen.

"Mag sein, daß da irgend etwas nicht stimmt", erklärte ich mich, durch Shenjas Besorgtheit gerührt, mit ihr einverstanden. "Aber das merke ich selber nicht."

"Dafür merke ich es", flüsterte Shenja. "Zuerst dachte ich, daß es etwas ist zwischen uns... Jetzt seh ich, daß es etwas anderes ist. Vergiß alles..."

Und ich vergaß alles. Ich war grenzenlos glücklich, rings nur vertraute Wände zu sehen, nur Shenja zu hören, nur an sie zu denken. Als über dem Wald die Abenddämmerung niederzusinken begann und halbdunkle Schatten über das Zimmer irrten, raffte sich Shenja zu dem Entschluß auf, anläßlich meiner Ankunft ein feierliches Abendessen zu veranstalten. Sie kam sich uneingeschränkt als Hausfrau vor und legte an der Tafel, neckisch und voller Übermut, eine emsige Geschäftigkeit an den Tag.

"Heute bist Du mein", funkelte sie mich mit den Augen an. "Vater mag ruhig zürnen, daß wir weggefahren sind. Er soll wissen, wie Mama sich abquält, wenn er nicht zu Hause ist. Ich zeig’s ihm mit Absicht!"

Wir hatten uns kaum an den Tisch gesetzt, als hinter dem Fenster das Geräusch eines sich nähernden Autos vernehmbar wurde. Shenja hob aufmerkend die Augenbrauen. Das Auto machte vor der Haustreppe Halt, und nach einer Minute betrat Anna Petrowna lachend den Raum. Ihr folgte Nikolai Ssergejewitsch und sein Kollege Generaloberst Klykow. Die ganze Gesellschaft war in einer sehr heiteren Stimmung. Das Haus hallte wider von Lärm und Lachen.

"Das ist ja geradezu prachtvoll! Wir sind kaum angekommen – und schon ist die Tafel gedeckt", setzte lachend und sich die Hände reibend der Generaloberst ein. "Nikolai Ssergejewitsch, Du hast keine Tochter, sondern ein Kleinod!"

"Meinst Du, sie hätte das für uns zubereitet? Da hast Du Dich aber schwer getäuscht!" meldete sich Nikolai Ssergejewitsch und wandte sich scherzhaft an Shenja: "Entschuldigen Sie vielmals die Störung, Eugenija Nikolajewna! Gestatten Sie, daß wir uns Ihrer Gesellschaft anschließen? – Und Du bist mir auch der Richtige!" wandte er sich an mich. "Ziehst Zivil an, und schon sind die soldatischen Gebote verschwitzt! Weißt Du, daß man sich in erster Linie dem Vorgesetzten vorzustellen hat? Ach ihr, Jugend, Jugend..." "Und wir waren gerade dabei, nach Hause zu fahren... fing Shenja fast an.

"Warum hast Du denn diie Tafel gedeckt? Für uns?" wußte sich der Vater vor Vergnügtheit nicht zu lassen. "Wir also – rin in die Kartoffeln, und ihr – raus aus den Kartoffeln! Ein Schlauberger bist Du, Kind! Ich bin aber auch nicht gerade mit Brettern vernagelt. Zur Strafe werdet ihr den ganzen Abend mit uns zubringen!"

Anna Petrowna machte sich an die Hauswirtschaft. Im Kraftwagen aus Moskau hierhertransportiert, marschierte auf dem Tisch im Handumdrehen ausgiebiger Nachschub auf. Die Aufklebeschilder an Konservenbüchsen und Flaschen überraschen durch ihre Mannigfaltigkeit. Erzeugnisse aller osteuropäischen Länder sind hier vertreten – Bulgariens, Rumäniens, Ungarns. Das sind keine Beuteartikel, wie wir sie in den Jahren des Krieges des öfteren kennenlernten. Das ist Normalproduktion der Nachkriegszeit. Hier sind auch bekannte amerikanische Konserven anzutreffen, offenbar Reste der amerikanischen Lendlease-Lieferungen aus der Nachkriegszeit. In den Lebensmittelgeschäften Moskaus gibt es keines dieser Produkte, aber in den geschlossenen Verteilungsstellen für Generale gibt es ihrer die Fülle.

"Nun aber, Grischa, erzählst Du alles hübsch der Reihe nach", wandte sich Nikolai Ssergejewitsch an mich, als der Nachtisch auf der Tafel erschien. "Wie ist denn das Leben drüben in Deutschland?" "Es ist halt so, wie es ist", antwortete ich unbestimmt, und wartete, bis der General seine Frage präzisiert.

"Auf jeden Fall hat er dort eine bessere Wohnung als wir", gab Shenja ihren Senf dazu.

Der General tut, als hätte er die Worte seiner Tochter nicht gehört und fragt mich abermals: "Was macht jetzt Sokolowskij?"

"Er macht das, was Moskau befiehlt", antwortete ich und lächle unwillkürlich. "Sie müssen hier mehr darüber im Bilde sein, was er macht."

Ich traf offenbar den Nagel auf den KJopf, indem ich Nikolai Ssergejewitsch die Möglichkeit gab, ein Gespräch anzufangen, zu dem er den Anlaß suchte. Er überprüft seine Gedanken. Anna Petrowna füllt die Pokale mit Wein. Shenja blickt sich mit gelang- weiltem Gesichtsausdruck um.

"Deutschland ist eine harte Nuß", unterbricht der Generaloberst das Schweigen. "Eine lange Zeit wird vergehen, ehe wir sie knacken. Ohne Skandal werden die Alliierten Westdeutschland nicht verlassen, und mit Ostdeutschland allein ist nicht viel los. Mit den slavischen Ländern ist es da halt anders bestellt – eins, zwei, und alles ist spruchreif!" Er kostet den Wein, stellt den Pokal langsam auf den Tisch und sagt: "Ich denke, einen starken Block der slavischen Staaten zu schaffen, ist unsere erste Aufgabe. Haben wir den slavischen Block gebildet, so haben wir um unsere Grenzen herum einen .Kordon-Sanitare'. Unsere Positionen in Europa werden stark genug sein, um eine Wiederholung des Jahres 1941 zu vermeiden."

"Du blickst, Freundchen, immer rückwärts, es ist aber erforderlich, daß man vorwärts schaut", schüttelt mißbilligend Nikolai Ssergejewitsch den Kopf. "Was haben wir vom slavischen Block für einen Nutzen? Alte Hirngespinste vom panslavistisdien Imperium! Mit solchem Spielzeug haben vor hundert Jahren die zaristischen Politiker die Zeit vertrödelt. Heute haben wir, Bruder, die Epoche des kommunistischen Angriffs auf der ganzen Front. Hier gilt es, mit den Slaven nicht zu liebäugeln, sondern die schwache Stelle zu suchen und – zu handeln! Ost-Europa und die westslavischen Staaten interessieren uns heute in der Hauptsache als günstiger Boden für eine Durchsickerung, als Aufmarschraum für das weitere." "Vorläufig führen die Hausherren eine völlig eindeutige pan- slavistische Politik", entgegnet der Generaloberst. Nach der bei den Moskauer oberen Schichten üblichen Art bedient er sich der verschwommenen Bezeichnung "Hausherren", unter der der Kreml und das Politbüro zu verstehen sind.

"Das ist ja gerade das Wesen der Politik, daß sie ihr Endziel verheimlicht", sagt Nikolai Ssergejewitsch. "Die Möglichkeiten nicht zu nützen, wäre heute beschämend. Die eine Hälfte Europas gehört uns, und die andere drängt sich auf, damit wir sie uns holen und dort Ordnung einführen."

