Gregory Klimow. Berliner Kreml. Kapitel 15

Die Emissäre des Marschalls

So floh ich von Moskau nach Berlin.

Als die Tür meiner Karlshorster Wohnung hinter mir ins Schloß fiel, setzte ich mich an meinen Schreibtisch und betrachtete voll Wehmut den Kalender. Mir standen noch zwei Wochen Urlaub zu. Was sollte ich tun? Vorzeitig zum Dienst erscheinen? Die einen würden mich für verrückt erklären, die anderen für einen ehrgeizigen Karrieristen halten. Freunde besuchen? Da erwarteten mich zu viele Fragen, die zu beantworten ich nicht die geringste Lust hatte. Ich hatte es sehr eilig gehabt, von Moskau fortzukommen – warum und wohin ich eilte, wußte ich aber selber nicht.

Ich beschloß, nichts weiter zu tun als mich zu erholen und fuhr mehrere Tage lang in Zivil zum Baden hinaus. Ich suchte absichtlich die bevölkertsten Stellen aus, lag schweigend im Sande und beobachtete das ringsum quirlende Leben einer fremden, sorglosen Welt. Anfangs fand ich darin eine merkwürdige Befriedigung. Die ziellose Geschäftigkeit schien mich zu beruhigen. Dann aber packte mich eine tödliche Langeweile, tagaus, tagein die gleichen Butterbrotpakete und die gleichen kindlichen Spiele erwachsener Menschen zu sehen.

Zehn Tage vor Ablauf meines Urlaubs meldete ich mich beim Chef der Industrieverwaltung und bat, meinen Dienst wieder aufnehmen zu dürfen. Das Gesicht Alexandrows drückte angenehme Überraschung aus. "Nun, wie haben Sie sich in Moskau erholt?" fragte er.

"Sehr gut", antwortete ich.

"Sie kommen mir wie gerufen", begann Alexandrow darauf sachlich. "Uber die Hälfte der Mitarbeiter ist auf Urlaub; gerade jetzt hat der Oberbefehlshaber uns aber eine eilige und verantwortungsvolle Aufgabe übertragen. Wir sollen für Moskau Material gegen die Demon- teure zusammenstellen."

Eine halbe Stunde lang erläuterte Alexandrow die Spannungen, die sich zwischen der Verwaltung für Reparationen der SMA und dem Sonderkomitee für Demontagen des Ministerrats der UdSSR ergeben hatten. Um Moskau gegenüber den Standpunkt der SMA rechtfertigen zu können, muß man möglichst viel Anklagematerial über die Arbeit des Sonderkomitees in Deutschland sammeln. Zu diesem Zweck muß die Verwaltung für Industrie dem Oberbefehlshaber eine aus mehreren Ingenieuren bestehende Sonderkommission zur Verfügung stellen, deren offizielle Aufgabe die Koordinierung der Arbeit der SMA und des Sonderkomitees sein soll, während ihre inoffizielle Aufgabe darin besteht, kompromittierendes Material über die Tätigkeit der Demon- teure zu sammeln. Die Kommission soll diese Arbeit während fast ununterbrochener Dienstreisen durch die größten Industriebetriebe der deutschen Sowjetzone durchführen.

"Wenn Sie einverstanden sind, werde ich Vorschlägen, Sie der Kommission zuzuteilen", sagt Alexandrow abschließend. "Um so mehr, als Sie die deutsche Sprache beherrschen, denn es wird nötig sein, engen Kontakt mit den deutschen Fabrikdirektoren aufzunehmen." Ununterbrochene Dienstreisen und Arbeit in den Betrieben! Die folgenden Wochen, vielleicht sogar Monate, werde ich sowohl Moskau als auch Karlshorst los sein! Es war das Günstigste, was ich mir zur Zeit nur wünschen konnte. Ich erklärte mich mit Alexandrows Vorschlag gerne einverstanden.

Am folgenden Tag wurde ich der Koordinierungskommission zugeteilt, die unmittelbar dem Oberbefehlshaber unterstand.

Ein Sowjetbürger, aus Moskau geflohen, ein Sowjetoffizier, der in Karlshorst keine Ruhe findet – und zur gleichen Zeit Emissär des SMA-Oberbefehlshabers, der für Moskau arbeitet. Ein zufälliges Zusammentreffen? Nein! Eher eine Gesetzmäßigkeit. Der Sowjetapparat wird damit um einen weiteren Mechanismus bereichert, der in der Sackgasse gelandet ist.

