1.
"Darf ich vorstellen?" sagt Oberst Kondakow, "Oberstleutnant Dinaschwilli."
Ich wechsle mit dem Mann im grauen Zivilanzug einen Händedruck. Der Kragen des weißen Oberhemdes ist geöffnet. Er trägt keine Krawatte. Eine leicht betonte Nachlässigkeit der Kleidung, die Berufsoffiziere in Zivil gern zur Schau tragen. Gedunsenes Gesicht. Fahle Haut, der man ansieht, daß sie das Sonnenlicht nicht mehr gewohnt ist. Müde Gleichgültigkeit in den schwarzen, vorquellenden Augen. Ein schlapper, unbeteiligter Druck der feuchten Hand.
Oberst Kondakow und ich sind auf Anforderung der Zentralen Einsatzgruppe des MWD hierhergekommen, um die Aussagen einer Reihe von Verhafteten zu begutachten. Da die vorliegenden Sachen sich mit analogem Material in der Abteilung des Obersten Kondakow überschneiden, hat das MWD die Konsultation und Hilfe der SMA erbeten. Oberst Kondakow studiert die Protokolle der vorangegangenen Verhöre und das Untersuchungsmaterial. Als erstes wird die Angelegenheit eines ehemaligen wissenschaftlichen Mitarbeiters der Laboratorien in Peenemünde, dem Zentrum der deutschen Forschungen auf dem Gebiete der reaktiven Geschosse, behandelt.
"Eine kleine Verzögerung", sagt der MWD-Oberstleutnant mit einem Blick auf die Tür. "Ich habe befohlen, ihm zuerst wieder ein etwas menschenwürdigeres Aussehen zu geben."
"Ist er schon lange bei Ihnen?" fragt Oberst Kondakow.
"Ungefähr sieben Monate", antwortet Oberstleutnant Dinaschwilli mit derart schläfriger Stimme, als hätte er seit dem Tage seiner Geburt keine Stunde geschlafen.
"Wie ist er hierher geraten?"
"Wir erhielten Agentenmeldungen... Daraufhin entschlossen wir uns, ihn etwas näher anzusehen."
"Warum dann aber... unter solchen Umständen?" fragt der Oberst. "Er lebte in der Westzone, seine Mutter hier in Leipzig. Wir beauftragten die Mutter, ihm zu schreiben und ihn zu bitten, sie zu besuchen. Na, und jetzt müssen wir ihn eben hinter Schloß und Riegel halten, bis die Sache geklärt ist."
"Wie hat sich denn seine Mutter dazu bereit erklärt?"
"Wir haben ihr gedroht, ihren Gemüseladen zu enteignen, wenn sie nicht schreibt. Außerdem haben wir ihr gesagt, daß wir uns mit ihrem Sohn lediglich freundschaftlich unterhalten wollen", erläutert der Oberstleutnant gähnend.
Nach kurzer Zeit bringt ein Sergeant den Gefangenen herein. Die kreidige Blässe des Gesichts und der fieberhafte Glanz seiner tief eingesunkenen Augen sprechen eine deutliche Sprache, ungeachtet aller Bemühungen der MWD-Untersucher, ihn einigermaßen menschlich herzurichten.
"Nun, nehmen Sie sich seiner an, ich ruhe mich solange aus", gähnt Oberstleutnant Dinaschwilli erneut und streckt sich auf dem Sofa aus. Der Untersuchungsgefangene, Ingenieur und Sachverständiger für Artilleriewaffen, ist für uns von besonderem Interesse, weil er laut Agentenmeldungen in der sogenannten Abteilung der dritten Stufe in Peenemünde gearbeitet hat. Als erste Stufe gelten die Waffen, die sich bereits in der Praxis bewährt haben und serienweise produziert werden, als zweite Stufe die Waffen, die noch nicht über das Stadium der Versuche innerhalb des Werkes hinausgekommen sind, und als dritte Stufe die Waffen, die nur in Konstruktionszeichnungen vorhanden sind. Die Ergebnisse der Arbeit der beiden ersten Stufen kennen wir gut, die letzte Stufe aber ist für uns ein dunkler Punkt, da beinahe alle Konstruktionszeichnungen und Berechnungen in den Tagen der Kapitulation vernichtet wurden und uns keinerlei Tatsachenmaterial in die Hände gefallen ist, außer den mündlichen Aussagen einer ganzen Reihe von Personen.