Draußen ist es vollkommen dunkel. Zum offenen Fenster hinein schwirren ins grelle Licht der Lampen über dem Tisch nächtliche Falter. Sie schlagen gegen das Glas auf, versengen sich die Flügel und fallen dann hilflos nieder. Unter den halbtoten Nachtfaltern bewegt eine schläfrige Herbstfliege mühsam ihre Beinchen und kriecht langsam den Tisch entlang. Die Fliege kriecht ziellos, und im Kriechen erschöpft sich ihre Kraft.

"Das ist – Europa!" sagt mit verächtlichem Lächeln der General und nimmt lässig, seine Überlegenheit gleichsam unterstreichend, die schlaftrunkene Fliege zwischen die Finger. "Man braucht es nicht einmal zu fangen – nur einfach nehmen!"

"Hand aufs Herz, Nikolai Ssergejewitsch, wozu brauchst Du diese halbverreckte Fliege? Was hast Du von ihr?" sagt der Generaloberst.

"An West-Europa als solchem haben wir natürlich kein großes Interesse", antwortet, nachdem er ein wenig nachgedacht hat, der Vater Shenjas. "Die Europäer lassen sich wohl noch weniger als alle anderen für den Kommunimus gewinnen. Dazu sind sie sowohl wirtschaftlich als auch geistig allzu verhätschelt."

"Da haben wir's! Du sagst selber, daß es sehr schwierig ist, Europa kommunistisch zu machen", greift der Generaloberst seinen Gedanken auf. "Wenn wir mit unserer Lust und Absicht den Kommunismus dort aufzubauen, Ernst machen, so müssen wir die Hälfte Europas nach Sibirien verfrachten und die andere Hälfte auf unsere Rechnung durchfüttern. Was haben wir davon?"

"Wir brauchen Europa deswegen, damit Amerika, der europäischen Märkte beraubt, wirtschaftlich erstickt, übrigens . . Nikolai Ssergejewitsch verstummt und rollt nachdenklich die unglückselige Fliege zwischen dem Daumen und Zeigefinger der rechten Hand hin und her. Dann knallt er – als hätte er eine bestimmte Lösung gefunden – sein Opfer gegen den Fußboden und wiederholt: "übrigens... Eine kleine Pause entsteht.

"Wir beide wissen nicht, was die Hausherren im Sinn führen, und wir sollen es auch nicht wissen." In den Worten Nikolai Sserge- jewitschs schlüpft etwas durch, was uns veranlaßt anzunehmen, daß er mehr weiß als er zu wissen vorgibt. "Die kommunistische Theorie lautet, daß man die Revolution da auf breitester Ebene zu entfachen hat, wo hierfür die besten Voraussetzungen gegeben sind – im schwächsten Kettenglied des kapitalistischen Systems. Und dieses ist heute nicht in Europa."

Nikolai Ssergejewitsch reicht Anna Petrowna über den Tisch hin seinen leeren Pokal und gibt ihr durch eine Gebärde zu verstehen, daß sie ihn füllen soll. Das Licht der Lampe gleitet über die Brust des Generals. Neben den Orden von der deutschen Front blitzen darauf einige ansehnliche Sterne auf, die mit der Mongolei und China Zusammenhängen. Diese Sterne tauchten jedes Mal an der Brust des Generals auf, wenn er in der Vorkriegszeit von seinen geheimnisvollen Missionen heimkehrte.

"Heute ist Asien reif geworden für eine Revolution", fährt er fort. "Dort können wir unter kleinstem Risiko und dem geringsten Aufwand an Mitteln die größten. Erfolge erzielen. Asien befindet sich im Stadium des nationalen Erwachens. Dieses Erwachen müssen wir im Sinne unserer Zielsetzungen nützen. Die Asiaten stehen auf einer niedrigen Kulturstufe und sind weniger verwöhnt als die Europäer."

Wieder setzt eine kleine Pause ein.

"Asien in unseren Händen zu halten, ist uns wichtiger als Europa", führt Nikolai Ssergejewitsch gleichsam im Selbstgespräch weiter aus. "Und dies um so mehr, als Japan jetzt kampfunfähig geworden ist. Der Schlüssel zu Asien ist heute – China. Nirgendwo in der Welt sind die Voraussetzungen für eine Revolution so günstig wie in China."

"Nun gut, ich gebe Dir China", sagt der Generaloberst scherzhaft. "Was wirst du mit China anfangen?"

"China ist ein ungeheures Reservoir lebendiger Kraft", erwidert Nikolai Ssergejewitsch. "Uber eine solche Reserve zu verfügen, ist keine Bagatelle. Und was die Hauptsache ist – dadurch zwingen wir Amerika in die Knie."

"Wieder macht Dich Amerika unruhig", lacht der Generaloberst. "Unsere Wege werden sich über kurz oder lang kreuzen", sagt der Vater Shenjas. "Wir müssen entweder auf unsere geschichtliche Sendung verzichten oder bis zum i-Tüpfelchen konsequent bleiben." "Und ich nehme trotzdem an, daß unsere Nachkriegszeitpolitik darauf gerichtet ist, nach Möglichkeit die Sicherheit unserer Grenzen zu gewährleisten. Sowohl im Westen als auch im Osten", besteht auf seiner Meinung der Generaloberst. Aus Vorsicht verleiht er seinen Worten den Charakter eines Kommentars der Kreml-Politik und nicht den seiner persönlichen Stellung zu dieser Frage.

Mit einem Lächeln der Überlegenheit schüttelt Nikolai Ssergeje- witsch den Kopf. "Vergiß nicht, mein Lieber, daß man den Sozialismus nur in einem Lande aufbauen kann, und den Kommunismus – lediglich in der ganzen Welt.

"Was geht dich die ganze Welt an, wo du doch Russe bist?"

"Wir sind vor allem Kommunisten, und erst in zweiter Linie sind wir Russen..."

"So, so... Du benötigst also die ganze Welt", trommelt der Generaloberst leicht ironisch mit den Fingern auf den Tisch.

"Das ist die Generallinie der Partei", erklingt kalt die Antwort Nikolai Ssergejewitschs.

"Unsere Politik während der Zeit des Krieges...", sucht Klykow schwach zu entgegnen.

"Die Politik kann sich je nach den Umständen ändern, aber die Generallinie bleibt Generallinie", unterbricht ihn Nikolai Ssergeje- witsch.

"So muß es sein", sagt er langsam, indem er sich an niemand wendet und als zöge er aus seinen Gedanken das Fazit. "Das ist eine geschichtliche Notwendigkeit! Alle Möglichkeiten der inneren Entwicklung haben wir bereits erschöpft. Der innere Stillstand ist dem Tod vor Altersschwäche gleichwertig. Wir sind ohnehin in vielem darauf angewiesen, uns an die Vergangenheit zu klammern. Entweder ziehen wir uns an der inneren Front endgültig zurück, oder wir schreiten an der äußeren Front weiter vorwärts. In jedem Staatssystem ist das Gesetz der dialektischen Entwicklung."

"Da gehst Du zu weit, Nikolai Ssergejewitsch. Die Interessen des Staatssystems stellst Du höher als die Deines Volkes und Deiner Heimat."

"Dafür sind wir beide nun mal Kommunisten", sagt langsam und hart der Vater Shenjas und erhebt zur Bestätigung seiner Worte und gleichsam als Aufforderung, seinem Beispiel zu folgen, den Pokal. Der Generaloberst tut, als merke er die Aufforderung nicht, und langt in seine Hosentasche nach Zigaretten. Mit dem Ausdruck der Langeweile auf den Gesichtern folgen Anna Petrowna und Shenja dem Gespräch.