Das innere, geistige Leben ist auf dem Nullpunkt angelangt. Äußerlich aber – ein vorbildlicher Sowjetmenscfa, der automatisch seine Pflicht erfüllt. Die goldenen Schulterstücke und die äußeren Funktionen sind nicht Ausdruck des Inhalts dieses Mechanismus, sondern nichts anderes als Mittel zum Kampf ums Dasein unter den gegebenen Umständen. In einem weiteren Sowjetmenschen ist der schmerzhafte Prozeß zum Abschluß gekommen, den vorher schon Tausende und Millionen von Sowjetmenschen durchgemacht haben.

Der graue BMW durchschneidet die kühle Herbstluft. Eintönig rauscht der Beton unter den Rädern. Uber das kahle Feld neben der Autobahn fliegt ein Schwarm Rebhühner.

"Sollen wir sie schießen?" fragt Major Dubow und langt nach dem zweiläufigen Jagdgewehr, das hinter dem Sitz steckt.

"Laß das", antworte ich. "Wir werden sie sowieso irgend jemandem abgeben müssen."

"Das wäre gar nicht schlecht", sagt der Major lachend, "damit könnten wir, wenn’s Not tut, jemand zum Reden bringen. Wassilij Iwanowitsch, auf in den Kampf!"

Unser Fahrer ist ein älterer Mann, ehemaliger Soldat. Er läßt ein Wagenfenster herunter. Wie eine riesige Schildkröte rollt unser BMW von der Autobahn.

Das Kombinationsvermögen eines Rebhuhns ist recht beschränkt: einen Menschen läßt es nicht an sich heran, nähert man sich ihm aber im – Wagen, dann kriecht es förmlich unter die Räder.

Karlshorst liegt irgendwo hinter uns. In der Tasche haben wir eine Vollmacht mit der Unterschrift Marschall Sokolowskijs: "...gültig für das Land Thüringen zwecks Ausführung eines Sonderauftrages des Oberbefehlshabers der SMA in Deutschland". Das genügt um in Thüringen überall offene Türen zu finden. Sollte es gelegentlich dennoch nicht ausreichen, haben wir ein weiteres Dokument zur Hand: "Bevollmächtigt zur Durchführung von Kontrollen betreffend die Erfüllung des Befehls Nr... der SMA in Deutschland sowie die Verordnung des Ministerrats der UdSSR vom..."

Diese hochtrabende Formulierung ist hauptsächlich bestimmt für den Bevollmächtigten des Sonderkomitees für Demontagen und sowjetischen Direktor der Zeißwerke in Jena, General Dobrowolskij. Obwohl Dobrowolskij durch und durch Zivilist ist, vorher Direktor eines optischen Werkes der UdSSR war und außerdem zu der verschrienen Kaste der "Demonteure" gehört, besitzt er eine beachtliche Autorität, da er in Moskau über gute Verbindungen verfügt.

Trotz des ausdrücklichen Befehls von Marschall Sokolowskij, daß sämtliche Demonteure Zivil zu tragen haben, tut Dobrowolskij, als wäre ihm nichts davon bekannt. Wenn Dobrowolskij und Sokolowskij Zusammentreffen, übersieht dieser Dobrowolskijs Generalsstreifen und redet ihn stets freundschaftlich ironisch beim Vor- und Vatersnamen an, entgegen der Bestimmung, Militärpersonen ihrem Rang entsprechend zu titulieren.

Neben der kindlichen Vorliebe für seine Rangabzeichen ist Dobrowolskij besonders für seine Schroffheit bekannt. Es sind Fälle vorgekommen, in denen er Kontrolleure einfach die Treppe hinunter beförderte oder überhaupt am Betreten des Werksgeländes hinderte. Dabei pflegte er zynisch hinzuzufügen: "Wenn es Ihnen nicht paßt, beschweren Sie sich in Moskau!" Um sich beschweren zu können, braucht man entsprechende Unterlagen – an die Zeißwerke konnte man aber nur über Dobrowolskij heran.

Wenn sich innerhalb der SMA in Deutschland innere Feinde und Gegner befanden, so waren sie in erster Linie in den Reihen derjenigen zu suchen, die den Sammelnamen "Demonteure" trugen. Der Chef der Verwaltung für Reparationen und Lieferungen bei der SMA, General Sorin, begrub nach vielen vergeblichen Versuchen, mit den Demon- teuren zusammenzuarbeiten, jede Hoffnung auf eine vernünftige Zusammenarbeit und führte von da an die Verhandlungen mit diesen Leuten, die oftmals in einer Entfernung von nur fünf Minuten von Karlshorst saßen, über Moskau, wohin er auch seine Beschwerden, Forderungen und Berichte über das Defizit im Reparationsplan infolge der Tätigkeit der Demonteure direkt richtete. Sie aber lachten sich ins Fäustchen und schnüffelten in Deutschland weiter nach Objekten herum, die von der SMA noch nicht beschlagnahmt waren. Doch auch Beschlagnahmen seitens der SMA nützten nicht viel. Die Demonteure setzten sich in jedem einzelnen Fall sofort mit Moskau in Verbindung, worauf von dort gewöhnlich der Befehl erging, die entsprechenden Objekte den Demonteuren zur Verfügung zu stellen. General Sorin konnte Dobrowolskij nicht ausstehen und betrachtete seine Besuche als persönliche Kränkung.