Wie den Protokollen der bisherigen Verhöre zu entnehmen ist, arbeitete der Untersuchungsgefangene innerhalb einer Gruppe von Wissenschaftlern, deren Aufgabe war, reaktive Geschosse für die Luftabwehr herzustellen. Die Ausarbeitung dieses Planes wurde im Zusammenhang damit aufgenommen, daß die Luftangriffsmittel der Alliierten den Luftverteidigungsmitteln Deutschlands weit überlegen waren. Die Besonderheit der geplanten Geschosse bestand darin, daß in ihrem Kopfstück hochempfindliche Instrumente eingebaut waren, die das Geschoß zu seinem Ziel hinlenkten und es in unmittelbarer Nähe des Zieles explodieren ließen. Diese Rakete sollte von speziellen Lafetten ohne genaue Zieleinstellung abgeschossen werden. Wenn die Rakete in eine bestimmte Entfernung zu dem Zielflugzeug kommt, tritt ein Apparat in Funktion, der die Rakete automatisch auf ihr Ziel hinlenkt und in bestimmter Entfernung vom Ziel zur Explosion bringt. Ein ähnliches Prinzip haben die Deutschen bereits erfolgreich bei magnetischen Minen und Torpedos angewandt und dadurch der alliierten Flotte in der ersten Periode des Krieges empfindlichen Schaden zugefügt.
Im Falle der Rakete war die Lösung des Problems erschwert durch die viel größere Geschwindigkeit des Geschosses und des Zieles, durch den geringeren Umfang des Zieles und dadurch, daß ein Flugzeug in der Hauptsache aus nichtmagnetischen Metallen besteht. Es wurde jedoch behauptet, daß es den Deutschen trotzdem gelungen sei, auch mit diesem Problem fertig zu werden. Welchen Weg die Deutschen bei der Überwindung der spezifischen Schwierigkeiten der vorliegenden Aufgabe benutzten – Radar, Fotoelemente oder sonstiges —, über diese Frage gab es eine Menge auseinandergehender Meinungen.
Die Vernehmungsprotokolle zeigten, daß man von dem Untersuchungsgefangenen verlangt hatte, alle Berechnungen und Konstruktionszeichnungen, die sich auf den Plan der Rakete V-N bezogen, aus dem Gedächtnis zu rekonstruieren. Oberst Kondakow führt das Verhör in eine ganz andere Richtung. Er vergleicht die vorliegenden Daten und versucht danach die Stellung zu ermitteln, die der Gefangene in dem komplizierten System des wissenschaftlichen Forschungsstabes in Peenemünde einnahm. Es war ihm klar, daß ein einzelner Mensch den ganzen Umfang der Arbeiten an diesem Projekt unmöglich kennen konnte, wie es das MWD verlangte.
"Wären Sie bereit, Ihre Arbeiten in einem sowjetischen Forschungsinstitut fortzusetzen?" wendet sich der Oberst an den Gefangenen.
"Ich bat schon mehrfach um die Gelegenheit, die Richtigkeit meiner Behauptungen beweisen zu können", antwortet der Gefangene. "Hier kann ich wenig beweisen. Sie verstehen."
In diesem Augenblick kommt Leben in die graue Gestalt, die bis dahin wortlos und schweigend mit dem Rücken zu uns auf dem Diwan gelegen hatte. Der MWD-Oberstleutnant springt mit wildem Schimpfen auf die Beine: "Freiheit will der? Wozu ist er dann erst nach Westen gelaufen? Warum redest Du dann hier nichts?" In rasender Wut stürmt er auf den Untersuchungsgefangenen zu. Dieser zuckt hilflos mit den Achseln und blickt uns über den Tisch hinweg schuldbewußt an, als wolle er sich für das Benehmen seines Anklägers entschuldigen. "Ich schlage vor, ihn General... zur Verfügung zu stellen", wendet sich Oberst Kondakow an den Untersuchungsrichter und nennt dabei den Namen des Generals, der die sowjetische Forschungsstation in Peenemünde leitet. "Dort werden wir von ihm alles bekommen, was er zu geben hat."
"Und wenn er flieht?" Der Oberstleutnant wirft dem Gefangenen einen mißtrauischen Blick zu.