"Das, was Du, Nikolai Ssergejewitsch, sagst, nimmt sich aus wie eine harmlose These, und in Wirklichkeit bedeutet sie Krieg", sagt nach langem Schweigen Klykow. "Du unterschätzt die äußeren Faktoren, z. B. Amerika."

"Was ist Amerika?" – Nikolai Ssergejewitsch erhebt gemächlich zum Zeichen der Frage seine rechte Hand, deren Finger er augenfällig gespreizt hat. "Ein Konglomerat von Menschen, die keine Nation darstellen und keine Ideale besitzen, es sei denn die Jagd nach dem Dollar. Zu einem bestimmten Zeitpunkt wird der Lebensstandard Amerikas unweigerlich sinken, die Klassengegensätze werden an Schärfe zunehmen, und günstige Voraussetzungen zur Entfaltung des Klassenkampfes werden gegeben sein. Der Krieg an der Front wird hineingetragen werden in den Rücken des Feindes." Die Abendzeit ist bereits weit vorgerückt. Zahllose Invaliden, Witwen und Waisen legen sich in Moskau möglichst früh ins Bett, um das Hungergefühl im leeren Magen zu betäuben, um im Schlaf Kummer und Sorgen zu vergessen. Irgendwo weit im Westen, von nächtlichem Dunkel umweht, liegen in toter Hoffnungslosigkeit Deutschland und Berlin, – eine sinnfällige Lehre für die, die den Krieg für ein Mittel der Politik halten.

"Dazu sind wir beide nun einmal Generale, um Krieg zu führen", klingen gleich einem Echo die Worte Nikolai Ssergejewitschs.

"Ein General soll in erster Linie ein Bürger seiner Heimat sein", zieht Klykow tief an seiner Zigarette und läßt den Rauch gegen die Decke wirbeln. "Ein General ohne Heimat – das ist . . er beendet den Satz nicht.

Zur Zeit des Krieges befehligte Generaloberst Klykow erfolgreich große Truppenverbände der Feldarmee. Kurz vor Beendigung des Krieges wurde er von der Front abberufen und mit einer verhältnismäßig untergeordneten Tätigkeit im Volkskommissariat für Landesverteidigung betraut. Für Generale der Feldarmee pflegen solche Versetzungen nicht ohne angemessene Gründe zu erfolgen. Vor meiner Abfahrt nach Berlin hatte ich Klykow mehrmals in der Gesellschaft Nikolai Ssergejewitschs und Anna Petrownas getroffen. Er legte immer, wenn über Politik geredet wurde, eine gemäßigte Haltung an den Tag und vertrat den Standpunkt der nationalen Vaterlandsverteidigung, dem für kommunistische Begriffe ein Moment des bürgerlichen innewohnt. Zu jener Zeit, am Ende des Krieges, konnte man recht offene Meinungsäußerungen über künftige Politik der UdSSR vernehmen. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die allzu offenherzigen Auslassungen des Generalobersten, die nicht ganz mit den schweigsamen Plänen des Politbüros harmonierten, den Grund abgaben für seine Versetzung in die Etappe, näher zum Auge des Kremls, das immer wacht.

In der Absicht, seine letzten Worte zu mildern, sagt Klykow nach der eingetretenen peinlichen Pause versöhnlich: "Wollen wir lieber darüber nicht streiten, Nikolai Ssergejewitsch. Im Kreml sitzen klügere Köpfe als Du und ich. Mögen die entscheiden."

Beide Generale verstummen. Anna Petrowna blättert in einer Zeitschrift. Mit Wehmut blickt Shenja bald auf die Uhr, bald auf den Mond, der sich über dem Wald erhebt. Schließlich hält sie's nicht aus und steht auf.

"Nun, ihr könnt hier weiter die Welt teilen, und wir fahren nach Hause. Sowieso müssen zwei Wagen gefahren werden", fügt sie zur Rechtfertigung hinzu.

"Was? der Mond setzt Dir schwer zu!" lacht der Vater. "Fahrt, verirrt euch bloß nicht unterwegs. Gegebenenfalls fordere ich von Dir, Grischa, Rechenschaft." Er droht mir scherzhaft mit dem Finger. In einigen Minuten steuern wir uns aus der Pforte der Villa hinaus. Im Schein des Mondes gleiten die Schatten der Bäume gespenstisch über die Erde. Wie eine schwarze Kuppel wölbt sich über uns der schimmernde Himmel. Stille. Die Glasscheiben in den Fenstern der schlummernden Siedlungshäuschen blitzen hinter den Bäumen, das Mondlidit widerspiegelnd, hin und wieder auf. über die unebene Waldstraße schaukelt der Wagen. Wortlos sitze ich am Lenkrad.

"Und was bist denn Du heute so stumm wie ein Fisch?" fragt Shenja.

"Worüber sollte ich denn sprechen?" frage ich meinerseits.

"Darüber, was auch die anderen zum Sprechen bringt."

"Dasselbe wiederholen, was auch Dein Vater wiederholt, kann ich nicht. Und Klykow darf ich nicht unterstützen."

"Warum nicht?"

"Weil ich nicht Klykow bin. Niemals wird Dein Vater mir das gestatten, was er sich von Klykow bieten läßt. Klykow äußert doch sehr gefährliche Sachen."

"Vergiß die Politik!" flüstert Shenja. Sie streckt ihre Hand zum Armaturenbrett und schaltet die Scheinwerfer aus.

Die herrliche Mondnacht liebkost uns mit ihrer Stille, ruft und lockt. Ich betrachte das vom Mondschein übergossene Gesicht Shenjas und ihre im Halblicht umflorten Augen. Langsam nehme ich meinen Fuß vom Gaspedal.

"Wenn Du wieder die Augen nicht zumachst..." flüstert Shenja. "Shenja, ich muß lenken."

Statt einer Antwort legt sich ein schlanker Fuß auf die Bremse. Die Maschine versagt dem Steuer den Gehorsam, gleitet langsam zur Seite und bleibt stehen. In den Augen Shenjas spiegelt sieh die Mondnacht.

Die nächsten Tage verbrachte ich, indem ich meinen zahlreichen Moskauer Freunden und Bekannten Besuche abstattete. Von allen Seiten wurde ich mit Fragen über das Leben in Deutschland überschüttet. Obgleich das besetzte Deutschland nicht mehr – in des Wortes voller Bedeutung – zum Ausland zählte und viele Russen Deutschland bereits mit ihren eigenen Augen gesehen hatten, ließ das krankhafte Interesse der breiten Masse des Volkes für die Welt jenseits der Grenze nicht nach. Mir, der ich die Möglichkeit gehabt hatte, beide Seiten der Medaille kennenzulernen, kamen die naiven Fragen der Leute, die sich das Leben im Ausland als eine Art Paradies vorstellten, seltsam vor. Dieses krankhafte Interesse und die übertrieben rosige Vorstellung über die Welt jenseits der Grenze stellten eine Reaktion dar auf Sowjet-Rußlands absolute Isolation. Darüber hinaus ist den Russen ein Zug eigen, der in der Mentalität der Mehrheit anderer Völker auf der Welt recht selten anzutreffen ist. Die Russen sind dauernd bestrebt, ihren Nachbarn lediglich die guten Seiten abzulauschen. Seinerzeit haben das die Deutschen als primitive Denkweise des Ostens ausgelegt.

Nachdem ich die Neugierde meiner Bekannten tunlichst befriedigt hatte, ging ich selber zu Fragen über und interessierte mich für das Leben in Moskau. Die Leute hörten sich gern an, was ich ihnen über das Leben in Deutschland zurückhaltend erzählte, aber auf meine Fragen über das Leben in Moskau antworteten sie noch zurückhaltender. Alle waren trostlos gestimmt. Die Lebensmittelpreise, die im letzten Jahr des Krieges ein wenig gesunken waren, blieben in den ersten Monaten nach, der Kapitulation Deutschlands auf dem Gefrierpunkt stehen und stiegen dann langsam, aber beharrlich in die Höhe.