Die Hauptaufgabe der Wirtschaftsabteilung der SMA besteht in der Sicherstellung der Reparationslieferungen und der Sorge für das Funktionieren der deutschen Industrie im Rahmen des durch das Potsdamer Abkommen festgelegten Friedenspotentials. Schon die gleichzeitige Durchführung dieser beiden Programmpunkte verursacht – wenn man den Umfang der Reparationspläne berücksichtigt – gelinde gesagt, einige Schwierigkeiten. Dazu kommt nun aber noch die Einmischung einer dritten Kraft – der Demonteure, die für uns eine unkontrollierbare Macht bedeuten, da sie nicht der SMA, sondern Moskau direkt unterstehen.

Die Arbeit der Demontageorganisation wird vom Sonderkomitee für Demontagefragen beim Ministerrat der UdSSR geleitet, d. h. durch den Ministerrat selbst sowie durch die daran unmittelbar interessierten Ministerien. Eine recht gut ausgeklügelte Politik. Sozusagen eine Art sozialistischen Wettbewerbs: zwei Melker melken um die Wette ein und dieselbe Kuh. Der eine macht's wie ein Wilddieb, schlägt möglichst viel heraus und geht dann befriedigt nach Hause – das sind die Demonteure. Dem anderen dagegen wird erst die Milch abverlangt, und anschließend noch die halbtote Kuh aufgehalst, die er noch lange zu melken haben wird – das sind wir, die SMA. Doch was immer mit der Kuh oder den Melkern geschehen mag – der Hausherr wird seine Milch bis zum letzten Tropfen bekommen.

In den ersten Tagen nach überschreiten der deutschen Grenze durch die Rote Armee oblag das Sammeln und Erfassen der Kriegsbeute speziellen Armeebrigaden, zu deren Wirkungsbereich auch die Demontage von Industrie-Ausrüstungen gehörte. Bald stellte sich jedoch heraus, daß die Brigaden nicht imstande waren, dieses riesige Aufgabenbereich zu bewältigen. Das war die Geburtsstunde der ruhelosen Kaste der Demonteure.

Zu Beginn operierten sie größtenteils auf eigene Faust, später wurde ihre Tätigkeit geregelt und im Sonderkomitee für Demontagefragen zusammengefaßt. Jedes Volkskommissariat, die Hauptverwaltungen der Volkskommissariate und selbst einzelne Werke sandten ihre eigenen Demontagebrigaden nach Deutschland. Die Demontage kam in Mode. Es kam soweit, daß die Staatliche Lenin-Bibliothek in Moskau ihre Bücherspezialisten aussandte, um Goethe und Schiller zu demontieren, während das Moskauer Sportstadion "Dynamo" eiligst eine Fußballmannschaft nach Deutschland abkommandierte, um ein für die Demontage geeignetes Schwimmbassin ausfindig zu machen. Schulterstücke und Rang wurden den Demonteuren nach folgendem Schema verliehen: ein Techniker wurde Leutnant, ein Ingenieur – Major, ein Direktor – Oberst, ein hoher Ministerialbeamter – General. Die geheimnisvollen Mächte, die den Stand der Demonteure geschaffen hatten, zerbrachen sich über dieses Problem nicht erst lange die Köpfe. Um so mehr Scherereien hatte dafür die SMA, sobald sie mit diesen Pseudo-Offizieren in Berührung kam. Sie fanden mit der Zeit Geschmack an ihren Rangabzeichen, und es kostete nicht wenig Mühe, ihnen diese Verzierungen wieder abzumontieren.

Vor unserem BMW dehnt sich das betonierte Band der Autobahn. Für uns, die Ingenieure des Hauptstabes der SMA, sind Dienstreisen in die Provinz jederzeit eine höchst willkommene Aufgabe. Man kann dabei im Laufe weniger Tage eine Menge – vom beruflichen Standpunkt aus – neuen und wertvollen Materials ausfindig machen.

Wir wühlen in den Anlagen der deutschen Industrie, wie ein Chirurg auf einem Operationstisch. Das Innere des Patienten ist zur Genüge bloßgelegt. Es ist nur schade, daß der einst kraftstrotzende Organismus sich jetzt vor unseren Augen anschickt, das Leben auszuhauchen. Wir sind dabei, einem anderen Patienten eine Bluttransfusion zu machen. Manchmal stellen wir uns die peinliche Frage: ist der andere Patient diese Operation wert? Für einen objektiven Chirurgen, d. h. Ingenieur, wird diese Frage mit der Zeit zur Qual. Aber wir dürfen nicht daran denken. Wir sind in erster Linie sowjetische Offiziere.

