Gregory Klimow. Berliner Kreml. Kapitel 11

König Atom

1

"Siemens in Arnstadt – untersteht das Werk Ihnen?"

"Ja."

"Lesen Sie!"

Der Chef der Verwaltung für Industrie reicht mir ein durch einen roten Querstreifen als geheim gekennzeichnetes Chiffre-Telegramm. Darin heißt es: "Elektronen-Meßgeräte entdeckt. Verwendungszweck unbekannt. Vermute Atomforschung. Erwarte Instruktionen. Was-siljew."

Oberst Wassiljew ist der SMA-Bevollmächtigte bei den Siemenswerken in Arnstadt und gleichzeitig Direktor des wissenschaftlichen Forschungsinstitutes für Fernsehtechnik, das diesen Werken angeschlossen ist. Wassiljew ist ein erfahrener und zuverlässiger Mann. Wenn er das Wort "Atom" erwähnt, tut er es sicher nicht ohne Veranlassung.

Ich halte das Telegramm in der Hand und warte, was Alexandrow dazu sagen wird.

"Wir müssen jemanden hinschicken. Da die Fabrik Ihnen untersteht, wird es das Beste sein, Sie fahren selbst", erklärt er.

"Es wäre gut, jemanden aus der Abteilung Wissenschaft und Technik mitzunehmen", sage ich.

Eine halbe Stunde darauf fährt der stellvertretende Chef der Abteilung Wissenschaft und Technik, Major Popow, mit mir von Karlshorst ab in Richtung Thüringen. Nach mehrstündiger Fahrt erreichen wir Arnstadt. Obwohl es schon nahe an Mitternacht ist, begeben wir uns unverzüglich in die Wohnung Oberst Wassiljews, der in einem Häuschen direkt gegenüber der Fabrik wohnt. Wassiljew, dem unser Besuch telefonisch angekündigt war, erwartet uns mit seinem Mitarbeiter.

"Was ist das für eine Entdeckung, die Sie da gemacht haben, Genosse Oberst?" fragt Major Popow.

"Gehen wir gleich in die Fabrik – sehen Sie selbst", sagt Wassiljew kurz und fordert uns auf, ihm zu folgen.

Wir gehen, begleitet von dem Kommandoführer der Fabrikwache, in der Dunkelheit, die nur vom Schein unserer Taschenlampen durchbrochen wird, an ausgedehnten Werksanlagen vorbei. Am anderen Ende des Fabrikhofes, wo sich die Rohstofflager und die Lagerräume für die Fertigproduktion befinden, hält uns der Anruf eines Postens auf. Im Gebäude selbst stoßen wir vor einer versiegelten Tür auf einen zweiten, mit einer Maschinenpistole ausgerüsteten Posten. Nachdem das Siegel entfernt ist, betreten wir ein riesiges Packhaus, vollgestopft mit halbmontierten Magnetstationen, Schalttafeln und unbrauchbar gewordener Radioapparatur für militärische Zwecke. Auf Lager rostende, unvollendete Kriegsproduktion – ein Bild, das für alle deutschen Fabriken der Nachkriegszeit charakteristisch ist. Oberst Wassiljew bleibt vor einigen großen länglichen Holzkisten stehen. Sorgfältig verpackt und von Spezialklammern gehalten, blitzen uns aus den Kisten große Glasgeräte mit kugelförmigen Ausbuchtungen im Mittelteil entgegen. Sie erinnern an gewöhnliche Kathodenröhren von Oszillographen, sind aber um ein Vielfaches größer. Es ist nicht schwer zu erraten, daß die rätselhaften Geräte elektrischen Messungen dienen. Die Isolierung läßt erkennen, daß sie für Hochspannungen von kolossalen Ausmaßen berechnet sind. Solche Spannungen und Magnetfelder werden bei den Experimenten zur Spaltung des Atomkerns in den Zyklotronen verwendet.

An einem Gerät ist eine besondere Vorrichtung angebracht, die eine Fotogramm-Aufnahme dieses Prozesses ermöglichen soll. Was für sagenhafte elektromagnetische Felder soll dieses Gerät registrieren? Nach der Konstruktion zu urteilen, sind diese Geräte nicht für eine dauernd gleichmäßige, sondern für eine schlagartig erfolgende Belastung bestimmt. Eine Entladung des Zyklotrons?!

Die Kisten sind mit der Aufschrift: "Vorsicht, Glas!" versehen. Dagegen suchen wir vergebens nach einem Vermerk über Absender oder Empfänger der Kisten. Statt dessen tragen sie nur nichtssagende Zahlen- und Buchstabenreihen.

"Wie sind diese Dinge hierhergekommen?" frage ich Oberst Wassiljew. "In Ihrem Werk können sie doch nicht hergestellt sein."

Der Oberst zuckt nur die Schultern.

Am Morgen des folgenden Tages stellen wir eine offizielle Untersuchung an. In Wassiljews Arbeitszimmer erscheinen nach und nach alle Leute, von denen anzunehmen ist, daß sie Aussagen über die geheimnisvollen Kisten im Packhaus machen können. Sie alle, angefangen vom Lagerarbeiter bis zu den technischen Direktoren der Fabrik, werden eingehend verhört. Die Lagerarbeiter wissen nichts, da die Kisten seit ihrer Einlieferung in das Lager nicht geöffnet wurden. Die technischen Leiter erklären, daß die betreffenden Geräte nicht in Arnstadt hergestellt, sondern vielmehr zusammen mit anderem ausgelagertem Material der Telefunken- und Siemens-Hauptwerke aus Berlin gekommen seien. Wir überzeugen uns, daß sie nicht einmal genau wissen, um welche Geräte es sich handelt. Wir unsererseits erwähnen unsere Vermutungen mit keinem Wort.

Ohne die SMA-Thüringen in die Sache einzuschalten, schicken wir ein Chiffre-Telegramm direkt nach Karlshorst und erbitten Unterstützung durch Fachleute der Sondergruppe. Die Sondergruppe ist die höchste sowjetische Instanz für wissenschaftliche Forschungen in Deutschland und gehört der Abteilung Wissenschaft und Technik des MWD in Potsdam an. Sie hat Vollmacht, sich nötigenfalls augenblicklich mit sämtlichen wissenschaftlichen Forschungsinstituten der Sowjetunion in Verbindung zu setzen.

In Erwartung der Fachleute der Sondergruppe überlegen wir uns noch einmal die Ergebnisse unserer Untersuchung und beratschlagen über die weiteren Möglichkeiten.

Daß die geheimnisvolle Apparatur sich bei Siemens auf Lager befindet, ist an sidi nichts Außergewöhnliches. In den letzten Kriegsjahren haben alle großen deutschen Betriebe ihre Industrien in der Regel verlagert und Filialen und Niederlagen in Gebieten eingerichtet, die weniger luftgefährdet waren. Unmittelbar vor der Kapitulation wurden die wertvollsten Einrichtungen und Rohstoffbestände in geheime Lager in die verlassensten Winkel Deutschlands geschafft. Wir stießen häufig auf die interessantesten Überraschungen an den unerwartetsten Orten.

Für uns ist es wichtig festzustellen, wer diese Geräte bestellt hatte und für wen sie bestimmt waren. Um das zu erfahren, mußten wir herausbekommen, wo sie hergestellt waren. Als Hersteller kam nur eine recht begrenzte Zahl deutscher Betriebe in Frage. Die wichtigste Anlage dieser Art befindet sich in Siemensstadt im englischen Sektor Berlins, d. h. außerhalb unserer Reichweite. Wenigstens offiziell. Dafür aber befinden sich die Telefunken-Werke Erfurt in unmittelbarer Nähe, die große Senderöhren für Rundfunkstationen fabrizieren. Telefunken-Erfurt ist durchaus imstande, einen solchen Auftrag auszuführen. Außerdem stehen die technischen Direktoren in Erfurt in ständiger Geschäftsverbindung mit Siemensstadt und sind über alles, was in den anderen Werken des Telefunken-Konzems vor sich geht, genau im Bilde. Dort müssen die Fäden zu finden sein, die zu der geheimnisvollen Apparatur in den Siemens-Lagern führen.

Wir beschließen, daß Oberst Wassiljew die Ankunft der Fachleute der Sondergruppe in Arnstadt erwarten wird, während Major Popow und ich inzwischen die Telefunken-Werke in Erfurt besuchen.