Infolge der sehr dürftigen Rationierung ist die breite Masse der Bevölkerung gezwungen, sich in diesem oder jenem Ausmaß des sogenannten freien Marktes zu bedienen, wo sowohl Käufer als Verkäufer die Gefahr laufen, mit den Gesetzen unliebsam zusammenzustoßen. Die Preise auf diesem freien Markt sind für den Lebensstandard des Landes bezeichnend. Und siehe da, die bereits in der Kriegszeit ins Astronomische hochgetriebenen Lebensmittelpreise steigen ein Jahr nach der siegreichen Beendigung des Krieges unentwegt an. Das bedeutet Hunger. Und zwar einen, der keine Möglichkeit mehr bietet, ihn auf die Schwierigkeiten der Kriegszeit zurückzuführen.

Die Leute haben erwartet, daß sich die Bedingungen des Lebens bald nach Beendigung des Krieges verbessern würden. Statt dessen stimmen die Zeitungen wieder ein hysterisches Geschrei von der neuen Kriegsgefahr an.

Die Menschen wissen nicht, was sie mehr fürchten sollen – den neuen Krieg oder den unaufhörlichen Hunger. Die einen drücken die Vermutung aus, die lästige Propaganda der neuen Kriegsgefahr stelle ein Manöver dar, um die Aufmerksamkeit des Volkes von den inneren Schwierigkeiten abzulenken, um diese Schwierigkeiten als von äußeren Ursachen bedingt zu deuten. Die anderen schütteln mit den Köpfen und versichern, der Mangel an Lebensmitteln sei dadurch ausgelöst, daß die Regierung "strategische Vorräte" für den Fall eines neuen Krieges sammelt.

Allen ist, davon abgesehen, klar, daß der Ernteertrag in diesem Jahr schlecht ist. Auch ohne "äußere Ursachen" wird er die Bedürfnisse des Landes kaum befriedigen können. Wie dem auch sei – die Stimmung in Moskau erinnert wenig an die rosigen Hoffnungen der Tage des Sieges über Deutschland. Die Sieger hungern nicht nur so wie die Besiegten, sondern leiden darüber hinaus an der Angst vor einem neuen Krieg. Die Deutschen sind wenigstens von dem letzteren erlöst und können glücklich sein, daß sie aus dem Spiel ausschieden.

Als die Leute erfahren, daß wir uns in Berlin einfach mit den Amerikanern treffen, uns mit ihnen unterhalten und einander sogar die Hand drücken, schauen sie mich wie ein Gespenst an und wissen zu dem Vorgang nichts zu sagen. Obwohl die Beziehungen der Verbündeten untereinander in dem einen Jahr nach Kriegsende merklich abgekühlt waren, glich die Tatsache des gemeinsamen Aufenthalts in einer Stadt die zunehmende Gespanntheit der offiziellen Beziehungen irgendwie aus. Hier aber, in Moskau, dank der einseitigen und ununterbrochenen Hetze unter dem Einsatz aller Mittel der Presse und Propaganda, fangen die Leute im Gegensatz zu ihren persönlichen Überzeugungen an, die Amerikaner für Menschenfresser zu halten. Das Gift der Propaganda tut sein Werk.

Eines Tages suchte ich am Abend wie gewöhnlich Shenja auf. Ich stellte fest, daß man sich im Hause für eine Reise vorbereitet. Anna Petrowna erklärte mir, die ganze Familie habe die Absicht, am nächsten Morgen die Eltern Nikolai Ssergejewitschs aufzusuchen, die in einem Dorf zwischen Moskau und Jaroslawl lebte, und richtete mir die Einladung des Generals aus, midi seiner Familie anzuschließen. Durch Anna Petrowna hatte ich seinerzeit erfahren, daß die Eltern des Generals einfache Bauern seien und daß sie bis zum heutigen Tag trotz aller Uberredungsversuche des Sohnes eine Übersiedlung nach Moskau nicht wünschten, daß sie es vielmehr vorzögen, auf dem eigenen Stüde Boden zu bleiben und ihre Bauernarbeit weiter zu verrichten.

Auf die Einladung des Generals ging ich mit Vergnügen ein. Shenja zog leicht ihre Nase in Falten und sagte kein Wort. An ihrem zurückhaltenden Ton hatte ich schon früher gemerkt, daß sie von sich aus ihre bäuerlichen Verwandten nicht gern aufsucht, sondern lediglich auf Wunsch des Vaters. In neuer Umwelt in Moskau aufgewachsen, scheute sie im tiefsten Innern jede Erinnerung an ihre bäuerliche Herkunft.

Am frühen Morgen des nächsten Tages setzten sich Nikolai Ssergejewitsch, Anna Petrowna, Shenja und ich in die Limousine des Generals und verließen Moskau in Richtung Jaroslawl, über dem Erdboden erhoben sich Morgennebel. Die Straße entlang schleppten sich in dredrig-spedeigen Anzügen gemächlich zur Arbeit die Arbeiter der zahlreichen Fabriken, die in den Vororten Moskaus verstreut sind. Wortlos trabten sie daher und schauten weder nach links noch rechts. Ihre Gesichter und ihre Bekleidung trugen den grauen Stempel der Gleichgültigkeit. Weder Fahr- noch Motorräder waren zu sehen, wie das auf den Straßen Deutschlands gang und gäbe ist. Nach einiger Zeit ließen wir die Vororte der Hauptstadt mit den Schornsteinen ihrer Fabriken, den unordentlich und kunterbunt durcheinandergewürfelten Neubauten, baufälligen Holzhäuschen und Fetzen von Gemüsegärten weit hinter uns. An beiden Seiten der Chaussee rauschten Wälder auf. Die Wälder in der Umgebung Moskaus haben mit den sorgfältigen Waldanpflanzungen Deutschlands nichts zu tun, wo sogar das Vorhandensein von wilden Ebern und Rotwild die Spuren der menschlichen Hand nicht verwischen kann. Hier herrscht wilde Naturkraft, das ungebändigte Element, wo sich der Mensch zu Gast vorkommt.

Gegen Mittag, nach längerem Herumirren über Waldwegen, nähern wir uns unserem Ziel. Auf holprigem Boden schwer hin und her schaukelnd, überwindet die Limousine gleichsam auf allen Vieren die letzten Hindernisse und rollt auf die Dorfstraße. Totenstille und Menschenleere. Keine Haustiere sind zu sehen, keine Hühner, man sieht und hört nicht einmal Hunde. Das Dorf scheint von seinen Einwohnern verlassen zu sein.

Unser Wagen bleibt an einem der Bauernhäuser am Rande des Dorfes stehen. Der General steigt ächzend aus dem Wagen und nacht einige Bewegungen, um die erstarrten Glieder nach dem langen Sitzen ein wenig zu lockern. Anna Petrowna macht sich im Wagen mit den mitgebrachten Sachen zu schaffen. Shenja und ich warten, bis sie Vorgehen. In der Bauernhütte keine Bewegung, kein Zeichen von Leben. Niemand erscheint, um uns zu empfangen. Schließlich steigt der General die Stufen der Treppe hoch und öffnet die unverschlossene Tür. Wir gehen durch einen dunklen Flur, wo es nach Mist riecht. Ohne anzuklopfen, öffnet der General die Tür zur Wohnstube. In der Mitte der Stube sitzt auf dem Fußboden barfuß und barhäuptig ein Mädchen von etwa acht Jahren. Es schaukelt eine von der Decke herabhängende Wiege, in der ein Säugling liegt, und singt halblaut vor sich hin. Es verstummt, nachdem es uns bemerkt hat. Ohne sich vom Fußboden zu erheben, schaut es halb verwundert, halb erschrocken die Neuangekommenen an.