Major Dubow erhielt diese Kommandierung als Fachmann für Optik und Feinmechanik. Nebenbei hat seine Anwesenheit noch eine andere positive Seite. Er kennt Dobrowolskij noch aus der gemeinsamen Studentenzeit. Während er ihn mit Jugenderinnerungen beschwatzen wird, werde ich unserem Feind und Konkurrenten Nr. 1 ungestört eine Grube graben.

Die Interessengegensätze zwischen SMA und Sonderkomitee treten im Falle der Zeißwerke besonders kraß in Erscheinung. Nachdem die erste Demontagewelle, die zu verhindern die SMA weder Zeit noch Lust hatte, vorüber war, begann man wirtschaftliche Erwägungen in Betracht zu ziehen.

Vom ersten Tage an bestand das Sonderkomitee darauf, die Zeißwerke vollständig zu demontieren und in die Sowjetunion zu verlegen. Vom militärisch-strategischen Standpunkt aus war das zweckmäßig. Anderseits gab es aber auch bedenkliche Hindernisse. Die industrielle Ausrüstung der Zeißwerke stellt kein besonderes Wertobjekt dar. Praktisch waren dort keine seltenen Maschinen vorhanden, die es in der Sowjetunion etwa nicht gegeben hätte. Der Wert der Zeißwerke bestand in seinen Fachleuten, angefangen von den einfachen Schleifern, die ihr ganzes Leben lang im Werk arbeiteten und ihre Erfahrungen von Generation zu Generation Weitergaben, bis zu den Ingenieuren, die die klassischen Formeln der optischen Mechanik schufen. Ohne die Fachleute wäre die ganze Ausrüstung der Zeißwerke in der Sowjetunion keinen roten Heller wert. Die Werke mitsamt dem ganzen Personal zu verlegen, wäre dagegen ein viel zu schwieriges und riskantes Unternehmen.

Man versuchte, eine Kompromißlösung zu finden, indem man vorschlug, sowjetische Arbeiter und Ingenieure zu Studienzwecken nach Jena zu entsenden. Nach Rückkehr in die Sowjetunion sollten sie dann die Ausrüstungen in Betrieb nehmen und ihre in Jena gesammelten technischen Erfahrungen anwenden. Dieser Plan wurde zwar angenommen, doch nicht befriedigend durchgeführt. Der Kreml entläßt seine Söhne nicht gern ins Ausland, nicht einmal ins besetzte Deutschland. Sie könnten dort außer den technischen Erfahrungen der Zeißwerke noch andere Dinge lernen. Dann müßte man sie diese Dinge in Sibirien wieder vergessen lassen. Das ist kompliziert, langweilig und nicht einmal zuverlässig.

Die erste Demontage erwies sich als unrentabel. Die bei Zeiß demontierte Ausrüstung ergab in der Sowjetunion keinerlei bedeutenden wirtschaftlichen Nutzen. Gleichzeitig übertraf das amputierte Zeiß- werk in Jena alle Erwartungen, indem es nach wie vor echte Zeiß- erzeugnisse herausbrachte – zur Überraschung selbst General Dobro- wolskijs, der nach der Demontage als sowjetischer Direktor bei den Zeißwerken in Jena geblieben war. Dobrowolskij war an dieser Produktion verhältnismäßig wenig interessiert, da sie der SMA-Verwal- tung für Reparation zuging und sein Erzfeind, General Sorin, dafür sämtliche Lorbeeren erntete.

Die SMA dagegen interessierte sich stark für die Zeißwerke, da deren Produktion bei der Schaffung stabiler Besatzungsverhältnisse in der Bilanz der Reparationen eine wichtige Rolle zu spielen begann. Falls eine zweite Demontage der Zeißwerke erfolgen sollte – worauf Do- browolskij hartnäckig bestand – so würde die SMA damit einen bedeutenden Aktivposten der Reparationsbilanz verlieren. Da der Ministerrat die Reparationssumme niemals herabsetzen wird – es ist zwecklos, daran auch nur zu denken – müßte man in diesem Falle irgendwelche neuen Quellen für Reparationslieferungen ausfindig machen, was im Laufe der Zeit immer größere Schwierigkeiten bereitet. Lind hier beginnt der Zweikampf: SMA contra Sonderkomitee. Dobrowolskij versichert Moskau eidesstattlich: "Wenn ich die Zeißwerke endgültig demontiere, werden sie in der Sowjetunion nach einem Jahr Produktion im Werte von hundert Millionen Rubeln liefern."