Da wir uns telefonisch angemeldet haben, erwarten uns die SMA- Kontrolloffiziere der Telefunken-Werke Erfurt, Oberstleutnant Jew- tichow und Leutnant Nowikow, im ehemaligen Arbeitszimmer des Direktors. Als sie den Grund unseres Besuches erfahren, atmen sie erleichtert auf. Offenbar haben sie eine der üblichen Revisionen erwartet, von denen sie infolge chronischer Nichterfüllung des Produktionsplanes und der Reparationslieferungen häufig heimgesucht werden. Nachdem wir Oberstleutnant Jewtichow erklären, daß wir uns nicht für die ungenügende Produktion von Wolfram- und Molybdän- Draht interessieren, sondern für eine Kathoden-Apparatur, ist er mit Feuereifer dabei, uns bei unserer Suche behilflich zu sein. Wir verhören nacheinander alle Ingenieure, die in der Abteilung für Senderöhren arbeiten. Und hier stoßen wir auf einige wesentliche Spuren. Ja, kurz vor der Kapitulation wurden hier Spezialaufträge, deren Zweck unbekannt war, ausgeführt – riesige Elektroden und Einzelteile völlig neuartiger Konstruktion. Die Konstruktionspläne kamen aus Berlin. Die hier fabrizierten Einzelteile wurden wiederum nach Berlin verfrachtet, wo offenbar die Montage erfolgte. Die Arbeiten wurden streng geheimgehalten. Als wir immer wieder hartnäckig nach der Herkunft der Konstruktionsskizzen und dem Auftraggeber forschen, sagt der technische Leiter der Abteilung für Senderöhren schließlich unsicher: "Berlin-Dahlem... nehme ich an..."

Das genügt uns. In Berlin-Dahlem befanden sich während des Krieges die Geheimlaboratorien für Atomphysik, die auf besondere Verfügung an der Spaltung des Atomkerns arbeiteten.

"Da es ein spezifischer Sonderauftrag war, mußten sicher besondere Vorrichtungen und Instrumente für seine Erfüllung vorhanden gewesen sein. Sind sie noch da?" fragen wir.

"Ja... Wenn sie nicht in den Tagen des Zusammenbruches verschwunden sind", erwidert der technische Leiter mit der gleichen Unsicherheit.

In diesem Augenblick kommt ein Telefonanruf aus Arnstadt; Oberst Wassiljew berichtet, daß die Experten der Sondergruppe eingetroffen sind. Da ich die außergewöhnliche Faulheit Oberstleutnant Jew- tichows kenne, bitte ich Leutnant Nowikow, sofort zuverlässige Leute zu beauftragen, gründlich nach allem zu forschen, was nur irgendwie mit dem geheimnisvollen Auftrag Zusammenhängen könnte, eventuelle Funde unter Verschluß zu nehmen und militärisch bewachen zu lassen. Während Leutnant Nowikow – ein energischer und fähiger Ingenieur, der in der Folge, nach der Umwandlung von Telefunken-Erfurt in eine Sowjet-AG, auf den Posten des Chefingenieurs dieser Fabrik berufen wurde – die Untersuchung abschließt, fahren Major Popow und ich nach Arnstadt zurück.

Im Arbeitszimmer Wassiljews treffen wir eine Gruppe von Leuten an, denen man sofort ansieht, daß sie Wissenschaftler und in Laboratorien und Forschungs-Büros zu Hause sind. Einige schweigsame Männer in Zivil begleiten sie unablässig als stumme Schatten. Sie beteiligen sich nicht an den Gesprächen über technische Fragen und halten sich überhaupt im Hintergrund. Zur gleichen Zeit spürt man aber, daß sie die wahren Herren der Lage sind. Es sind – die Schatten des MWD.

Die Experten der Sondergruppe haben sich die geheimnisvollen Apparaturen im Packhaus bereits angesehen. Wir begreifen auch ohne Frage, daß sie unsere Vermutungen teilen.

Major Popow berichtet über die Ereignisse unserer Fahrt zum Telefun- ken-Werk Erfurt. Es macht auf uns einen unangenehmen Eindruck, daß unser Bericht den Charakter eines Verhörs anzunehmen beginnt. Als argwöhnten die Schatten des MWD, wir könnten etwas verheimlichen. Das MWD wendet selbst im Umgang mit Sowjetoffizieren seine ganz besonderen Methoden an. Die Gesichter sind völlig ausdruckslos, jedes Wort wird von einer Stenotypistin protokolliert. Den ganzen Tag über gehen die eingehenden Verhöre der technischeh Siemens-Angestellten weiter. Jeder Vernommene muß sich schriftlich zu strengstem Stillschweigen verpflichten; Verletzung der Schweigepflicht zieht schwerste Strafen nach sich. Gegen Abend werden die geheimnisvollen Geräte unter außerordentlichen Vorsichtsmaßnahmen und verstärkter Bewachung nach Berlin abtransportiert.

In mehreren Autos begibt sich die Kommission der Sondergruppe in Begleitung von Major Popow und mir nach Erfurt. Oberstleutnant Jewtichow hat Befehl erhalten, niemanden aus der Fabrik hinauszulassen, der für die Untersuchung gebraucht wird.

Die ganze Nacht hindurch dauern die Verhöre an. Die schweigsamen Männer mit den bleichen Gesichtern scheinen keinen großen Unterschied zwischen Tag und Nacht zu kennen. Die Verhöre finden in Jewtichows Arbeitszimmer statt, aber er selbst sowie Major Popow und ich verbringen die Nacht im Nebenzimmer. Von Zeit zu Zeit wird einer von uns in das Vernehmungszimmer gerufen, um irgendwelche Tatsachen zu bestätigen oder Auskünfte zu geben, da wir mit den Angelegenheiten der Telefunken-Werke besser vertraut sind. Die nächtlichen Verhöre erbrachten den Vertretern der Sondergruppe außer einer Menge anderen Materials auch eine ganze Reihe von Namen deutscher Gelehrter und Ingenieure, die unmittelbar mit der Erfüllung des geheimnisvollen Auftrages zu tun hatten. Von neuem ergeben sich Fäden zum Kaiser-Wilhelm-Institut und den Geheimlaboratorien für Atomphysik in Berlin-Dahlem.

Berlin-Dahlem war das Stabsquartier der deutschen Atomforschung, an der die Deutschen in den letzten Kriegsjahren beharrlich arbeiteten. Doktor Otto Hahn, ein Schüler Max Plancks, war einer der führenden deutschen Atomphysiker.

Eine Reihe deutscher Wissenschaftler, die in den Laboratorien Dr. Hahns gearbeitet hatten, gerieten nach der Kapitulation den Sowjetbehörden in die Hände und wurden in die Sowjetunion gebracht, wo man ihnen alle Möglichkeiten für die Fortsetzung ihrer Forschungstätigkeit zur Verfügung stellte. Bekannte deutsche Atomwissenschaftler, wie Professor Herz und Doktor Arden, arbeiten heute in wissenschaftlichen Forschungsinstituten der Sowjetunion, die sich mit den Problemen der Atomforschung befassen und der Leitung Professor Kapizas unterstehen, der gleichzeitig Chef der Hauptverwaltung für wissenschaftliche Forschungseinrichtungen beim Ministerium für Sonderwaffen ist.

In den letzten Kriegsmonaten verfügten die Deutschen bereits über Zyklotronen-Einriditungen, wie sie für die Atomspaltung notwendig sind. Aber die katastrophale Lage an der Front und die Zerstörung der deutschen Werke in Norwegen, in denen das für die Experimente mit den Zyklotronen nötige schwere Wasser erzeugt wurde, durch die englische Luftwaffe zwangen die Deutschen, jeden weiteren Versuch aufzugeben, das Geheimnis des Atoms zu lüften. Vor der Kapitulation schafften sie vorsorglich alle Einrichtungen der Atom-Laboratorien an Orte, die ihnen vor dem Zugriff der Sieger sicher zu sein schienen. Die Sowjetseite beauftragte Sondereinheiten ausschließlich mit der Suche nach den deutschen Geheimwaffen, auf die Hitler so große Hoffnungen gesetzt hatte.

Und jetzt befinden wir uns auf den Spuren des vergrabenen Schwertes des Führers.

Im Laufe der folgenden Monate werden alle, die irgendwie mit der Entdeckung in Arnstadt zu tun haben, noch einige Male nach Potsdam-Babelsberg, dem Sitz der Sondergruppe, geladen. Die Sache hat breite Kreise gezogen. In den Händen der Sondergruppe befinden sich, niemand weiß woher und wieso, wertvolle Hinweise sowohl deutscher Wissenschaftler, die gegenwärtig in der Sowjetunion arbeiten, als auch solcher, die ihren Wohnsitz in den Westzonen Deutschlands haben. Manchmal ist man unwillkürlich begeistert von der Prägnanz und Schnelligkeit, mit der das MWD arbeitet. Nicht umsonst hat man das verantwortungsvollste Gebiet der wissenschaftlichen Forschung dem MWD anvertraut.

Während die Sondergruppe das Knäuel des Arnstädter Rätsels entwirrte, machte die SMA eine zweite wichtige Entdeckung. Oberst Kondakow erhielt aus Weimar ein Telegramm folgenden Inhalts: "Die Gruppe Lewkowitsch hat ein Geheimlager von Geräten entdeckt, deren Zweckbestimmung unbekannt ist. Erbitte umgehende Abstellung von Experten Ihrer Abteilung. Susslow."

Ähnliche Entdeckungen gehörten nicht zu den Seltenheiten. Die De- monteure stießen mehr als einmal auf Doppelwände, zwischen denen Spezialmaschinen eingemauert waren. Daraufhin wurde ein Rundschreiben mit dem Befehl in Umlauf gesetzt, alle Wände der zu demontierenden Betriebe abzuklopfen, überdies machten sich die Demon- teure systematisch auf die Suche nach Einrichtungen, die unmittelbar vor der Kapitulation aus den Fabriken evakuiert worden waren. Die vorliegende Depesche betraf offenbar eine ähnliche Entdeckung. Oberst Lewkowitsch ist der Chef der in Thüringen operierenden Demontage-Gruppe. Hauptmann Susslow – der SMA-Bevollmächtigte der Abteilung Wissenschaft und Technik für Thüringen.