"Guten Tag, mein schönes Kind!" wendet sich der General an sie. – "Nun – hast du deine Zunge verschluckt?"

Das Mädchen schweigt und steckt vor Verwirrung den Finger in den Mund.

"Und wo sind die anderen?" fragt der General. Die Hände in den Taschen seiner Reithosen mit 4pn roten Doppelbiesen, steht er gespreizt in der Mitte des Zimmers.

"Draußen bei der Arbeit", antwortet das Kind einsilbig.

Hinter unserem Rücken entsteht ein Geräusch. Auf dem riesigen russischen Ofen, der fast die Hälfte des Zimmers einnimmt, bewegen sich Füße in löchrigen Filzstiefeln. Eine Zeitlang dringt vom Ofen her ein gedämpftes Ächzen und Stöhnen an unser Ohr, dann schaut hinter einem Kattunvorhang ein zerzauster, grauer Kopf hervor. "A-a-a.. . Du bist es, Nikolai!" erklingt ein wenig heiser eine altersschwache Stimme. "Kamst wieder angefahren?!" Das ist der Vater des Generals. Das Gesicht des Greises spiegelt Gleichgültigkeit und verrät beim Anblick des Sohnes nicht die geringste Freude. "Wer soll's denn sein, wenn nicht ich", lärmt mit gekünstelter Fröhlichkeit der General. "Ich habe Dir, Ssergej Wassiljewitsch, etwas mitgebracht. Auf daß die Knochen nicht wehtun. Eine Flasche Schnaps wirst Du wohl nicht ablehnen?!" Er schüttelt den vom Ofen heruntersteigenden Greis an der Schulter.

"Es wäre besser, Du hättest Brot mitgebracht statt Schnaps", brummt jener.

"Hopp, hopp, Marussja, im Laufschritt zum Vorsitzenden der Kollektivwirtschaft!" kommandiert der General, indem er sich an das Mädchen wendet. "Sag, daß er alle, die zu uns gehören, von der Arbeit befreit. Sag, der General kam."

"General, General...", brummt der Alte in den Bart und legt dann seine Hand liebevoll auf Shenjas Kopf. "Und Du, Libelle, blühst und blühst? Hast den alten Großvater in Deinem Moskau noch nitht vergessen?"

Ich ziehe aus dem Auto die Pakete und Bündel heraus, die der General mitgebracht hat. Einer nach dem anderen erscheinen die übrigen Insassen des Hauses von der Arbeit – die zahlreiche Verwandtschaft des Generals und ihre bereits erwachsenen Sprößlinge. Sie benehmen sich alle sehr unbeholfen und bekunden keine Freude beim Anblick der Gäste, sie sind verwirrt durch die unvorhergesehene Störung und das damit verbundene Durcheinander. Als letzter kommt ein Invalide an, der sich auf einen Stock stützt – der Lagerverwalter der Kollektivwirtschaft und der Vetter des Generals.

Nach der auf dem Lande üblichem Sitte gibt der Älteste im Hause den Ton an. Der Alte, der bei unserer Ankunft auf dem Ofen lag, der Vater des Generals, Ssergej Wassiljewitsch, gibt mit der Hand einer der Frauen ein Zeichen.

"Nun denn, deck den Tisch, Sserafima", sagt er. "Wir wollen Mittag essen, da nun mal Gäste da sind."

"Hast schon lange, Nikolai, keine Kartoffeln gegessen, was?" fährt er fort, indem er sich an seinen Sohn, den General, wendet. "Nun, so versuchst du's eben jetzt! Brot gibt es bei uns im Hause nicht. An Stelle von Brot essen wir Kartoffeln."

"Wo ist denn euer Brot?" fragt der General. "Habt ihr's etwa von der Kollektivwirtschaft noch nicht erhalten?"

"Erhalten, erhalten...", brummt Großvater Ssergej Wassiljewitsch. "Abgeliefert hat die Kollektivwirtschaft alles bis zum letzten Körnchen und ist ihm noch schuldig geblieben. Wir haben den Ablieferungsplan nicht erfüllt. Vorläufig kommen wir mit Kartoffeln aus, und im Winter, da ist es überhaupt noch nicht raus, wovon wir da leben werden."

"Nun, das ist kein Beinbruch", beruhigt der General und weist mit dem Kopf auf die in der Ecke liegenden Pakete. "Wir haben Brot mitgebracht."

"Ach Du, Nikolai, Nikolai..." Großvater Ssergej Wassiljewitsch klopft mit dem Löffel auf den Tisch und treibt damit zugleich Sserafima an, die am Ofen mit den Töpfen herumhantiert. "Wärst du nicht mein Sohn, ich würde Dir die Tür weisen. Bist Du denn zum Hohn mit Deinem Brot ins Dorf gekommen?!" Bei uns ist es hier so Brauch – der Hauswirt bewirtet die Gäste. Wirst das essen, was auch wir essen. Keine Widerrede. Ich bitte, unser Mittagsmahl nicht zu verschmähen."

Großvater Ssergej Wassiljewitsch fordert alle mit einer Gebärde auf, sich an den Tisch zu setzen, auf dem in einem riesigen gußeisernen Kochtopf rote Rübensuppe dampft. Neben den Kochtopf stellt Sserafima eine Aluminiumkasserolle mit Pellkartoffeln. Dann stellt sie vor jeden Esser Tonschüsseln und Holzlöffel auf den Tisch. Mit polternder Fröhlichkeit nimmt der General als erster seinen Platz am Tisch ein. Anna Petrowna folgt, verlegen lächelnd, seinem Beispiel und läßt sich behutsam auf die Bank nieder, nachdem sie vorsorglich ihr Seidenkleid umgeschlagen hat. Shenja macht sich in der Ecke des Zimmers zu schaffen, indem sie so tut, als ginge sie das Ganze nichts an.

Der General ist gesprächiger als alle anderen und sucht krampfhaft zu zeigen, daß er sich in dem Hause, in dem er das Lidit der Welt erblickt hat, sehr wohl fühlt. Mit Unterstützung von Scherzen schält er die Pellkartoffeln, die am Mittagstisch das Brot zu ersetzen haben, und hält bereitwillig seine irdene Schüssel hin, in die Sserafima die bunte Brühe löffelt, die sich Borschtsch nennt und keine Spur von Fleisch oder Fett aufweist. Eine Zeitlang herrscht am Tisch Schweigen, und man hört nur, wie die Löffel klappern.

"Was ist das für ein Mittagessen ohne Schnaps!" hält der General es schließlich nicht aus, steht auf und geht zu seinen Paketen. "Gießen wir uns terst mal ein Gläschen hinter die Binde – so geht's mit einem Schlag lustiger zu."

Die anwesenden Mannsleute folgen gern der Einladung des Generals, und im Nu ist die Schnapsflasche leer. Gleich darauf erscheint auf dem Tisch eine andere. Die Bauernmahlzeit, die lediglich aus Borschtsch mit Pellkartoffeln statt Brot besteht, nähert sich schnell ihrem Ende. Der General nimmt wieder die Unterstützung seiner Pakete in Anspruch, und der Tisch ist mit bunten Konservenbüchsen bedeckt, an denen es von Aufschriften in allen Sprachen Europas wimmelt.

Großvater Ssergej Wassiljewitsch schaut sich mürrisch dieses Bild an, es drängt ihn zum Widerspruch, er beherrscht sich aber und beschränkt sich, die wunderlichen Büchsen betrachtend, auf die kurze Bemerkung: "Zusammengeraubtes Zeug..."