"Genosse Oberstleutnant", lächelt Kondakow steif, "für uns ist es entscheidend, wie wir den größtmöglichen Nutzen aus einem jeden Fall ziehen können. In dem vorliegenden Fall werde ich mich bei den höheren Instanzen um die Überführung dieses Mannes nach Peennemünde bemühen."
Nachdem wir den ersten Fall erledigt haben, wenden wir uns dem nächsten zu. Hierbei handelt es sich um eine reichlich fantastische Erfindung. Der Plan ist über das Stadium von Berechnungen und Skizzen des Erfinders selbst noch nicht hinausgekommen und war noch von keiner offiziellen deutschen Stelle geprüft. Bevor der Erfinder vom MWD in Potsdam hinter Schloß und Riegel gesetzt wurde, lebte er in der französischen Besatzungszone Deutschlands. Er bot sein Projekt vorerst den entsprechenden französischen Behörden zur Prüfung an. Infolgedessen erfuhren, durch die Kanäle der französischen KP, die interessierten sowjetischen Stellen von dem Projekt und wandten sich an das MWD. Wie und auf welchen Wegen der deutsche Erfinder in die Ostzone gebracht wurde, wird in seinem Untersuchungsbericht nicht erwähnt, aus den Protokollen geht lediglich hervor, daß er schon seit zehn Monaten in den Kellern der Einsatzgruppe in Potsdam zu Gast ist, wo er mit allen erreichbaren "Maßnahmen der Beeinflussung" zu weiterer Arbeit an seiner Erfindung angespornt wird.
Vor uns steht ein verhältnismäßig junger Mann, ein Ingenieur der Schwachstromtechnik. Während des Krieges arbeitete er in den Forschungslaboratorien
einer Reihe führender elektrotechnischer Firmen Deutschlands, die sich auf Telemechanik und Television spezialisiert hatten. Er hatte lange Jahre an seiner Erfindung gearbeitet, jedoch nahm sein Plan erst gegen Ende des Krieges reale Formen an, als die deutschen Militärbehörden an ähnlichen Dingen kein Interesse mehr hatten.
Der Untersuchungsgefangene beginnt seine Erfindung zu erklären. Er entwickelt seinen Gedankengang und beruft sich dabei auf die Werke bedeutender deutscher Gelehrter auf dem Gebiete der optischen Physik. Seine Erfindung besteht praktisch aus zwei Apparaten – einem Sender und einem Empfänger. Der Sender, ein verhältnismäßig kleines Gerät, wird einige Kilometer hinter den feindlichen Linien abgeworfen und läßt nun auf der Bildfläche des Empfangsgerätes, das sich bei den eigenen Truppen befindet, alles erscheinen, was sich zwischen Empfangs- und Sendegerät befindet, d. h. die Bewegungen des Feindes und seine technischen Mittel. Die Kombination einer Reihe von Sendern und Empfängern gestattet den Überblick über jeden beliebigen Frontabschnitt.
Aus welchen Erwägungen heraus das MWD den Erfinder zehn Monate lang in seinen Kellern gefangen hielt, läßt sich nicht sagen. Mit dem dieser Behörde eigenen Mißtrauen nahmen die MWD-Leute wohl an, daß der Gefangene sein Geheimnis vor ihnen zu verbergen trachtete, und bemühten sich mit allen Mitteln, ihn zu zwingen, mehr zu sagen als er tatsächlich wußte.
Diesmal verfolgt die Vernehmung Oberst Kondakows andere Ziele als im Falle des Raketenspezialisten. Er versucht festzustellen, inwieweit die Idee des Erfinders bereits technisch durchführbare Formen angenommen hat. Der Oberst interessiert sich nicht nur für die theoretische Seite der Erfindung, sondern auch für die Wege ihrer praktischen Verwirklichung. Er überschüttet den Gefangenen förmlich mit sachkundigen Fragen über die Technik der drahtlosen Telegrafie und Television. Zur allgemeinen Befriedigung besteht der Gefangene die Prüfung ehrenvoll. Gleichzeitig weigert er sich jedoch mit einer Hartnäckigkeit, die in den Mauern des MWD seltsam berührt, Einzelheiten über die Schlüsselpunkte seiner Erfindung preiszugeben. Möglicherweise befürchtet er, daß das MWD ihn einfach als unnötigen und unbequemen Zeugen liquidiert, sobald es ihm diese erst entrissen hat.
"Wären Sie bereit, im Rahmen eines sowjetischen Forschungsinstitutes den Beweis anzutreten, daß Ihr Plan technisch durchführbar ist?" fragt der Oberst.