Oberst Kondakow stellte umgehend zwei Mitarbeiter seiner Abteilung aus Karlshorst ab. Diese fanden in den verlassenen Stollen eines im Walde versteckten, unvollendet gebliebenen unterirdischen Werkes sorgfältig verpackte Apparate, die das Interesse Oberst Lewkowitschs erweckt hatten. Ihrem Aussehen nach glichen die geheimnisvollen Apparate kollossalen Spannungs-Transformatoren oder voltstarken Entladern, wie sie in Laboratorien für die Erforschung von Hochspannungen benutzt werden. Besonders auffallend waren die überdimensionalen Ausmaße der Apparate und insbesondere der für hohe Voltspannungen bestimmten Isolationen. Die Geräte waren für Arbeitsbedingungen unter so hohen Stromspannungen berechnet, wie sie bisher in der Industrie nicht zur Anwendung kamen. Das ließ darauf schließen, daß die Apparatur für Laboratorien bestimmt war. Für welche Untersuchungen? Obwohl die Experten von Karlshorst noch niemals mit Zyklotronen zu tun hatten, kamen sie sofort auf den Gedanken – Atom!

Die Experten Oberst Kondakows forderten telefonisch umgehend Fachleute der Sondergruppe an. Nach wenigen Stunden schon traf ein Auto aus Babelsberg an der Fundstelle ein. Ihm folgte ein zweiter Wagen mit einer Abteilung Soldaten in grünen Mützen – Spezialtruppen des MWD. Den Fachleuten der Sondergruppe genügte ein Blick, um sich von der Bedeutung der unterirdischen Entdeckung zu überzeugen.

Ein Chiffretelegramm adressiert an General Paschtschin im Ministerium für Sonderwaffen, flog nach Moskau. Am folgenden Tage traf aus Moskau eine Gruppe von MWD-Experten ein, die die weitere Sorge um die aufgefundenen Geräte übernahm.

Sobald die Leute aus Moskau eintrafen, wurde der Fundort mehrere Kilometer im Umkreis von MWD-Wachen abgesperrt. Weder die SMA-Leute aus Karlshorst noch die Sondergruppe aus Babelsberg durften von da ab dieses abgesperrte Gebiet betreten, bis die ganze Apparatur nach der Sowjetunion abtransportiert war.

Später wurden Einzelheiten über die in Thüringen aufgefundene Atomapparatur und deren wissenschaftliche Bedeutung bekannt. Technisch stellte der Fund für die sowjetischen Wissenschaftler nichts Neues dar. Ähnliche Geräte wurden in den Leningrader Laboratorien des Akademiemitglieds Professor Kapiza (Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR) bereits kurz vor Ausbruch des Krieges konstruiert.

Aus den Erklärungen des Chefs der SMA-Abteilung Wissenschaft und Technik, Oberst Kondakow, ging hervor, daß wir keinerlei wichtige Neuerungen auf dem Gebiet der Atomforschung in Deutschland entdeckt hatten. Während des Krieges hatte Deutschland mangels technischer Voraussetzungen nicht die Möglichkeit, diese Forschungen in großem Maßstab weiterzuführen. Sogar für ein technisch so hochentwickeltes Land wie Deutschland war diese Aufgabe unter den gegebenen Umständen einfach nicht zu lösen. Die rein wissenschaftlich-theoretische Seite des Atom-Problems aber ist bereits seit längerer Zeit den Wissenschaftlern vieler Länder bekannt. Wie seltsam das auch scheinen mag – die Lösung des Atomgeheimnisses scheiterte hauptsächlich an technischen Hindernissen, vor allem an der Unmöglichkeit, die für die Spaltung des Atomkerns und den Beginn der Kettenreaktion notwendigen riesigen Kraftanlagen und Energiequellen bereitzustellen.

Sowjetische Wissenschaftler behaupteten, daß das in der Sowjetunion kurz vor Ausbruch des Krieges ausgearbeitete Projekt des gigantischen Kraftzentrums, das sogenannte "Große Wolga-Projekt" mit seinem System von Wasserkraftwerken, nahe Kuibyschew, aus der Erwägung heraus geschaffen wurde, das im Ural vorgesehene Zentrum der sowjetischen Atomforschung mit entsprechender Elektroenergie zu versorgen. Man zog Parallelen zu dem amerikanischen Atomforschungszentrum in Oak Ridge, dem Kraftzentrum Tennessy- Project und dem unweit davon in den Schluchten von Colorado befindlichen größten Wasserkraftwerk Big Slave.

Auffallend ist der Unterschied in der Berichterstattung der sowjetischen und ausländischen Presse, der bei der Behandlung des Atomproblems ganz besonders kraß zutage tritt. Wir Sowjetmenschen, die wir an der Grenze zweier Welten stehen, erkennen das klarer als irgend jemand anders. Wenn die Sowjetpresse übertrieben schweigsam ist, so ist die Auslandspresse dafür um so marktschreierischer. In dieser Hinsicht gemahnt sie an eine Frau, die beim Anblick einer Maus hysterische Anfälle bekommt.

Das übertriebene Geschrei um die Atombombe soll vor allem die eigene Furcht übertönen und ist ein Zeichen mangelnden Wirklichkeitsinns. Letzten Endes kann die Atombombe nicht das Schicksal der Welt entscheiden. Der Mensch hat die Atombombe erzeugt, und der Mensch wird immer stärker sein als das Atom.

"Verrückt, wieviel Lärm hier um die Atombombe erhoben wird", sagte Oberst Kondakow einmal.

"Ja, und die Nachrichten stammen immer aus .zuverlässigen Quellen' ", schmunzelt sein Mitarbeiter, Major Popow. "Einmal aus Kreisen, die Karlshorst nahestehen, ein andermal wieder direkt aus Moskau. Anscheinend halten diese Leute mit Stalin persönlich telefonische Plauderstündchen ab."

"Tatsächlich, die ausländischen Zeitungen wissen mehr, als wir selbst", seufzt der Oberst, "die Jagd nach Sensationen..."

Oberst Kondakows Worte charakterisieren die Stellung der verantwortlichen Sowjetbeamten. Jeder von uns weiß nur genau so viel, wieviel er zur Erfüllung seiner eigenen Aufgaben unbedingt wissen muß. überdies geben sich die meisten große Mühe, möglichst wenig zu wissen. Deshalb sind die in der Auslandspresse veröffentlichten Meldungen "aus zuverlässiger Quelle" zum mindesten nicht ernst zu nehmen. Wenn man auch nur ungefähr mit der Lage der Dinge vertraut ist, begreift man ohne weiteres, daß die zitierten "Quellen" all das, was man ihnen in den Mund legt, gar nicht wissen konnten. Während die Welt vom Atomfieber geschüttelt wird, geht das Leben bei uns seinen gewohnten Gang. Die Jagd nach dem Atom erinnert mich an eine verhältnismäßig unwichtige aber bezeichnende Begebenheit unseres Alltags.

Kurz nach meiner Rückkehr von der Jagd nach dem Atom in Thüringen erhielt ich von der Verwaltung für Reparationen einen Aktendeckel mit Skizzen. Den Skizzen lag ein Begleitschreiben bei: "Wir übersenden Ihnen in der Anlage das Typenprojekt eines Standardhauses – Cottage – für Arbeitersiedlungen der Sowjetunion laut Reparationsauftrag Nr.... Wir bitten, die Elektroanlagen des betreffenden Projektes zu überprüfen und zu bestätigen. Ferner bitten wir, eine Gesamtaufstellung der Elektroanlagen für insgesamt 120.000 Häuser fertigzustellen und gleichzeitig mitzuteilen, welche Fabriken in der Lage sind, einen entsprechenden Auftrag auszuführen. Der Chef der Abteilung Elektroindustrie der Verwaltung für Reparation, Petrow."

Die Skizzen enthielten den Bauplan eines gewöhnlichen deutschen Einfamilienhauses, bestehend aus drei Zimmern, Küche, Badezimmer und Toilette. Das Kellergeschoß enthielt außer dem Kohlenkeller eine Waschküche.

Wir betrachteten die Skizzen neugierig. "Seht ihr, wenn wir nach Rußland zurückkehren, bekommen wir auch so ein Häuschen", bemerkte einer der anwesenden Ingenieure.

Die Elektroanlagen des Bauplanes wurden überprüft, das Projekt gebilligt und von der Verwaltung für Reparationen zur endgültigen Bestätigung nach Moskau geschickt.

Wellig später befand sich das Projekt wieder auf meinem Schreibtisch. Der Begleitbrief lautete: "Auf Anordnung des Ministeriums für Bauindustrie der UdSSR bitte ich, die notwendigen Veränderungen in der Berechnung vorzunehmen. Petrow."