Er schüttelt seinen Kopf nach links und rechts und brummt vor sich hin: "Hei, ta-ta-ta... Wir haben's weit gebracht... In Rußland kein Brot... Wie dem auch sei, aber diesen gestohlenen Plunder nehrn' ich nicht in den Mund."

Die reichliche Fülle von Schnaps verfehlt ihre Wirkung nicht. Allen löst sich die Zunge. Am Tisch erhebt sich Geschwätz und Lärm. "Nun, wie Nikolai. Man sagt, es riecht nach Krieg?" fragt Großvater Ssergej Wassiljewitsch, der nach ein paar Gläschen Schnaps ein wenig auflebt.

"Bis zum Krieg ist's vorläufig noch weit, aber auf Überraschungen jeder Art muß man sich schon gefaßt machen", antwortet der General. Er hat seinen Rock aufgeknöpft und lehnt sich zurück, indem er sich mit dem Ellenbogen auf das Fensterbrett stützt. "Den Krieg haben wir gewonnen, jetzt müssen wir den Frieden gewinnen", fügt er selbstbewußt hinzu.

"Was ist das für eine Art Frieden?" (Der Ausdruck "Frieden" bedeutet im Russischen nicht nur "Eintracht", sondern audi "Welt") kneift Großvater Ssergej Wassiljewitsch pfiffig die Augen zusammen. "Wieder das da... Proletari aller Länder, vereinigt euch – was?"

"Ja, gewiß, die Proletarier der anderen Länder dürfen wir auch nicht vergessen", sagt der General träge und empfindet selber unter den gegebenen Umständen die Unangebrachtheit seiner Worte. "Proletarische Solidarität!" fügt er hinzu, indem er jeden Blick auf seine Partner vermeidet.

"Freilich, freilich... Daß wir Proletari sind, diese Erkenntnis sitzt mir den ganzen Tag im leeren Wanst", grinst der Alte. "Und wie soll man das mit der Solidaritä kapieren? Daß also die anderen mit uns hungern. So oder nicht?"

"Trinken wir lieber noch eins, Ssergej Wassiljewitsdi." Der General sieht, daß es für ihn zwecklos ist, mit dem starrköpfigen Vater zu streiten, und füllt das Glas mit Schnaps.

"Nun sag Du mir aber eins, Nikolai", geht Großvater Ssergej Wassiljewitsch zum Angriff über. "Daß wir in diesem Krieg unser Blut vergossen und gehungert haben, dagegen sag ich nichts. Gott sei's gedankt, daß es noch so geendet hat! Aber Du sag mir nur eins: zu Beginn, als es losging, wollten da die Soldaten kämpfen oder nicht? Als General mußt Du das ja wissen."

Der General blickt schweigend auf den Tisch.

"Da bleibt Dir die Sprache weg?" triumphiert Ssergej Wassiljewitsch. "Die Soldaten wollten eben nicht kämpfen! Weißt selber warum. Diese Lieder hängen ihnen schon lange zum Hals raus. Von Liedern wird man nicht satt."

"Nun, aber den Krieg, mein Lieber, den haben wir dennoch gewonnen", verteidigt sich der General.

"Nikolai! Lüg wenigstens mir, Deinem Vater, nicht ins Gesicht!"' erhitzt sich der Greis. "Was! Hast vergessen, was uns während des Krieges versprochen wurde? Warum wurden die Kirchen geöffnet? Warum habt ihr russische Achselklappen gekriegt? Warum trägst Du an der Brust zaristische Bänder zur Schau? Hinter den Rücken des russischen Volkes habt ihr euch versteckt! Boden und Freiheit wurde uns versprochen! Dafür wurde auch gekämpft! Wo ist das alles?" Der Großvater schlägt erbittert mit der knochigen Faust auf den Tisch, daß die Gläser klirren. Aus dem zottigen Bart fallen ihm Krümel.

"Wo ist das alles?" brüllt er und fährt ingrimmig mit dem mageren Finger in die auf dem Tisch aufgehäuften Kartoffelschalen.

"Alles auf einmal geht nicht", widerspricht schwach der General. "Was heißt das – alles auf einmal geht nicht?" explodiert wie ein Pulverfaß Großvater Ssergej Wassiljewitsch. "Was? Noch schlimmer soll's werden?"

"Aber nein... Man kann nicht alles auf einmal instand setzen, was zerstört ist", setzt sich der General ab.

"A-a, das ist etwas anderes. Fast kamst Du mir wieder mit der alten Leier. Solidaritä! Proletari! Wir kennen dieses Lied auswendig! Von vorn nach hinten und von hinten nach vorn!"

Der General schweigt und kaut apathisch an einer Brotkruste. Großvater Ssergej Wassiljewitsch kann sich nicht beruhigen. Mit zitternden Händen schenkt er sich ein Glas Schnaps ein und jagt es die Kehle hinunter. Nachdem er sich mit der Handfläche den Mund abgewischt hat, sucht er, sich umblickend, einen, der ihm zu widersprechen wagt. Die übrigen Mitglieder der Familie blicken teilnahmslos in ihre leeren Teller. Nur der Invalide, der an der Ecke des Tisches sitzt, spielt nervös mit den Fingern und bewegt lautlos die Lippen. Er möchte etwas äußern, wagt es aber nicht, gegen den General aufzutreten.

"Du sollst mir, Nikolai, keine Märchen erzählen", erklärt Großvater Ssergej Wassiljewitsdi entschlossen und blickt herausfordernd über den Tisch. "Ich kenne Deine Beschäftigung durch und durch. Meinst Du, mir ist es unbekannt, daß Du bereits zwanzig geschlagene Jahre in der weiten Welt mit der Fackel herumflatterst? Meinst Du, ich weiß nicht, wo Du all diesen Blechdreck her hast?" Der zitternde Finger des Greises ist auf die ausländischen Orden des Sohnes gerichtet.

"Als Du in dieser Wiege lagst", nickt Ssergej Wassiljewitsdi mit dem Kopf über die Schulter weg in Richtung der Wiege, die von der Decke herunterhängt, "da gab's in diesem Haus nicht etwa Brot nur – wir hatten alles im Überfluß. Jetzt hast Du es bis zum General gebracht, und in jener Wiege schreit das Kind vor Hunger. Wo ist Dein Gewissen geblieben? Antworte mir! Hast Du Dein Gewissen gegen diesen Blechdreck eingetauscht?" Der zornige Blick des Alten funkelt wieder gegen die Orden an der Brust des Sohnes. "Großvater Ssergej, wo habt ihr euren Bastkorb?" fragt Shenja, die bis zu diesem Augenblick stumm neben ihrem Vater gesessen hat. Sie verläßt den Tisch und geht in den Flur, in dem an der einen Wand allerlei Flechtwerk aus Birkenrinde hängt.

"Hast schon die Nase voll, Libelle, was?" blickt ihr der Alte nach. "Geh nur, sammle Deine Pilze im Wald. Dann gibt's halt Pilze mit Kartoffeln zum Abendbrot."

Shenja steht im Türrahmen mit dem Bastkorb am Arm und nickt mir mit dem Kopf zu, damit ich ihr folge. Indem ich das Zimmer verlasse, höre ich noch die Worte Ssergej Wassiljewitschs hinter mir: "So, Nikolai, und nicht anders! Daß mir nie mehr in meinem Haus von den Proletari geschwatzt wird! Das kann ich nicht ausstehn. Gerade wir und sonst keiner sind die letzten, die allererbärmlidisten Proletari. Wenn schon jemand befreit werden soll – so nur wir. Verstanden! Schreib Dir das genau hinter die Ohren."