In den Augen des Gefangenen scheint ein Hoffnungsfunke aufzuleuchten.
"Herr Oberst, das ist das einzige, was ich noch wünsche und worum ich schon lange bitte", antwortet er mit bebender Stimme.
"Er lügt, der Schweinehund!" erschallt die Stimme vom Sofa. Der MWD-Oberstleutnant springt wieder hoch. "Er lauert nur auf die Gelegenheit zur Flucht. Warum hat er seine Erfindung den Franzosen angeboten?!"
"Ich schlage vor, diesen Mann Oberst Wassiljew in Arnstadt zur Verfügung zu stellen", sagt Oberst Kondakow an Oberstleutnant Dinaschwilli gewandt. "Wenn, Wassiljew seine Arbeit negativ beurteilt, können sie ihn zurückfordern und die Frage nach eigenem Ermessen lösen."
"Auf diese Weise werden Sie alle meine Gefangenen entwischen lassen", ärgert sich der Oberstleutnant.
Den Rest des Tages widmen wir der Sichtung verschiedener Schriftstücke, die das MWD in Gewahrsam hat – hauptsächlich Agentenmeldungen über deutsche Wissenschaftler und Techniker in den Westzonen. Es geht in diesen Fällen darum, festzustellen, inwieweit diese Menschen und ihre Arbeit für die Sowjetunion von praktischem Nutzen sein können. Falls das Gutachten positiv ausfällt, unternimmt das MWD die weiteren Schritte zur "Realisierung der Angelegenheit". Die Sonderkommissionen haben auf Grund solcher Gutachten schon oft entsprechende Beschlüsse gefaßt.
Gegen Abend waren wir fertig und wollten uns auf den Heimweg machen. Nach einem Blick auf die Uhr und das vor mir stehende Tischtelefon beschloß ich, Andrej Kowtun anzurufen. Als ich ihm erzählte, daß ich in Potsdam sei, bat er mich, ihn in seinem Büro zu besuchen. Seit unserer ersten Begegnung in meiner Wohnung in Karlshorst sind mehrere Monate vergangen. In der Zwischenzeit hat Andrej mich fast jede Woche besucht. Manchmal kam er mitten in der Nacht, manchmal gegen Morgen. Wenn ich ihm Abendessen oder Frühstück anbot, winkte er müde mit der Hand ab und sagte: "Ich wollte nur mal kurz hineinschauen. Ich werde bei Dir auf der Couch schlafen."
Anfangs wunderte ich mich über diese unregelmäßigen, überraschenden Besuche, bei denen er mit krankhafter Freude in Erinnerungen an unsere gemeinsame Schul- und Studentenzeit schwelgte. Er war bereit, die geringsten Einzelheiten unserer Jugenderlebnisse Dutzende von Malen nachzuempfinden und schloß seine Ergüsse mit dem stereotypen Ausruf: "Ach! Das waren schöne Zeiten!" Manchmal schien mir, als suche er in mir und in unseren Gesprächen Rettung vor den unausweichlichen Gegebenheiten.
Ich bat Oberst Kondakow, mich vor der Auffahrt zum Gebäude der MWD-Zentralverwaltung, in dem Andrej arbeitete, abzusetzen. Der Gebäudekomplex war von einer hohen Mauer eingefaßt, über die sich grünes Baumgeäst reckte. In der Anmeldung lag ein Propusk für midi bereit. Ich durchschritt in der Dämmerung des Sommerabends den Garten und ging zum zweiten Stockwerk hinauf, in dem Andrejs Arbeitszimmer lag.
"Nun, mach Schluß!" sagte ich, als ich durch die mit Filz und Wachstuch bespannte Tür trat. "Fahren wir nach Berlin."
"Hm! Du bist für heute fertig und ich fange erst an", warf Andrej brummig hin.
"Welcher Teufel hat Dich dann geritten, mich hierher zu rufen?" sagte ich ärgerlich. Nach dem Tag bei Oberstleutnant Dinascbwilli hatte ich das dringende Verlangen, möglichst schnell an die frische Luft zu kommen.
"Reg Dich nicht auf, Grischa! Wie oft war ich schon bei Dir, Du aber bist noch nie zu mir gekommen. Einmal ist es auch hier ganz interessant", entgegnete Andrej.