Ich entrollte die Skizzen, neugierig, welche Verbesserungen uns Moskau diktiert. Als erstes wird die Waschküche im Keller liquidiert. Nach Ansicht des Ministeriums kann die Wäsche ebensogut in der Küche gewaschen werden. An zweiter Stelle wird die Veranda liquidiert. Durchaus verständlich. Damit die Menschen durch die Veranda nicht allzusehr zum Nichtstun verleitet werden.

Nach Eintragung der Veränderungen geht das Projekt erneut zur Bestätigung nach Moskau. Einige Wochen darauf fand ich den unglückseligen Aktendeckel wieder auf meinem Schreibtisch, diesmal mit dem lakonischen Vermerk: "Erbitte Eintragung der entsprechenden Veränderungen. Petrow."

Und dieses Mal waren die Veränderungen radikal. Ohne Erklärung waren Badezimmer und Toilette fortgelassen. In den Arbeitersiedlungen gibt es öffentliche Badeanstalten. Wozu also Badezimmer in jedem Haus? Das ist durchaus einleuchtend. Und die Toilette? Offenbar waren die Moskauer Führer der Ansicht: wozu Toiletten, solange es noch Gebüsche gibt..?

Der Plan für die -Elektroanlagen war über und über mit dicken rotgemalten Fragezeichen versehen. Im Schlafzimmer befanden sich die Fragezeichen neben den Steckdosen, den dazugehörigen Nachttischlampen und der Schaltschnur, die dazu bestimmt war, vom Bett aus bedient zu werden. Anscheinend konnte der gute Onkel in Moskau nicht begreifen, wozu diese Dinge da sind. Und wenn er es wußte, wollte er wohl seiner Meinung Ausdruck geben, daß ein solcher Luxus in Arbeiterhäusern fehl am Platze sei.

Die 120.000 Arbeitersiedlungshäuser waren nach sowjetischer Manier umgemodelt. Aus den Cottages waren gewöhnliche Hütten geworden. Das endgültig "modernisierte" Projekt diente den Ingenieuren der Verwaltung für Industrie anschließend als Zielscheibe bissiger Witze. Die Leute schüttelten den Kopf und schwiegen. Niemand äußerte mehr den Wunsch, in einem solchen Haus zu leben.

Ein Viertel bis ein Drittel des Budgets für den laufenden Nachkriegs- Fünfjahrplan, der unter dem Motto "Wiedererrichtung der sowjetischen Volkswirtschaft" steht, das sind ungefähr 60 Milliarden Rubel, fallen direkt oder indirekt dem Atom zum Opfer. Und wenn ein Mensch, die Krone der Schöpfung und der Schöpfer der Atombombe, einmal ein menschliches Rühren fühlt...warum soll er nicht einfach ins Gebüsch laufen? Wenn es doch das Staatsinteresse erfordert!

2.

Im Hochsommer trafen in Karlshorst Kommissionen verschiedener Ministerien (Im Frühjahr 1946 wurden die Volkskommissariate in Ministerien umbenannt) aus Moskau ein, um an Ort und Stelle die Möglichkeiten zu prüfen, Reparationsaufträge zu verteilen und die in den deutschen Industriebetrieben lagernde Fertigproduktion auszuwerten.

Die Vertreter des sowjetischen Ministeriums für Schiffbau baten midi, mit ihnen durch die einzelnen Provinzen der Sowjetzone zu fahren, um die Situation in den mir unterstellten Betrieben an Ort und Stelle zu studieren. Am nächsten Tage fuhren Oberst Bykow, Fregattenkapitän Fedorow und ich aus Karlshorst in Richtung Weimar ab. Unterwegs lernte ich meine Reisekameraden näher kennen. Beide waren ausnehmend angenehme Menschen. Im Verkehr miteinander und auch mit mir benutzten sie Vor- und Vatersnamen, ganz entgegen den militärischen Gepflogenheiten und den Vorschriften des Reglements. Sie waren keine Berufsoffiziere, sondern Ingenieure. Das ist ein großer Unterschied im intellektuellen Zensus der Militärdienstpflichtigen. Außerdem waren sie Offiziere der Kriegsmarine. Wer einmal mit Seeleuten zusammengekommen ist, kennt den Unterschied zwischen Kriegsmarine und Armee.

In Erfurt stiegen wir im Hotel "Haus Kossenhaschen" ab, in dem das Stabsquartier der für Thüringen zuständigen Demonteure untergebracht war. Die SMA-Offiziere haben es scherzweise in "Klein- Sownarkom" (Sownarkom = Rat der Volkskommissare) umgetauft.

Wir sitzen in der altertümlichen, mit dunklem Eichenholz ausgelegten Halle des besten Erfurter Hotels in Erwartung des Mittagessens, plaudern und beobachten das Leben um uns her. Ich bin schon mehrfach hier gewesen, so daß sich mir nicht viel Neues bietet. Meine Begleiter dagegen, die erst vor wenigen Tagen aus Moskau gekommen sind, interessieren sich lebhaft für alle Einzelheiten.

"Sagen Sie, Gregory Petrowitsch, was ist eigentlich los – wird hier eine Nordpolexpedition vorbereitet?" fragt Oberst Bykow halblaut, indem er sich zu mir herüberbeugt.

Diese seltsame Frage ist dadurch begründet, daß ausnahmslos alle geschäftig hin- und hereilenden Demonteure riesengroße Pelzstiefel aus Renntierfell tragen, obwohl draußen wärmstes Sommerwetter herrscht. Zudem trennen sich diese pelzbeschuhten Leute nicht für einen Augenblick von ihren Jagdgewehren, die sie sogar in den Speisesaal mit sich schleppen.

"Nein. Die Demonteure haben nur irgendwo ein Lager deutscher Arktis-Fliegerausrüstungen aufgestöbert. Jetzt machen sie sich ein Vergnügen daraus, die neuen Sachen auszuprobieren", erwidere ich. "Und die Gewehre schleppen sie darum mit sich, weil sie gleich nach dem Mittag auf die Jagd zu gehen pflegen."

"Eine spaßige Gesellschaft!" schüttelt Oberst Bykow den Kopf. "Haben sie hier tatsächlich nichts anderes zu tun?"

"Die Situation ist etwas verwickelt", erläutere ich, "die Hauptdemontage ist längst beendet und die meisten dieser Leute haben absolut nichts mehr zu tun. Aber sie leben hier nicht schlecht und sind nun aus Leibeskräften bemüht, ihre Arbeit in die Länge zu ziehen. Da sie Moskau direkt unterstehen, kann die SMA in dieser Angelegenheit nichts unternehmen."

"Womit beschäftigen sie sich denn jetzt?" fragt Fregattenkapitän Fedorow.

"Sie lassen sich's einfach wohlgehen – auf anderer Leute Kosten", antworte ich. "Vor dem Mittag stöbern sie auf der Suche nach Sachen, mit denen etwas anzufangen ist, in den umliegenden Fabriken herum. Nachmittags gehen sie auf die Jagd. Wer aber auch dazu zu faul ist, der sitzt einfach im Kossenhaschen und trinkt Wodka." "Man hat uns in Berlin erzählt, daß viele sich hier tatsächlich ein Vermögen zugelegt haben. Ein Vermögen, das fürs ganze Leben reicht", sagt Fregattenkapitän Fedorow.

"Kürzlich befaßte sich die SMA-Abteilung für Feinmechanik mit einem solchen Fall", sage ich, "der Direktor des staatlichen Uhrenwerkes Nr. 2 war darin verwickelt. Haben Sie nichts davon gehört?" Meine Begleiter verneinen, und so fahre ich fort: "Dieser Direktor wurde nach Deutschland geschickt, um die hiesige Uhrenindustrie zu demontieren. Kurz nach seiner Rückkehr nach Moskau erfuhr die SMA, daß er sich während seiner Tätigkeit in Deutschland mehrere tausend goldene Uhren und einige Dutzend Kilogramm Gold widerrechtlich angeeignet hat."

"Das reicht in der Tat fürs ganze Leben", sagt Fedorow überzeugt. "Oder auch für ein lebenslängliches .kostenloses Logis'."

"Das glaube ich nun weniger", bemerke ich.

"Wieso nicht?" staunt der Hauptmann.

"Ganz einfach", antwortete ich. "Die Angelegenheit wurde nach oben weitergegeben, um dort – unauffällig vertuscht zu werden."

"Ja, warum denn?" versteht Fregattenkapitän Fedorow noch immer nicht.

"Mir ist das auch ein Rätsel", sage ich. "Man will anscheinend solche Leute nicht kompromittieren. Die schmutzige Wäsche soll – nach dem alten Sprichwort – nicht vor aller Augen gewaschen werden. Das ist nicht der erste derartige Fall."

"Der Kerl hatte aber einen Appetit! Gold mußte er auch noch haben!" empört sich der Oberst. "Und so was nennt sich sowjetischer Fabrikdirektor!"