Die SMA pariert mit einem Gegenschlag: "Die erste Verpflanzung der demontierten Zeißwerke in die Sowjetunion hat bisher ein Defizit von fünfzig Millionen Rubeln ergeben und erfordert laufende Unterstützung, während die halbtoten Zeißwerke in Jena • jährlich Reparationsleistungen im Werte von zwanzig Millionen Mark auf- bringen!" Da hast du es, Genosse Dobrowolskij! Wir bringen dich noch um deinen Direktorensessel!

Der Streit zwischen der SMA und Dobrowolskij nimmt eine für beide Teile etwas unerwartete Wendung. Nachdem sich Moskau über die I.age der Dinge in Jena an Hand der Berichte beider Seiten orientiert hat, befiehlt es: "Zur Arbeit in der optischen Industrie der Sowjetunion, hauptsächlich in den verlegten Unternehmen der Zeißwerke, ist aus den Zeißwerken in Jena und deren Hilfsunternehmen eine entsprechende Anzahl hochqualifizierter deutscher Fachleute nach dem Prinzip individueller Arbeitsverträge zu verpflichten und an den Bestimmungsort zu überführen. Die Auswahl der Fachleute und die Durchführung dieser Bestimmung wird dem Direktor der Zeißwerke Jena, Dobrowolskij, übertragen. Gleichzeitig wird auf die Notwendigkeit hingewiesen, den Wiederaufbau des Zeiß-Hauptwerkes in Jena gemäß früheren Bestimmungen zu beschleunigen. Im Aufträge des Ministerrates der UdSSR – der Minister für Präzisions-Industrie." Diesmal hat Dobrowolskij einen Teilerfolg errungen. Man hat beschlossen, vorerst die Fachleute von Zeiß zu demontieren. Höchst sonderbar erscheint jedoch die Idee, in ein und demselben Befehl die Zerstörung und zugleich "beschleunigten Wiederaufbau" ein und desselben Unternehmens zu verlangen.

Vor einigen Tagen las ich in der "Täglichen Rundschau" den ekelerregend kriecherischen Brief eines dieser deutschen Fachleute, der nach dem "Prinzip individueller Arbeitsverträge" (In Wirklichkeit wurden Fachkräfte zwangsweise verschickt) in die Sowjet Union abkommandiert worden war. Wie rasch doch den Deutschen der sowjetische Stil eingeimpft wird!

Liegt das an der ideologischen Bearbeitung am neuen Arbeitsplatz oder an der literarischen Bearbeitung durch den Redakteur der "Täglichen Rundschau", Oberst Kirsanow?

Der glückliche Fachmann – dem Briefstil zufolge keine Leuchte der Wissenschaft – beeilt sich, der Welt kund zu tun, daß es ihm sehr gut gehe und er monatlich 10.000 Rubel verdiene. Marschall Soko- lowskij erhält bis auf den heutigen Tag 5000 Rubel im Monat. Ein sowjetischer Ingenieur bekommt im Monat durchschnittlich 800 bis 1200 Rubel.

Einige Monate lang wird dieser Fachmann 10.000 Rubel verdienen, dann aber wird er zehn Jahre lang dieselbe Arbeit unentgeltlich leisten – als Gefangener. Ein anderer Enthusiast wird dann begeisterte Briefe schreiben.

Die Sache ist erledigt: eine bedeutende Anzahl von Arbeitern und Technikern der Zeißwerke ist "auf Grund individueller Arbeitsver- träge" in Richtung Osten abgefahren. Die Produktionsleistung der Zeißwerke ist gesunken. Dobrowolskij feiert seinen Sieg, indem er jedem die Richtigkeit seiner Theorie über die Notwendigkeit einer endgültigen Demontage der Zeißwerke zu beweisen versucht. Major Dubow und ich aber begeben uns als Kundschafter ins feindliche Lager. "Ah, Kollege, wie geht's?" erfreut schüttelt Major Dubow Dobrowolskijs Hand.

"Welcher Wind hat Dich hierhergeweht?" empfängt Dobrowolskij seinen alten Kameraden ziemlich unfreundlich mit scheelem Blick. Er tritt im Werk wie ein Diktator und gleichzeitig wie ein General in einer belagerten Festung auf, insbesondere wenn Besucher SMA-Luft verbreiten.

Ich gehe beiseite und betrachte die an der Wand befestigten Produktionsmuster, um den Eindruck zu erwecken, als ginge mich das alles gar nichts an. Erst als Major Dubow Dobrowolskij ins Arbeitszimmer lockt, beginne ich mit meinem Flankenmanöver.