"Ich habe heute schon den ganzen Tag in einer ähnlichen Höhle verbracht", widerspreche ich, ohne meinen Unmut zu verbergen.
"Tag?!" lacht Andrej, "nachts bist Du hier noch nie gewesen?"
"Weißt Du was, Andrej", sage ich darauf, "ich habe überhaupt keine Lust, hier stecken zu bleiben. Wenn Du willst, fahr mit nach Berlin ins Theater. Wenn nicht..."
"Du willst also ins Theater", unterbricht mich Andrej, "hier kannst Du doch auch allerhand sehen. Und sogar Dinge, die Du in keinem Theater zu sehen bekommst."
"Ich habe heute keine Lust dazu", wiederhole ich.
"Hör doch, Grischa!" Andrej ändert den Ton. Das Gekünstelte fällt wie eine Larve von ihm ab und seine Stimme erinnert an die Tage, als er rittlings auf dem Stuhl neben meinem Zeichentisch herumrutschte. Damals pflegte er auch erst ein geschwollenes Gespräch über große Männer und große Dinge anzufangen, um plötzlich in schmeichelndem Ton irgendwelche Konzepte über theoretische Mechanik bei mir zu erbitten oder mich zu fragen, von welchem Lektor er sich wohl am besten prüfen lassen soll."
"Hör doch, Grischa!" fährt Andrej fort. "Mich interessiert schon seit langem eine Frage. Um Dir diese Frage verständlich zu machen, muß ich ein bißchen weit zurückgreifen. Wir beide brauchen einander doch nichts vorzumachen. Es gibt wohl keinen zweiten Menschen auf der Welt, der mich besser kennt als Du."
Andrej schweigt eine Weile, dann fügt er hinzu: "Dich aber kenne ich bis zum heutigen Tage nicht..."
"Was willst Du denn eigentlich wissen?" frage ich.
Andrej geht zur Tür und dreht den Schlüssel im Schloß. Dann zieht er aus den Steckdosen an der Wand die Stecker heraus, deren Verbindungsschnüre zu seinem Schreibtisch führen.
"Erinnerst Du Dich an unsere Kindheit?" sagt er, während er sich im Sessel zurücklehnt. "Du warst genau so ein Bengel wie ich. Und Du hättest ebenso empfinden müssen wie ich. Aber Du schwiegst. Damals war ich deswegen wütend auf Dich. Heute muß ich Dich dafür loben. Weißt Du warum?"
Ich schweige.
Nach einigem Zögern sagt Andrej, der auf einen unbestimmten Punkt unter dem Tisch stiert: "Das ist eine alte Sache... Ich war damals vierzehn Jahre alt. Gerade am Vorabend der Oktober-Feierlichkeiten wurde ich aus dem Unterricht in das Zimmer des Schuldirektors gerufen. Dort war noch ein anderer Mensch. Kurz und gut – dieser Mensch führte mich in die GPU. Dort warf man mir vor, ich hätte Zigarettenstummel auf Stalinbilder geklebt und andere konterrevolutionäre Verbrechen begangen. Natürlich war alles reine Erfindung. Dann sagte man mir, daß man in Anbetracht meiner Jugend gewillt sei, meine Sünden zu vergeben, wenn ich mich zur Mitarbeit bereit erklärte. Was konnte ich tun? Man zwang mich, eine Verpflichtung zu unterschreiben, die mich zur Mitarbeit und zum Schweigen verurteilte. Und so wurde idi NKWD-Spitzel. Ich haßte Stalin aus tiefster Seele, bekritzelte die Wände der Toiletten mit antisowjetischen Losungen und war doch selbst – NKWD-Spitzel. Hab' keine Angst! Ich habe niemanden angezeigt. Wenn man mir allzusehr zusetzte, schrieb ich Beschuldigungen gegen ebensolche Spitzel. Da ich mit der GPU in Verbindung stand, kannte ich die verschiedenen Leute. Ihnen machte das nichts aus."
Andrej bewegt sich in seinem Sessel und sagt, ohne die Augen zu heben: "Damals wär ich Dir böse, weil Du Deine wahren Gedanken nicht offen mit mir teiltest. Ich war überzeugt, daß Du denkst wie ich. Jetzt! Als wir Studenten waren... Erinnerst Du Dich an Wolodka?" Er erwähnte den Namen unseres gemeinsamen Studiengenossen, der kurz vor Kriegsausbruch die Marineakademie "Dsershinskij" absolvierte.