Unwillkürlich muß ich bitter lächeln. Ich nicke in Richtung der emsig herumlaufenden Demonteure und sage: "Alle, die Sie hier sehen, sind in der Sowjetunion entweder hohe Ministerialbeamte oder Fabrikdirektoren. Und sie alle unterscheiden sich nur wenig von dem Direktor des staatlichen Uhrenwerkes Nr. 2. Sie können sich auf meine Erfahrungen verlassen. Wir bekommen in der SMA immer häufiger und häufiger derartige Anzeigen."

Es entsteht ein peinliches Schweigen. Kurz darauf erscheint ein würdevoller Oberkellner und bittet uns in den Speisesaal.

Zwei Tage lang besuchen wir die Fabriken im Kreis Erfurt. Meine Begleiter haben Sonderaufträge, die sich auf spezielle Elektroappara- turen für Kriegsschiffe und insbesondere für U-Boote beziehen. Man denkt vorerst nicht daran, die Handelsflotte, die während des Krieges größte Verluste erlitten hat, wieder aufzubauen. Die ganze Aufmerksamkeit konzentriert sich auf den Bau von Kriegsschiffen. Und das im Zeichen der "Wiederherstellung der sowjetischen Volkswirtschaft nach dem Kriege".

Unwillkürlich fällt es mir auf, mit welchem Interesse meine Begleiter auf die Dinge reagieren, die um uns her Vorgehen. Ich bin schon über ein Jahr in Deutschland und die Kontraste beeindrucken mich nicht mehr so stark wie anfangs. Ich habe mich an die Dinge gewöhnt, die den Menschen, die erst vor wenigen Tagen aus der Sowjetunion gekommen sind, so interessant erscheinen müssen.

Wir besuchen das Telefunken-Werk, um festzustellen, ob man ihm Reparationsaufträge auf Empfangs- und Sendegeräte für die Kriegsmarine erteilen kann. Wir passieren das Fabriktor und fahren den Weg hinunter, der zum Verwaltungsgebäude führt. Der Oberst, der interessiert aus dem Wagenfenster blickt, ruft plötzlich aus: "Schauen Sie mal, Viktor Stepanowitsch – Tennisplätze!"

Fregattenkapitän Fedorow blickt nun ebenfalls aus dem Fenster. Tatsächlich, da liegen ein paar Tennisplätze, sorgfältig von einem hohen Drahtzaun umgeben. Ringsumher sind Blumenbeete angelegt und eine gartenähnliche Anlage, die zum Ausruhen einladet. All das befindet sich auf dem Fabrikgelände und ist offensichtlich nur für die Angestellten der Fabrik bestimmt.

Der Fregattenkapitän blickt mit staunender Neugier auf die Tennisplätze. Und nicht nur diese trifft sein ungläubiger Blick, sondern auch die grünbestandenen Gartenanlagen und die nahen Fabrikgebäude, als wäre die Tatsache allein, daß sich diese schattigen Anlagen und Tennisplätze gerade hier auf dem Fabrikhof befinden, ganz besonders erstaunlich.

In der Sowjetunion wird dauernd mit großem Lärm verkündet, es sei notwendig, für die Arbeiter Erholungsplätze auf dem Fabrikgelände zu schaffen. Ungeachtet dessen bestehen aber diese "grünen Ecken" der Erholung vornehmlich auf dem Papier, allerhöchstens noch in wenigen Betrieben, die einzig und allein der Schaustellung dienen. Und plötzlich sieht man hier in Deutschland, ohne daß darum Geschrei und Lärm erhoben wird, hinter dem Grün der Bäume und Büsche Dinge auftauchen, die in der Sowjetunion als ausschließliche Errungenschaft des Sowjetsystems gelten. Der aufmerksame Blick des Fregattenkapitän scheint festzustellen: "Diese Plätze sind ja schon längst erbaut worden..."

Unweit der Fabrikverwaltung rosten verwaist mehrere Reihen von Fahrradständern.

"Gregory Petrowitsch", wendet sich der Fregattenkapitän an mich, "wo sind denn die Fahrräder geblieben?"

"Nun, das ist eine mehr als kindliche Frage", entgegne ich, "natürlich in Rußland".

"Ach so, ja...", lächelt Fedorow. "Früher scheint es aber viele gegeben zu haben. Beinahe auf jeden Arbeiter ein Fahrrad."

Nach der Besprechung mit den sowjetischen Kontrolloffizieren und den Vertretern der Telefunken-Direktion, in der wir über die erforderlichen Reparationsaufträge verhandelten, wendet sich Oberst Bykow mit einem unerwarteten Anliegen an mich: "Könnten wir nicht eine kurze Besichtigung der Fabrik arrangieren? Um den Prozeß und die Organisation des Arbeitsganges kennenzulernen."

Der technische Direktor ist gerne bereit, uns den Betrieb zu zeigen. Wir gehen durch alle Produktionsabteilungen, in der Reihenfolge des Arbeitsganges der hier hergestellten Erzeugnisse. In einem riesigen Saal, in dem die Elektroden für Radioröhren aufgespult und montiert werden, sitzen mehrere hundert Mädchen und Frauen an langen Tischen. Der technische Direktor erklärt uns die Einzelheiten des Produktionsprozesses, die seiner Ansicht nach die sowjetischen Ingenieure interessieren müssen.

Oberst Bykow achtet fast gar nicht auf die Worte des technischen Direktors. Er ist ein wenig hinter uns zurückgeblieben und überblickt unauffällig den Arbeitsraum. Seine Augen gleiten langsam über die riesigen Fenster, als schätze er ab, wieviel Lichteinheiten pro Arbeitsplatz zur Verfügung stehen, dann über die hohen Wände, die Decke, und bleiben einen Augenblick auf den gläsernen Zwischenwänden haften, die jeden Arbeitsplatz in eine Art Koje verwandeln, wie sie in gut eingerichteten Lesesälen üblich sind.

Den Oberst interessieren die Betrachtungen über das Prinzip der Herstellung von Radioröhren nicht im geringsten. Statt dessen betrachtet er mit größter Aufmerksamkeit den Arbeitsplatz einer Arbeiterin. Als hohem Ministerialbeamten, Chef einer der Hauptverwaltungen des Ministeriums für Schiffbau, sind ihm die Arbeitsbedingungen in der Sowjetunion zweifellos gut bekannt. Jetzt sieht er etwas, was sein Interesse erweckt. Ich errate seine Gedanken. Er vergleicht im stillen die Arbeitsbedingungen dieses deutschen Be- 1 triebes mit denen der entsprechenden sowjetischen Fabriken.

Beim Verlassen des Arbeitssaales hält Fregattenkapitän Fedorow mich zurück: "Gregory Petrowitsch, wie gefällt Ihnen dieser Stuhl?" Er setzt sich auf einen Stuhl, der sich in nichts von den hunderten Stühlen unterscheidet, auf denen die Arbeiterinnen sitzen. Es ist ein Standardstuhl mit gefederter Rückenlehne und regulierbarer Sitzhöhe. "Was haben Sie an diesem Stuhl entdeckt, Viktor Stepanowitsch?" frage ich.

"Erstens ist der Stuhl bequem", antwortet er, "für einen Arbeiter sogar luxuriös. Zweitens aber – haben Sie darauf geachtet, was für Stühle in der Fabrikverwaltung stehen?"

"Nein, ich habe es nicht bemerkt", bekenne ich.

"Die gleichen Stühle", erklärt der Fregattenkapitän mit leichtem Lächeln, "Direktor und Arbeiter – alle sitzen sie auf den gleichen Stühlen. Die Stühle sind wirklich bequem."

"Das ist hier üblich", sage ich.

"Hm...", schließt Fregattenkapitän Fedorow das Gespräch kurz ab, als wir der inzwischen weitergegangenen Gruppe nacheilen.

Wir betreten die Vakuumabteilung. Hier ist es heiß. Bläuliche Gas- flämmchen züngeln hier und da. Man hört das monotone Zischen entweichender Preßluft.

"Das ist unsere Hauptschwierigkeit", sagt der technische Direktor. "Wir haben ein paar alte Vakuum-Aggregate aufgestellt, aber sie entsprechen nicht mehr den Anforderungen der modernen Technik.

Das ist die Hauptursache der massenweisen Reklamationen seitens der Verwaltung für Reparationen."

"Ja, da ist etwas nicht in Ordnung", gibt Oberst Bykow zu und schaut sich um. Die Vakuumpumpen, die die Luft aus den Radioröhren saugen, stammen offenbar aus einem Altmetall-Lager. Daneben sieht man mehrere leere Beton-Sockel. Aus den Sockeln ragen Leitungsrohre für Gas, Luft und Strom hervor.

"Wo sind die richtigen Aggregate?" fragt Fregattenkapitän Fedorow. "Demontiert. Sie arbeiten jetzt in der Fabrik .Swetlana”)", antworte ich.

Im Laufe seiner Erläuterungen klagt der technische Direktor über die starke Fluktuation der Arbeitskräfte, die sich auf die Qualität der Produktion ungünstig auswirkt.

"Wir lernen die Arbeiter in vier Wochen an”, erzählt er, "viele von ihnen lassen sich, wenn sie eine oder zwei Wochen in der Fabrik gearbeitet haben, nicht mehr sehen. Außerdem versäumen sie sehr oft unentschuldigt die Arbeit."