Der General antwortet kein Wort. Im väterlichen Bauernhaus herrscht ein uraltes Gesetz – das Gesetz des Alters. Das ergraute Haar und die Weisheit der Generation ist hier gültiges Recht.

Shenja und ich gehen zum Dorf hinaus. Unweit beginnt der Wald. Das Himmelsgewölbe ist von Horizont zu Horizont mit einem grauen Schleier überzogen. Die Luft ist herbstlich klar. Sie wird von einem Schuß Feuchtigkeit und dem Geruch fauligen Laubes durchsetzt. Shenja hat sich ein Tuch um den Kopf geschlagen und es ünter dem Kinn zu einem Knoten gebunden. Ihre Schuhe mit den hohen Absätzen nahm sie ab und warf sie in den Bastkorb.

Shenja geht wortlos vor mir her, indem sie mit ihren bloßen Füßen im Gras vorsichtig auftritt. Ich folge ihr, und meine Augen streicheln die biegsame Gestalt des Mädchens. Immer tiefer dringen wir in den Wald ein und kommen schließlich auf eine Lichtung.

Ungeheure moosbewachsene Stümpfe gefällter Baumriesen ragen vor unserem Blick und rings um sie – ein stürmisch-üppiges Reich wilder Beeren, Pilze und Gräser. Zwischen den Stümpfen bricht sich neuer Nachwuchs zum Leben die Bahn. Kleine schlanke Birken bewegen ihr gelbes Laub. Junge Tännlein kauern am Boden, als käme es ihnen darauf an, unter den winzigen Zweigen etwas zu verbergen.

"Warum fährt bloß der Vater hierher!" unterbricht Shenja das Schweigen. Mit gesenktem Kopf geht sie ziellos vorwärts und schaut auf den Boden. "Großvater wartet ihm jedesmal mit solchem Theater auf, und der Vater tut, als behagte ihm das", fügt sie hinzu. "Vielleicht ist es dem Vater angenehm, noch einmal den Unterschied festzustellen zwischen dem, was er war, und dem, was er inzwischen geworden ist", sage ich. Obgleich ich mir Mühe gebe, in einem gleichmütigen Ton zu sprechen, schwingt in meiner Stimme ein neuer Unterton mit.

"Diese Komödie fällt mir schon lange zur Last", fährt Shenja fort und schreitet langsam, ohne sich umzuschauen, vorwärts. "Und noch unangenehmer ist, daß auch Du Dir das jetzt angesehen hast." "Shenja!" rufe ich leise.

Das Mädchen dreht sich so rasch und mit solcher Bereitschaft um, als hätte sie auf diesen Ruf schon lange gewartet. Voller Erwartung richten sich auf mich kastanienbraune Augen.

"Shenja, von welcher Komödie sprichst Du?" frage ich und fühle, wie in meinem Innern ein unangenehmer und gefährlicher Verdacht hochsteigt. Das Mädchen schaut, vom Klang meiner Stimme getroffen, hilflos drein. Ich nehme sie vorsichtig bei den Händen und lehne ihren Rücken gegen einen riesigen, von Moos umwucherten Baumstumpf, der sich in gleicher Höhe mit ihrem Kopf erhebt. Demütig fügt sie sich.

"Merkst Du denn das selber nicht?" sucht sie der Frage auszuweichen. "Es geht hier nicht um die Komödie als solche!" Ich blicke Shenja in die Augen und sehe, daß sie auf meine Worte wartet und sich gleichzeitig vor ihnen fürchtet. "Wen hältst Du hier für einen Komödianten?"

"Ich... ich weiß nicht, Grischa..."

"Shenja, wen hältst Du hier für einen Komödianten?" wiederhole ich hart.

"Großvater Ssergej tut mir leid", flüstert Shenja, indem sie die Augen senkt. Ihrem Gesichtsausdruck ist abzulesen, daß ihr dieses Gespräch zur Qual gereicht. "Aber das alles ist so unsinnig...", fügt sie, sich gleichsam entschuldigend, hinzu.

"Also ist Deiner Meinung nach Großvater Ssergej ein Komödiant?" beharre ich.

"Nein, er hat recht. Aber... In den Augen Shenjas stehen Tränen. Das Gefühl der Erleichterung vermischt sich in meiner Brust mit einer warmen Welle von Zärtlichkeit. Langsam nehme ich Shenjas Kopf zwischen die Hände und küsse sie schweigend auf den Mund.

Es widerstrebt mir, das Mädchen weiter zu quälen, indem ich sie zwinge, sich von ihrem eigenen Vater loszusagen. Das übrige ist auch ohne Worte begreiflich.

"Weißt Du was, Shenja?" sage ich, indem ich ihre dem Kopftuch entronnenen Haarsträhnen streichle. "Ich bin Dir jetzt sehr dankbar." "Warum?!" flüstert sie überrascht.

"Ich bangte um Dich. Ich fürchtete, daß Du Dich anders äußerst..." Vor dem unsichtbaren Atem des Windes beben die Blätter der Birken. Auf dem Zweig eines vertrockneten Strauches schaukelt ein Waldvöglein und visiert uns mit der schwarzen Glasperle seines Auges.

"Der alte Mann tat mir in der Seele leid", sage ich, in Gedanken versunken. "Bevor der Krieg kam, lebte jeder in seinem Nest, und jeder baute sich sein Leben auf so gut er’s konnte. Zur Zeit des Krieges änderte sich alles – für alle bestand Gefahr und alle waren vor dem Tod gleich. Mitten in Blut und Übel habe ich von mir unbekannten Menschen allzuviel Gutes erlebt, von einfachen Menschen, von solchen wie Großvater Ssergej. Durch seine Schrecken hat uns der Krieg nahegebracht. Jetzt tut es mir in der Seele weh um diese Menschen."

"Wir sind beide oben", sage ich still. "Das dürfen wir nicht vergessen, aber wir dürfen das auch nicht überschätzen. Unser Aufenthalt oben hat nur dann einen Sinn, wenn wir das nicht vergessen. Mir scheint, Dein Vater vergaß das. Das fürchtete ich auch von Dir..."

Geräusche herbstlichen Waldes gehen über die Waldwiese. Ich blicke auf Shenjas nackte Füße, auf ihr bäuerliches Kopftuch und den Bastkorb, der neben ihr auf dem Boden steht. Das Mädchen hält in der Hand eine unterwegs gepflückte Traube von Ebereschenbeeren.

"Ich wäre unendlich glücklich, wenn Du bloß die Enkelin Deines Großvaters wärst und in diesem Bauernhaus lebtest", sage ich. Shenja schmiegt sich dichter an mich, als fröre sie. Uber den moosbewachsenen Stumpf kriecht, müde ihre Beinchen bewegend, eine Ameise.

"...Dann wüßte ich, daß Du mein bist", flüstre ich Shenja ins Ohr. – "Weißt Du, mit Wehmut rufe ich mir im Geist die ersten Tage unserer Freundschaft zurück. Als Du für mich weiter nichts warst als Shenja – ein bezauberndes Mädchen und die Freundin eines Soldaten. Weißt du noch, wie ich an deine Tür klopfte – im zerknüllten Soldatenmantel, zurückkehrend von der Front... Jedes Mal war ich stolz auf dich, auf die kleine Soldatenfrau..

Die Ameise kriecht über die runde Scheibe des Stumpfes, ohne einen Ausweg zu finden. Sie arbeitet sich bis zum Rand heran und blickt überrascht abwärts, in den sich vor ihr öffnenden Abgrund.