Durch eine Zwischentür gelange ich aus Dobrowolskijs Vorzimmer in das Vorzimmer des deutschen Direktors. Nachdem ich der Sekretärin die mit der Unterschrift Marschall Sokolowskijs versehene Vollmacht unter die Nase gehalten habe, äußere ich den Wunsch, den Direktor zu sprechen. Dieser ist äußerst erfreut, mich zu sehen und verabschiedet eiligst die in seinem Arbeitsraum anwesenden Besucher. "Nun, Herr Direktor, erzählen Sie mal, wie ausgezeichnet bei Ihnen alles läuft!" sage ich.

Ich weiß genau, daß zwei Gefühle in ihm streiten: die Angst vor Dobrowolskij und das Gefühl der beruflichen und nationalen Pflicht, wenn diese Begriffe für SED-Mitglieder überhaupt existieren. Der Direktor muß begreifen, daß die SMA die Interessen des Werkes vertritt, sofern es sich um dessen Existenz handelt. Ich brauche ihm die Lage der Dinge nicht auseinander zu setzen, er versteht es von selbst. Er will nur sichergehen, daß Dobrowolskij von unserem Gespräch nichts erfährt. Trotz seines ziemlich aufrichtigen Wunsches, Dobrowolskij ein Bein zu stellen, bringt mir das Gespräch mit dem Direktor nicht viel Nutzen. Ich danke dem Direktor für die außergewöhnlich inhaltslose Information und erbitte seine Erlaubnis, mit den technischen Leitern des Werkes sprechen zu dürfen. "Um einige Details zu klären . . Der Herr Direktor ist so entgegenkommend, mir sogar sein Arbeitszimmer zur Verfügung zu stellen. Nach einigen Minuten erscheint ein hagerer Mann mit Hornbrille und weißem Kittel in der Tür. Ich sehe ihn schweigend an und lächle ihm zu wie einem alten Bekannten. Ich hatte mich schon vorher über die technischen Leiter der Zeißwerke informiert. Schon nach wenigen einleitenden Sätzen über Zeiß und seine Produktion verstehen wir einander.

Ich erkläre ihm geradeheraus, daß mein Bestreben, wenn auch nicht aus philantropischen Erwägungen, darauf gerichtet ist, die Zeißwerke von der Willkür Dobrowolskijs zu befreien. Wir sind also in diesem Falle unfreiwillige Verbündete. Ich errate seinen Gedankengang und sichere ihm die unbedingte Geheimhaltung unseres Gespräches zu. Der Herr Doktor ist erfreut über meinen Scharfsinn und erklärt sich bereit, sein Wissen und seine Erfahrung der SMA zur Verfügung zu stellen.

"Wo befinden sich Ihrer Meinung nach die Engpässe in der Arbeit der Zeißwerke, Herr Doktor?" versuche ich die katastrophale Lage der Werke durch das Wort "Engpässe" zu verschleiern:

"Es wäre einfacher, die positiven Momente aufzuzählen, Herr Oberingenieur", antwortet der Doktor mit trübem Lächeln. "Es fehlt an allem. Aber die Hauptsache ist: Man hat uns das Gehirn genommen – unsere Fachleute. Das kann man in Jahrzehnten nicht wieder gutmachen."

Vor meinen Augen entrollt sich ein trauriges Bild.

Im Gegensatz zu der Industrie der Sowjetunion hängt die deutsche Industrie in besonders hohem Maße von der Zusammenarbeit ihrer einzelnen Betriebe ab. In der Sowjetunion strebte man unter Ausschaltung wirtschaftlicher Erwägungen nach einer Autarkie der Industrie im großen und im kleinen, sowohl in bezug auf das gesamte Land als auch in bezug auf jede einzelne Fabrik. Hierbei waren nicht so sehr wirtschaftliche, als vielmehr militärisch-strategische Momente entscheidend.

Grundlage der kapitalistischen Wirtschaft ist die Rentabilität der Betriebe. Die Struktur des Unternehmens und seine Lebensfähigkeit sind durch strengste wirtschaftliche Kalkulation und eine aktive Bilanz bedingt. Für die Wirtschaftler des Westens ist dies eine unwiderlegbare Wahrheit und Voraussetzung jeder industriellen Produktion. Ihnen würde es absurd erscheinen, daß in der Sowjetunion die meisten führenden Betriebe der Grund-Industrie unrentabel arbeiten und auf staatliche Zuschüsse angewiesen sind, die der Staat wiederum planmäßig aus der Leichtindustrie, die begehrte Verbrauchsmittel her- slellt, sowie aus der kollektivisierten Landwirtschaft herauspumpt. "Im Moment schöpfen wir noch aus alten Beständen an Rohstoffen und Halbfabrikaten. Nachschub wird nicht geliefert. Wenn die Bestände aufgebraucht sind . .." der technische Direktor macht eine hilflose Handbewegung. "Unsere ehemaligen Lieferanten in der Sowjetzone haben größtenteils aufgehört zu bestehen. Die versprochenen Rohstofflieferungen aus der Sowjetunion sind bisher ausgeblieben. Aus den Westzonen etwas zu erhalten, ist praktisch ausgeschlossen. Wir haben schon versucht, einige Lastkraftwagen auf eigene Gefahr illegal über die grüne Grenze zu schicken, um alte Handelsbeziehungen wieder aufzunehmen und auf diese Weise etwas zu bekommen. Aber das ist keine Lösung."