"Haben Sie denn keine Möglichkeit, dem entgegenzutreten?" fragt der Oberst verwundert, weil er sich die Machtlosigkeit des Direktors gegenüber den Arbeitern nicht erklären kann.

Der Direktor zuckt mit den Schultern. "Ein Arbeiter hat das Recht, drei Tage ohne Attest der Arbeit fernzubleiben", führt er aus. "Im Falle längerer Abwesenheit muß er ein ärztliches Attest über Arbeitsunfähigkeit vorlegen."

"Was unternimmt denn die Direktion gegen die Bummelanten und gegen das Abwandern der Arbeitskräfte?" fragt der Oberst.

"In den Fällen, die ich soeben erwähnt habe, haben wir kein Recht, einen Arbeiter zu entlassen. Und wenn ein Arbeiter seine Stellung kündigen will, haben wir nicht das Recht, ihn zu halten", erwidert der Direktor.

"Ich spreche nicht von Entlassung, sondern darüber, daß man die Arbeiter zwingen muß, zu arbeiten", drängt der Oberst.

Der Direktor schaut ihn verwundert an. "Bitte?!" fragt er verständnislos. Der Oberst wiederholt.

"Wir haben keine gesetzliche Handhabe, einen Arbeiter zur Arbeit zu zwingen. Wir haben lediglich das Recht, Arbeiter die die Arbeitsdisziplin untergraben, zu entlassen", antwortet er schließlich.

Es entsteht eine peinliche Pause. Bei den Deutschen gilt es als schwerste Strafe für einen Arbeiter, entlassen zu werden. In der Sowjetunion bedeutet eine Entlassung für einen Arbeiter häufig einen unerfüllbaren Wunschtraum. Ein sowjetischer Direktor kann über die ihm unterstellten Arbeiter voll und ganz nach seinem Ermessen verfügen – er kann einen Arbeiter auf einen schlechteren und schlechter bezahlten Posten versetzen und kann, oder richtiger muß einen Arbeiter dem Gericht übergeben, wenn dieser auch nur wenige Minuten zu spät an der Arbeitsstelle erscheint. Der Arbeiter dagegen hat nicht einmal das Recht, ohne Einwilligung des Direktors (Eine Glühlampenfabrik in Moskau) seinen Arbeitsplatz zu wechseln. Für willkürliches Verlassen des Arbeitsplatzes drohen Gefängnisstrafen.

Wir sind an eine solche Ordnung gewöhnt und können daher die Hilflosigkeit des deutschen Direktors nicht verstehen. Er seinerseits ist höchst erstaunt über unsere, nach seinen Begriffen, absurden Fragen. Zwei Welten – zwei Systeme.

"Sie sprechen von der Arbeitsgesetzgebung", fährt der Oberst fort. "Sagen Sie uns doch bitte, welche Arbeitsgesetze heutzutage für die Wechselbeziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer gelten? Gesetze aus der Hitlerzeit?"

"In der Hauptsache stammt die deutsche Arbeitsgesetzgebung noch aus der Zeit Bismarcks", antwortet der Direktor. "Wenn man von unbedeutenden Veränderungen absieht, ist sie auch heute noch in Kraft."

"Aus der Zeit Bismarcks?!" fragt Oberst Bykow ungläubig. "Das wären ja schon ungefähr siebzig Jahre?..."

"Ja", sagt der Direktor, und auf seinem Gesicht erscheint zum ersten Male ein leiser Anflug von Stolz. "Die soziale Gesetzgebung Deutschlands gilt als eine der fortschrittlichsten der Welt... Ich meine, Westeuropas", verbessert er sich rasch, als ihm einfällt, daß sowjetische Offiziere vor ihm stehen.

Der Oberst schaut auf den Fregattenkapitän. Der seinerseits wirft mir Blicke zu. Ich bin an diese Art stummer Zwiesprachen bereits gewöhnt. Auf diese Weise reagieren Sowjetmenschen auf Dinge, die sie zwingen, über vieles nachzudenken, was nicht diskutiert werden darf.

Ich benutze die Gelegenheit, da keiner von den Telefunken-Kon- trolloffizieren in der Nähe ist, um den Direktor nach den Ursachen des plötzlichen scharfen Produktionsrückganges seiner Fabrik im letzten Monat zu fragen. Wenn man eine Fabrik zu inspizieren hat, empfiehlt es sich immer, beide Seiten unabhängig voneinander zu Wort kommen zu lassen.

"Die Hauptursache ist der Mangel an Wolfram- und Molybdän- Draht", antwortet der Direktor.

"Gut, aber Ihre Fabrik hat doch vor kurzem ein Kontingent zugeteilt erhalten, das den Produktionsplan für sechs Monate sichert", widerspreche ich. "Haben Sie denn diesen Draht aus Berlin nicht bekommen?"

"Ja, Herr Major, wissen Sie denn nicht...", murmelt der Direktor in größter Verlegenheit. "Hat Herr Nowikow Ihnen denn nicht berichtet..."

"Nein. Was ist denn los?"

Der Direktor windet sich eine Weile förmlich, ehe er antwortet: "Wir brauchten den Draht so dringend, daß wir, ohne die Zustellung per Eisenbahn abzuwarten, extra einen Lastwagen nach Berlin schickten, um ihn abzuholen."

"Nun, und weiter?" frage ich.

"Auf dem Rückweg wurde der Lastwagen angehalten und ausgeraubt..."

"Und der Draht?"

"Herr Major, unsere Leute konnten nichts ausrichten . .

"Und wo ist der Draht?"

"Als unser Lastwagen nachts in die Nähe von Leipzig kam, verlegte ihm ein anderer Lastwagen den Weg, der sich quer über die Fahrbahn gestellt hatte. Mit Maschinenpistolen bewaffnete Leute zwangen unseren Fahrer und den Expedienten auszusteigen, setzten sich selbst ans Steuer und jagten davon. Der Draht..."

"Wer waren die Banditen?" frage ich.

"Die Leute trugen sowjetische Uniformen", antwortet der Direktor nach kurzem Zögern.

Als wir, nachdem wir uns vom Direktor verabschiedet haben, in unseren Wagen steigen, fragt der Fregattenkapitän: "Wer konnte denn nur an dem Lastwagen mit dem Draht Interesse haben? Möglicherweise handelt es sich dabei um einen Diversionsakt, um die Reparationslieferungen zu sabotieren?"

"Wir kennen solche Diversionsakte!" antworte ich. "Den Lastwagen wird man bald im Walde wiederfinden. Mit der Ladung Draht, aber ohne Reifen und ohne Akkumulator. Darauf hofft höchstwahrscheinlich auch Nowikow. Darum wird er bisher auch keine Anzeige erstattet haben."

"Wer befaßt sich denn hier mit solchen Dingen?" fragt der Fregattenkapitän.

"Leben Sie mal eine Zeitlang hier und Sie werden's selbst sehen", weiche ich einer direkten Antwort aus.

Nach unserem Besuch bei Telefunken begeben wir uns in eine Fabrik für Präzisionsmaschinen und Uhren der Firma Thiel. Sie befindet sich in einem kleinen Dörfchen, das wir mit Mühe auf der Landkarte entdeckt haben. In demselben Dörfchen befinden sich noch einige ziemlich große Industriebetriebe, die Elektroarmaturen herstellen. Das Dörfchen liegt langgestreckt in einer schmalen Schlucht, eingeengt zwischen waldbestandenen Bergen. An den Berghängen kleben ordentliche thüringische Häuschen, in grellen Farben gestrichen. Man hätte schwerlich angenommen, daß das malerische Dörfchen eine Arbeitersiedlung ist.

"Das sieht eher nach einem Sanatorium als nach einer Arbeitersiedlung aus", bemerkt Fregattenkapitän Fedorow, und aus seiner Stimme klingt Neid und Bedauern. "Die Arbeiter leben hier wie im Kurort."

Nach unserem Besuch bei den SMA-Kontrolloffizieren, die sich in der Villa eines der Fabrikinhaber einquartiert haben, lacht der Oberst: "Viktor Stepanowitsch, was glauben Sie wohl – wovor haben diese Brüder am meisten Angst?"

"Daß man sie von hier irgendwo anders hinschickt", antwortet der Fregattenkapitän ohne zu überlegen.

Das Wort "irgendwohin" verstehen wir alle auch ohne nähere Erläuterung.

Die Menschen des Westens werden nie erraten, was die Sowjetmenschen, und insbesondere die sowjetischen Ingenieure, bei der ersten Besichtigung einer deutschen Fabrik am meisten in Erstaunen setzt. Die Menschen des Westens werden wohl annehmen, daß die sowjetischen Offiziere mit offenem Mund dastehen, betroffen von den grandiosen Fabrikanlagen, den zahlreichen modernen Maschinen und anderen Errungenschaften der modernen Technik. Nein, diese Zeiten sind längst vorbei. Wenn von dem Umfang der Industriebetriebe und ihrer technischen Ausstattung die Rede ist, so sind es die Menschen des Westens, die in Erstaunen geraten werden, wenn sie sowjetische Fabriken kennen lernen.