"Grischa, sag mir jetzt alles aufrichtig." Das Mädchen, das sich mit dem Rücken gegen den bemoosten Stumpf lehnt, erinnert wenig an die vor kurzem noch so übermütige und sorglose Shenja. Sie spricht leise und ernst. In ihrer Stimme ist kein Vorwurf, keine Bitte.

"Ganz verwandelt kamst Du aus Berlin wieder. Du bist wie ausgetauscht, von innen ausgetauscht... Und die ganze Zeit hüllst Du Didi in Schweigen. Ich fühle – irgend etwas liegt Dir wie ein Alb auf der Brust. Was ist das?"

"Mich grämt, Shenja, daß unsere Freundschaft nur Freundschaft bleibt..."

"Was steht Dir im Wege?"

"Als ich Deinen Vater erstmalig kennenlernte, war ich stolz auf ihn. Damals war er für mich der erste Soldat..."

"Und jetzt...?" Mit einem seltsamen Blick schaut mir Shenja in die Augen.

Ich beantworte die Frage nicht direkt. Ich kann das selber noch nicht fassen, ich fühle es nur. "Daß Du Dein Milieu verläßt und nur mir gehörst – das kann ich von Dir nicht verlangen", sage ich leise. "Daß aber ich mich in Deine Umwelt einschalte, – das bedeutet Untergang für uns alle."

"Also steht mein Vater im Wege?!" bringt das Mädchen mit seltsamer Ruhe hervor. Die Worte nehmen sich aus wie eine Antwort auf eigene Gedanken.

Ich schweige und streichle still ihre zarten Schultern. Die Blätter der Birken beben. Lautlos bewölkt sich der graue Himmel. Auf dem Baumstumpf irrt die Ameise ziellos hin und her.

"Hab’ keine Angst, Grischa. Ich komme selber darauf." Shenjas Stimme verrät Ermüdung. "Ich möchte Dir bloß das eine sagen – zwischen uns steht nicht der Vater. Zwischen uns ist das aufgestanden, was schon lange zwischen mir und dem Vater steht. Ich bin lediglich Frau und Tochter. Ich empfinde das anders." Sie schweigt eine Zeitlang und fügt dann leise hinzu: "Ich habe es Dir einmal bereits gesagt – ich bin eine Waise..."

Das Mädchen mit dem bäuerlichen Kopftuch führt den Ebereschenbeerenzweig ans Gesicht und schmiegt sich warm mit der Wange an die kalte Traube. Die Frische des nahenden Herbstes durchdringt die Luft. Stumm stehen wir inmitten der Waldlichtung, der Grund, um dessentwillen wir hergekommen sind, ist in uns nicht mehr lebendig.

"Und so hast Du das bereits unwiderruflich beschlossen?" fragt endlich Shenja.

Ich zucke nur hilflos mit den Achseln und schaue auf die Ameise. "Und wenn ich alles über den Haufen werfe und zu Dir nach Berlin komme?"

"Meine Lage ist dort zu unsicher. Ich kann Deine Zukunft nicht aufs Spiel setzen..."

Shenja spielt gedankenverloren mit der orangefarbenen Traube der Beeren. Ihre Augen sind über meine Schulter hinweg irgendwohin in die Weite gerichtet.

"Ich werde Dich niemals vergessen, mein Mädchen...", sage ich und weiß nicht, wen ich trösten möchte – sie oder mich. Noch einmal wird das Herz, wie einstmals vor langer, langer Zeit, von der ausweglosen Woge des Schmerzes überbrandet, der sich im Soldatenabschied verbirgt, im Soldatenabschied voller Sehnsucht und Liebe. Aber diesesmal bebt der Körper des Mädchens nicht und liebkost mich nicht wie in den vergangenen Tagen. Er ist leblos und kalt.

"Zürne mir nicht...", bitte ich. "Auch mir ist es sehr schwer. Sehr..."

Das Mädchen mit dem Bauerntuch erhebt den Kopf. Die Leere in seinen Augen schwindet langsam dahin, weicht dem unwiderstehlichen Ruf des Lebens. "Wenn es so sein muß...", flüstert es.

"Die kleine Soldatenfrau wird nicht weinen", lächeln Shenjas Augen unter Tränen. Sie hat ihre Arme auf meine Schultern gelegt und sich weit zurückgeworfen, als betrachte sie mich zum letztenmal. Nachdem ich mich zwei Wochen lang in Moskau aufgehalten hatte, verspürte ich unerwartet eine beklemmende Leere in mir und eine ^alarmierende Unruhe. Ich war ungeduldig darauf, meine Angelegenheiten im Energetischen Institut zu beenden, die ich, meinen Aufenthalt in Moskau nützend, in Ordnung zu bringen beschlossen gehabt hatte. Diese ganze Zeit hindurch verfolgte mich das Gefühl eines Menschen, der zu spät zum Zug kommt.

Andrej Kowtun hatte schon vorher Moskau verlassen. Nach der Begegnung mit Galina irrte er einige Tage lang, ohne auf seine Umgebung zu reagieren, wie im Trance-Zustand daher. Nach großer Mühe war es mir gelungen, ihn zu einer Fahrt nach Sotschi zu überreden, damit er in einem dortigen Sanatorium seinen Urlaub für eine Kur nützt.

Sogar beim Abschied auf dem Bahnhof hatte er sich kein Lächeln gegönnt und schaute, mir die Hand drückend, irgendwohin zur Seite. Kurz nach meiner Reise mit Shenja aufs Land ertappte ich mich bei dem Kombinationsversuch, die von mir aus Berlin mitgebrachten Geschenke unter Beanspruchung des Postweges ihrer Bestimmung yuzuführen. Die Perspektive, weiter als in die Umgebung Moskaus zu fahren, um dann unweigerlich noch mehr von der allgemeinen Trostlosigkeit in mich aufnehmen und schließlich den Zusammenbruch aller Hoffnungen noch tiefer durchmachen zu müssen, schreckte mich ab.

Als ich von Berlin aus meinen Urlaub in die Heimat antrat, hielt ich es nicht für notwendig, mich zu erholen. Jetzt aber, nachdem ich mich in Moskau umgesehen hatte, kam eine tödliche Müdigkeit über mich und ein heftiges Verlangen nach Erholung.

An einem Morgen am Ende der dritten Woche packte ich, ohne daß ich die Frist meines sechswöchigen Urlaubs hätte nützen wollen, meine wenigen Sachen in ein Köfferchen und setzte mich in einen Trolleybus, der zum Hauptflugplatz fuhr, Schon früher hatte ich fernmündlich in Erfahrung gebracht, daß in den Flugzeugen der SMA, die von Moskau nach Berlin fliegen, immer freie Plätze zu haben sind. Ich stand, wie auch ein Jahr vorher, in dem Verwaltungsgebäude des Flughafens und trug mich in die Liste der Fahrgäste ein. Mit wehem Herzen betrat ich eine Telefonzelle und wählte Shenjas Nummer. Als sich im Hörer eine bekannte Stimme meldete, sagte ich: "Shenja, ich telefoniere vom Flugplatz. Man ruft mich eilig nach Berlin zurück."

"Du lügst", entgegnete mir die Stimme im Hörer. "Ich bin Dir aber nicht böse... Schade nur, daß Du mir zum« Abschied keinen Kuß gegeben hast..."

Ich wollte etwas erwidern, aber Shenja hatte schon auf gehängt.

Nach einer halben Stunde schraubte sich das Flugzeug in die Luft. Diesmal flog der Pilot keinen Abschiedskreis über Moskau. Diesmal schaute ich auch nicht zum Fenster hinaus. Ich freute mich nicht darauf, was mich morgen erwartete. Ich bemühte mich, darüber nicht nachzusinnen, was hinter mir blieb.


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