Die sowjetischen Ingenieure staunten oft über die Lebensfähigkeit der deutschen Industrie, die sich trotz der gerade überstandenen Schwierigkeiten der totalen Kriegführung und der bedingungslosen Kapitulation sowie der gewaltigen Demontagen zu behaupten vermochte. Die Rohstoffvorräte der deutschen Fabriken waren zur Zeit der Kapitulation in vielen Fällen größer als die Friedensnormen der sowjetischen Fabriken.

Im Mai—Juni 1945, gleich nach dem Fall von Berlin, demontierte man im Eiltempo die industriellen Ausrüstungen in Siemensstadt, dem Herzen der deutschen elektrotechnischen Industrie. Damals schon, also noch vor der Potsdamer Konferenz, wußte man, daß die Reichshauptstadt von allen vier Verbündeten besetzt werden würde. Offiziell wurde dieser Beschluß am 5. Juni 1945 durch Vereinbarung aller vier Mächte angenommen. Der Einmarsch der Verbündeten in Berlin wurde jedoch noch um einen Monat hinausgezögert. Ursache waren die Demontagen. In den Sektoren Berlins, die laut Vertrag an die Verbündeten übergingen, waren Demontagebrigaden Tag und Nacht fieberhaft an der Arbeit. Und sie demontierten gewissenhaft – bis hin zu den Kanalisationsrohren der W.C's.

Ein Jahr darauf besuchte ich Siemensstadt in Begleitung von Oberst Wassiljew, der die Demontagearbeiten in diesen Werken seinerzeit geleitet hatte. Der Oberst konnte nur den Kopf schütteln: "Wo haben sie bloß die neuen Ausrüstungen hergenommen? Wir haben doch hier erst vor kurzem selbst die Kabel aus den Kabelrohren geholt!" Die deutschen Direktoren in Siemensstadt begrüßten den Oberst höflich als alten Bekannten. "Ah, Herr Oberst! Wie geht's? Haben Sie Bestellungen für uns?" Ohne jegliche Ironie, vollkommen sachlich. Der Wahrheit die Ehre – die Deutschen verstehen es, Höflichkeit und Würde selbst Demönteuren gegenüber zu bewahren.

"Wir bemühen uns, das zu geben, was man von uns verlangt und was wir geben können. Allerdings ist das nur möglich auf Kosten einer inneren Erschöpfung des Betriebes. Dieser interne Prozeß geht vorläufig zwar fast unmerklich vor sich, aber eines schönen Tages wird er zum vollständigen Zusammenbruch führen", setzt der technische Direktor das Gespräch fort.

Ich verstehe ihn. Die Fabriken zehren von ihren "inneren Fettreserven". Auch ohne die radikale Hilfe Dobrowolskijs in Form einer endgültigen Demontage sind die Tage der Werke gezählt. Wie könnte sich auch eine im sowjetischen Sinne "kapitalistische Insel" gegen die Flutwelle einer andrängenden "sozialistischen Umwelt" behaupten? Wenn es so weitergeht, liegt die einzige Chance für ein Weiterbestehen des Betriebes darin, ihn auf eine Art sowjetischer Produktionsmethode umzuschalten. Werden die Erzeugnisse der alten Zeiß- werke aber dann noch die Marke "Zeiß" verdienen?

Ich bitte den technischen Direktor, einen Bericht zu verfassen, in dem die wirtschaftliche Lage der Zeißwerke dargelegt ist. Auf dem Rückwege nach Berlin werde ich diese Papiere abholen. Ich gebe ihm nochmals die Versicherung, daß sein Name im Bericht an Marschall Sokö- lowskij nicht in Erscheinung treten wird. Daraufhin nehme ich noch zwei Doktoren – technische Leiter des Unternehmens – auf ähnliche Art vor. Ich muß mir ein vielseitiges Bild der Lage verschaffen, allerdings besteht kaum ein Unterschied in dem, was ein jeder von ihnen zu sagen hat.

Beim Besuch des Chefs der Wirtschaftsabteilung der Kommandantur Jena erfahre ich einige Einzelheiten über Dobrowolskijs Tätigkeit. Die Kommandantur arbeitet im gegebenen Falle nach beiden Seiten. Bereitwillig half sie Dobrowolskij beim Abschluß der "individuellen Arbeitsverträge" gelegentlich des Abtransports der Zeiß-Fachleute in die Sowjetunion. Und genau so bereitwillig teilt sie dem Vertreter der SMA alle Einzelheiten über diese Sondermaßnahme mit.