Neu sind für uns im Westen nicht die Technik und nicht die Maschinen, sondern die Stellung des Menschen in der Gesellschaft und im Staat. Wir müssen uns davon überzeugen, daß die Menschen des Westens, die Menschen im System der freien Entwicklung der sozialen Verhältnisse, viel größere Rechte und Freiheiten genießen, daß sie einfach viel mehr vom Leben haben, als die Sowjetmenschen der entsprechenden sozialen Schicht.

Nach Erledigung des Besuches in der Fabrik Thiel fahren wir gegen Abend des gleichen Tages unserem nächsten Reiseziel entgegen. In der Nähe von Jena streikt unser Dynamo und die Zündung setzt aus. Um den Akkumulator nicht ganz zu entladen, schalten wir die Scheinwerfer aus und fahren langsam weiter durch die Nacht. An der einen Seite der schmalen Straße erhebt sich ein baumbestandener Steilhang, an der anderen fällt er ab ins bodenlose Dunkel. Fregattenkapitän Fedorow brummt und beschuldigt den Fahrer, einen Matrosen, nachlässig gewesen zu sein. Der Fahrer schweigt, er hat die Hände fest um das Steuerrad geklammert und drückt sein Gesicht nahe an die Windschutzscheibe.

An der gottverlassensten Stelle, inmitten der Dunkelheit und der uns umgebenden Schluchten streikt der Wagen endgültig. Während der Fahrer beim Schein der Taschenlampe den Motor untersucht, steigen wir aus, um uns die Beine zu vertreten.

Da zerreißen plötzlich zwei blendend helle Lichter die Finsternis. Das entgegenkommende Auto bremst scharf vor unserem Wagen und hält. Aus der Dunkelheit ruft eine Stimme auf russisch. "Genossen Offiziere, haben Sie eine Schießerei gehört?"

"Nein", antwortet einer von uns. "Was ist denn los?"

"Ein paar von unseren Leuten waren auf der Jagd und haben einen Kameraden angeschossen. Wir haben einen Arzt geholt. Jetzt können wir den Weg nicht finden."

"Wir scheinen an die richtige Stelle gekommen zu sein", brummt Fedorow, als das Gespensterauto wieder in der Nacht verschwindet. Eine dunkle Gestalt kommt an uns vorüber, ein Fahrrad neben sich herschiebend.

"Wo sind wir hier?" frage ich.

"Bei den Schlössern Goethes", antwortet der Deutsche. "Da direkt über Ihren Köpfen."

"Ist hier irgendwo in der Nähe ein Dorf?"

"Ja, gleich da hinten ist eine Brücke, und hinter der Brücke ein Dorf", antwortet die Stimme.

"Ich kann nichts machen, Genosse Oberst", meldet in diesem Augenblick der Matrose. "Der Wagen muß in die Werkstatt."

"Was sollen wir denn jetzt machen? Im Wagen übernachten am Ende?" ärgern sich meine Begleiter.

"Warum denn das?" sage ich. "Hier ist doch ein Dorf. Da werden wir übernachten."

"Gott bewahre, Gregory Petrowitsch!" rufen die Seeleute entsetzt aus. "Dort gibt es doch sicher weder eine Kommandantur noch ein Hotel für Sowjetoffiziere."

"Das ist ja gerade das Gute daran", antworte ich.

"Nein, nein. Lassen Sie diese Scherze", entgegnen meine Begleiter. "Wir sind noch nicht lebensmüde."

"Was hat denn das damit zu tun?" staune ich.

"Ja, haben Sie denn vergessen, wo wir uns befinden? Es vergeht doch kein Tag, ohne daß ein Mord passiert. Sie haben doch eben selbst gehört, daß da einer angeschossen wurde."

"Ach, das waren doch unsere eigenen Leute", sage ich. "Da ist es kein Wunder, wenn sie sich gegenseitig anschießen."

"Gregory Petrowitsch, man hat uns dauernd eingetrichtert, wir sollten vorsichtig sein. Man hat uns sogar empfohlen, den Fahrer nachts nicht im Wagen übernachten zu lassen, da er sonst ermordet werden könnte. Hier passiert doch dauernd was... Na, Sie wissen doch selbst, was hier los ist."

"Wo haben Sie sich so etwas erzählen lassen?"

"In Moskau."

Ich kann das Lachen nicht mehr verbeißen. "Nun, wenn man es Ihnen in Moskau erzählt hat, dann kann es schon stimmen. An Ort und Stelle sieht aber alles etwas anders aus. Wir werden auf jeden Fall im Dorf besser schlafen, als in einem Kommandantur-Hotel. Ich stehe Ihnen dafür ein. Außerdem besitzt jeder von uns eine Pistole."

Nach langer Überredung entschließen sich meine Begleiter, das Risiko einer Übernachtung in einem wildfremden deutschen Dorf auf sich zu nehmen. Nachdem der Fahrer den Befehl erhalten hat, im Wagen zu bleiben, machen wir uns auf den Weg.

"Wo sollen wir denn dort schlafen?" fragt der Fregattenkapitän wieder zweifelnd. "Es ist unangenehm, mitten in der Nacht Leute aus dem Schlaf zu reißen und in ihr Haus einzudringen."

"Machen Sie sich darüber keine Sorgen, Viktor Stepanowitsch", übernehme ich die Rolle des Bärenführers, "das erste Haus, das uns in den Weg kommt, wird ein Gasthaus sein, Wollen wir wetten?" "Wollen Sie etwa zaubern, Gregory Petrowitsch? Woher wissen Sie so genau, daß das erste Haus ein Hotel sein wird?" fragt Fregattenkapitän Fedorow. "Wenn Sie Recht haben, trinken wir eine Flasche Cognac."

"Ganz einfach. Wir kommen die Landstraße entlang, und in Deutschland befinden sich die Gasthäuser immer an der Hauptstraße am Eingang und Ausgang des Dorfes. Sehen Sie, wie einfach es für mich war, Ihre Flasche Cognac zu gewinnen?"

"Und trotzdem gefällt mir die ganze Geschichte nicht", seufzt der Fregattenkapitän düster.

Nach etwa zehn Minuten wachsen vor uns aus der Nacht die verschwommenen Umrisse einer Brücke auf. Gleich hinter der Brücke sehen wir schon durch die Spalten der Fensterläden Licht fallen. "Nun, und jetzt schauen Sie einmal, Viktor Stepanowitsch, wer recht hat?" sage ich und lasse das Licht meiner Taschenlampe auf das über der Eingangstür erleuchtete Schild mit dem Bierkrug fallen. "Da haben Sie das Gasthaus."

Wenige Minuten später sitzen wir an einem Tisch im Gastzimmer des ländlichen Wirtshauses. Meine Begleiter werfen mißtrauische Blicke in die Runde, als erwarteten sie jeden Augenblick einen Überfall. Der Raum ist auf thüringische Art ausgeschmückt – schwere geschnitzte Möbel aus dunklem Eichenholz und eine Menge Hirschgeweihe an den Wänden. Auch die Decken- und Wandbeleuchtung ist aus Hirschgeweihen angefertigt. Im Hintergrund des Saales blitzen die verchromten Hähne des Schanktisches. Hinter der Theke lächeln zwei junge Mädchen in weißen Schürzen.

Nachdem wir uns mit dem Wirt über das Nachtquartier geeinigt haben, bestellen wir heißen Kaffee. Aus den Köfferchen, die wir mit uns führen, kommen Brot, Wurst und schließlich eine Flasche Cognac zum Vorschein, die der Fregattenkapitän als "Mittel gegen die Grippe" für alle Fälle mit sich genommen hat.

"Ach, Gregory Petrowitsch, wenn wir auch noch trinken, wird man uns später wie die Wachteln abschlachten", seufzt der Fregattenkapitän tief und bekümmert, während er die Flasche entkorkt. "Nun, Sie werden alles vor Apostel Petrus zu verantworten haben."

"Wenn Sie wollen, werde ich Ihnen mein kleines Geheimnis verraten", sage ich, "dann werden Sie ganz bestimmt ruhig schlafen. Ich befinde mich oft auf Dienstreisen und habe schon mehrere Male ganz Thüringen und Sachsen mit einem vollgeladenen Lastauto bereist. In einem solchen Falle ist die Sache in der Tat nicht ganz harmlos und man muß aufpassen. Und immer, wenn es Abend wurde und man für ein Nachtquartier sorgen mußte... was glauben Sie wohl, was ich getan habe?"

"Na, Sie haben sich natürlich bemüht, irgendwohin zu gelangen, wo es ein Kommandantur-Hotel gab!" antwortet der Fregattenkapitän überzeugt.

"Das habe ich nur das erste Mal gemacht. Das erste und einzige Mal. Nach dieser ersten Erfahrung habe ich immer nach Möglichkeit die Städte gemieden, in denen es eine Kommandantur und eine sowjetische Garnison gibt. Ich bin absichtlich nicht in diese Städte gefahren, sondern habe das erstbeste Dorf gewählt und im erstbesten Gasthaus übernachtet."

"Aber warum denn?" interessiert sich nun auch der Oberst Bykow. "Das ist am sichersten", antworte ich. "In dem einen Jahr meines Aufenthaltes in Deutschland mußte ich dreimal die Pistole ziehen und anlegen... Und in allen drei Fällen handelte es sich um Menschen in Sowjetuniform... Menschen mit räuberischer Absicht", erkläre ich nach kurzer Pause.

"Spannend... pfeift der Fregattenkapitän durch die Zähne.

"Einmal übernachtete ich in einem Offiziers-Hotel in Glauchau", fahre ich fort. "Den Lastwagen stellte ich für alle Fälle direkt unter mein Fenster. Kaum hatte ich mich zu Bett gelegt, als ich auch schon hörte, daß mein Lastauto demontiert wird."

"Lustig...", läßt sich der Oberst vernehmen.

"Mir war gar nicht lustig zumute, als ich mit der Pistole in der Hand und in Unterhosen durch die Straßen hetzte", bemerke ich.

"Wie ging die Sache aus?" fragt Oberst Bykow.

"Ich kriegte zwei sowjetische Leutnants und einen Sergeanten fest. Alarmierte die Kommandantur-Patrouille und ließ sie verhaften. Am folgenden Morgen sagte mir der Stadtkommandant: «Ich glaube Ihnen, Genosse Major, aber die Verhafteten werde ich trotzdem laufen lassen müssen. Ich habe keine Zeit, mich mit solchen Kleinigkeiten zu befassen. Für die Zukunft gebe ich Ihnen einen guten Rat. Warten Sie, bis man Ihren Wagen ausgeraubt hat. Damit Beweismaterial vorhanden ist. Dann schießen Sie die Kerle über den Haufen und darauf erst alarmieren Sie uns. Wir werden ein Protokoll aufstellen und Ihnen dankbar sein. Schade, daß Sie dieses Mal so übereifrig waren»."

In diesem Augenblick betritt eine elegante junge Frau den Saal in Begleitung eines Mannes. Sie setzen sich an einen Tisch uns gegenüber und stecken Zigaretten an. Der Rauch schwebt in blauen Schwaden hoch.

"Alles ist gut und schön", sagt der Fregattenkapitän, "nur eines gefällt mir nicht – die Leute sind zu gut gekleidet. Sehen Sie sich einmal den Kerl an, der da mit der Dame uns gegenübersitzt. Sicher sind das alles ehemalige Nazigrößen. Die haben sich hier in diesen verlassenen Nestern versteckt, und nun kommen wir hierher und stören sie auf. Haben Sie vorhin die Gruppe junger Burschen bemerkt? Kamen herein, flüsterten und verschwanden wieder! Mir kommt das alles sehr verdächtig vor."

"Nun, dann gehen wir am besten schlafen", schlage ich vor. "Der Morgen ist klüger als der Abend."

"A—a—ach, schlafen!" widerstrebt der Oberst. "Wir müssen erst einmal untersuchen, auf welche Seite unsere Fenster hinausgehen." Als wir uns in das obere Stockwerk begeben und unsere Zimmer aufsuchen, beginnen Oberst Bykow und Fregattenkapitän Fedorow mit ihrer Rekogniszierung. Sie öffnen und schließen die Fenster und prüfen die Festigkeit der Riegel. "Man hat uns erzählt, daß man hier Handgranaten in die Fenster wirft", erläutert der Fregattenkapitän. Dann geht er auf den Korridor hinaus und versucht festzustellen, ob die Nachbarzimmer nicht von Werwolf-Angehörigen belegt sind. Und schließlich macht er sich über die Türschlösser her.

"Bei Gott, Viktor Stepanowitsch, wenn ich Sie ansehe, wird auch mir angst und bange", sage ich, "am Ende haben Sie ein zweites Gesicht?"

Meine Begleiter haben zusammen ein Zimmer belegt. Ich muß mich im Nebenzimmer niederlassen. Zum ersten Mal, seit ich in Deutschland bin, fühle ich eine gewisse Unsicherheit. Ich schiebe den Riegel vor die Tür, überlege eine Minute und nehme dann die Pistole aus der Aktentasche, um sie unter das Kopfkissen zu schieben. Dann mache ich das Licht aus und verschwinde unter dem riesigen Federbett. Am nächsten Morgen klopfe ich meine Begleiter wach. Hinter der Tür werden verschlafene Stimmen laut, dann wird der Riegel zurückgeschoben. Müde und zerschlagen erheben sie sich aus ihren Betten. Ich erfahre, daß sie am vergangenen Abend bis weit nach Mitternacht beraten haben, ob sie sich angezogen oder ausgezogen ins Bett legen sollen. Jetzt, beim hellen Licht der Sonne, haben sich alle ihre Befürchtungen und Ängste zerstreut und sie ziehen sich gegenseitig sogar auf.

"Viktor Stepanowitsch, erzähl doch mal, wie Du in der Nacht mit der Pistole bewaffnet auf die Toilette geschlichen bist", der Oberst blinzelt mir listig zu.

"Wissen Sie, wer dieses schicke Paar von gestern abend war?" frage ich. "Der Schuster hier aus dem Ort mit seiner Frau. Alter Kommunist auch noch. Ich habe mich beim Wirt erkundigt. Und Sie haben die Leute für Nazigrößen gehalten!"

Wir hatten den Wirt am Abend gebeten, möglichst früh am Morgen einen Autoelektriker unserem Fahrer zur Hilfe zu schicken. Als wir zu unserem Wagen zurückkehren, sind die beiden eifrig mit der Reparatur beschäftigt. Um uns die Zeit nicht lang werden zu lassen, beschließen wir, die Schlösser Goethes zu besichtigen, die sich irgendwo auf dem Berg über unseren Köpfen befinden sollen. Wir klettern einen schmalen steilen Pfad hoch, der mitten durchs Gebüsch führt.

Nach kurzer Zeit sind wir auf dem Gipfel. Am Rande eines schroffen Abgrundes stehen zwei Häuser, dicht umstanden von Bäumen und Gestrüpp. Weit unter uns windet sich das helle Band der Straße, darauf hebt sich als dunkler Punkt unser Wagen ab und die beiden Menschen, die sich um ihn bemühen. Ein weiter, herrlicher Rundblick eröffnet sich nach allen Seiten.

Wir nähern uns den reichlich unansehnlichen Häusern, die die stolze Bezeichnung Schlösser tragen. Vor dem Seiteneingang hängen Hasenfelle zum Trocknen an der Leine. Hier wohnt der Wächter, der gleichzeitig als Führer durch die als Museum eingerichteten Schlösser dient. Besucher scheinen seltene Gäste zu sein und der Wächter muß sich nebenbei mit allerlei Nebengeschäften seinen Lebensunterhalt verdienen. Mit seiner Hilfe besichtigen wir die historischen Sehenswürdigkeiten und sogar eine eigenhändige Notiz Goethes, mit Bleistift auf ein Fensterbrett geschrieben. Die Notiz ist ordentlich mit Glas und Rahmen versehen.

Dieses Haus diente einstmals als Sommerresidenz des Großherzogs von Sachsen-Weimar. Später gehörte es zeitweise Goethe. Die Ausstattung ist ärmlich und erinnert in nichts an eine königliche oder fürstliche Behausung.

Als wir nach der Schloßbesichtigung wieder in den Park hinaustreten, sagt Oberst Bykow: "Interessant immerhin, ein Haus zu besichtigen, durch das Goethe geschritten ist. Man fühlt doch eine innere Erregung. Aber rein äußerlich kann man es in keiner Weise mit unserem Peterhof oder Zarskoje Sselo”) vergleichen. Armselig haben ihre Fürsten gehaust."

In diesem Augenblick ertönen aus der Richtung der Straße, auf der unser Wagen steht, zwei Schüsse. Das ist das verabredete Zeichen unseres Fahrers, daß das Auto in Ordnung ist. Eine halbe Stunde später haben wir die Schlösser Goethes weit hinter uns gelassen. Tagelang noch fahren wir kreuz und quer durch Thüringen und Sachsen. Wir kontrollieren Fabriken, sequestieren, requirieren laufende Produktion, erteilen Reparationsaufträge für die Verwaltung für Reparationen.

Während dieser Rundfahrt kommt mir zum ersten Male ein sonderbares Gefühl ziAn Bewußtsein. Ich gewinne die Überzeugung, daß das eine Jahr, das ich außerhalb der Sowjetunion verbracht habe, nicht ohne Spuren an mir vorübergegangen ist. Ich habe mich innerlich irgendwie verändert. Mir fällt das im Verkehr mit meinen beiden Begleitern, den Seeleuten auf. Sie sind erst gestern aus Moskau gekommen und kehren morgen dorthin zurück. Sie sind für mich wie eine Art Reagenzglas, in dem ich den Prozeß verfolgen kann, der sich in meinem Innern vollzieht.

Im Umgang mit ihnen spüre ich mit innerem Erbeben, daß meine Gedanken und meine Weltanschauung sich von der Planetenbahn entfernt haben, auf der sich der Sowjetmensch bewegt. Dieses Gefühl war keine Absage an das, was ich besaß, zugunsten irgend etwas anderem. Es war eine Erweiterung des Gesichtskreises (Die Sommerresidenzen der russischen Zaren).


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