Vom Chef der Wirtschaftsabteilung der SMA Thüringen, General Kolesnitschenko, sind außer Beschimpfungen keine neuen Informationen über Dobrowolskij zu bekommen: "Sabotiert in unverschämter Weise die Arbeit der SMA. Pfeift darauf, was aus den Reparationen wird, bloß um sich in Moskau lieb Kind zu machen. So und so viele komplette Ausrüstungen wurden an die Adresse des Ministeriums für Feinmechanik verladen... Ob sie dort überhaupt von Nutzen sind, ist ihm völlig gleich. Jetzt werden dort schon Leute eingesteckt, weil sie mit diesen Ausrüstungen nichts anzufangen wissen."

General Kolesnitschenko hat recht. Viele Demonteure haben für die Demontagen Orden und Auszeichnungen erhalten, und viele von ihnen, mitunter selbst die frischgebackenen Ordensträger, kamen hinter Schloß und Riegel, als man daran ging, die demontierte Ausrüstung in der Sowjetunion wieder aufzubauen.

Zum Beispiel wurde irgendwo eine Serie von hundert automatischen Spezialmaschinen, die der Massenfabrikation eines bestimmten Artikels dienen, demontiert und verladen. Unterwegs erregte eine dieser Spezialmaschinen das Interesse eines anderen Kenners. Sie wird ohne viel Umstände einfach umdirigiert. Als sie am Bestimmungsort eintrifft, muß zum allgemeinen Ärger festgestellt werden, däß ein kleiner Irrtum unterlaufen ist – es ist eine Spezialmaschine, die in dem Werk gar nicht verwendet werden kann. Also wird sie ohne unnötigen Lärm zum Alteisen geworfen. Als man nun irgendwo an anderer Stelle mit der Montage der Serie beginnt, stellt sich heraus, daß eine der Maschinen fehlt. Ohne diese eine Maschine ist aber die gesamte Serie unbrauchbar. Einen Ersatz für die fehlende Spezialmaschine zu finden, ist aussichtslos. Und die neunundneunzig übrigen gehen den gleichen Weg – zum Schrotthaufen. Die gesamte Anlage wird in Rubrik "Kapitalinvestierung" abgeschrieben, während mehrere

Menschen wegen Sabotage vor Gericht gestellt werden.

Wieder durchschneidet der graue BMW die frostklare thüringische Winterluft. Die Emissäre Karlshorst^ ziehen die Bilanz ihrer Arbeit. Das Resultat ist gleichbleibend. Sokolowskij erhält Material für den fälligen Bericht nach Moskau und für weitere Beschuldigungen Do- browolskijs. Die Lage der Dinge wird sich dadurch nicht ändern. Der Kreml weiß, was er braucht.

Major Dubow interessiert sich mehr für die rein technische Seite der Angelegenheit. Unvermittelt fragt er: "Kennst Du eigentlich den Werdegang des Zeißwerkes?"

Ohne meine Antwort abzuwarten, fährt er fort: "Eine ziemlich interessante und eigenartige Sache. Also der alte Zeiß und der wissenschaftliche Begründer der Werke, Professor Ernst Abbe, verwandeln das Werk noch zu seinen Lebzeiten in eine Stiftung. Ein Stiftungsstatut legte die Verwaltung der Werke genau fest; das obere Verwaltungsorgan bestand aus Vertretern der städtischen Selbstverwaltung und aus Vertretern der Zeißwerke. Das Land Thüringen stellte den Stiftungskommissar. Eine Art freiwilliger Sozialisierung des Werkes ohne die Nachteile eines staatskapitalistischen Unternehmens. Die Erträge haben sehr viel zum materiellen und zum kulturellen Wohl der Stadt Jena beigetragen. Und das ist es ja, worauf wir später gekommen sind, wenn auch in einer anderen Form." "Außerdem", Major Dubow schaut aus dem Fenster und sagt anscheinend ganz nebenbei: "Außerdem haben sämtliche Arbeiter und Angestellte des Betriebes entsprechend dem Testament der Gründer Anteil am Gewinn. Das ist das, was nach unserer Theorie in der idealen sozialistischen Gesellschaft sein muß. Bei Zeiß ist es seit Jahrzehnten und bis auf den heutigen Tag der Fall."

Unser Fahrer Wassilij Iwanowitsch, dessen Vorhandensein wir manchmal vergessen, schiebt seinen Hut in den Nacken und fügt hinzu: "Nicht ist, sondern war... Solange, bis wir hier erschienen."


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