"Wenn er noch lebt, ist er jetzt sicher Kommandant eines Kreuzers", fährt Andrej fort. "Wolodka sprach offen mit mir... Du aber schwiegst nach wie vor. Und weiter ging das immer so fort. Ich trat in den Komsomol ein. Du nicht. Jetzt bin ich in der Partei. Du nicht. Ich bin Major der Staatssicherheit und gleichzeitig... ein größerer Feind des Systems als alle meine Gefangenen zusammengenommen." Andrej blickt hoch und sagt eindringlich: "Und Du bist nach wie vor überzeugter Sowjetbürger? Warum, zum Teufel, schweigst Du?"
"Was willst Du von mir?" frage ich mit seltsamer Gleichgültigkeit. "Eingeständnis konterrevolutionärer Einstellung oder Treuebeteuerungen gegenüber Stalin?"
"A—a—a—ach! Das brauchst Du mir nicht zu sagen", winkt Andrej zornig ab. "Ich sehe in Dir einfach meinen besten Freund und will darum wissen, wer Du eigentlich bist."
"Was soll ich Dir denn sagen?" frage ich.
"Warum trittst Du nicht in die Partei ein?" Andrej blickt mir mit dem wachsamen Blick des Untersuchungsrichters in die Augen.
"Diese Frage zu beantworten fällt mir nicht schwer", sage ich. "Schwerer ist es schon, die Frage zu beantworten – warum Du in die Partei eingetreten bist?"
"Wieder windest Du Dich wie ein Aal!" schreit Andrej in blinder Wut. Ihm entfährt ein grobes Schimpfwort "Verzeih, das ist mir so herausgerutscht...", sagt er dann entschuldigend.
"Alles dreht sich darum, Andrej, daß Dein Leben zu Deinen Überzeugungen in direktem Widerspruch steht", sage ich. "Ich aber tue nur genau so viel..."
"Aha! Also darum trittst Du nicht in die Partei ein?!" ruft Andrej mit unverhüllter Schadenfreude aus. In mir steigt die Vermutung auf, daß er mich überführen will.
"Nicht ganz", widerspreche ich. "Als ich von Moskau nach Berlin flog, hatte ich die Absicht, nach meiner Rückkehr in die Partei einzutreten." "Hatte?" wiederholte Andrej spöttisch.
"Wir wollen uns nicht um grammatikalische Zeitbestimmungen streiten, Genosse Untersuchungsrichter", versuche ich die Unterhaltung ins Scherzhafte zu ziehen. Durch meinen Kopf blitzt ein absonderlicher Gedanke. Mir kommt es vor, als verdächtige mich der mir gegenübersitzende Major der Staatssicherheit der Sympathie für den Kommunismus und versuche mich dieser Sympathie zu überführen. "Grischa, Scherz beiseite", sagt Andrej leise, indem er sich vorbeugt und mir gerade in die Augen blickt. "Sag mir – bist Du ein Schuft oder bist Du kein Schuft?"
"Und Du?" werfe ich ihm entgegen.
"Ich – ich bin ein Opfer...", flüstert Andrej und senkt den Blick wieder zu Boden. "Ich habe keine Wahl. Du aber bist frei..."
Im Zimmer herrscht Totenstille. Dann klingt erneut der hysterische, tonlose Schrei: "Sag – bist Du ein Schuft oder nicht?"
"Ich strenge mich an so gut ich kann, ein vollwertiger Kommunist zu werden", antworte ich nachdenklich. Ich versuche aufrichtig zu sprechen, aber meine Worte klingen unecht und falsch.
Andrej sitzt eine Weile schweigend, als suche er hinter meinen Worten einen versteckten Sinn. Dann sagt er ruhig und kalt: "Mir scheint, daß Du die Wahrheit sprichst und ich glaube, daß ich Dir helfen kann. Du willst die Sowjetmacht lieben lernen? Ist es nicht so?"
Da er keine Antwort bekommt, fährt Andrej fort: "Ich hatte einen Bekannten. Heute ist er ein großer Mann in Moskau. Er machte es so. Er verhaftet einen Menschen und beschuldigt ihn, ein Attentat auf Stalin, einen Anschlag auf den Kreml, die Vergiftung der Moskauer Wasserleitung oder ähnliche Verbrechen begangen oder geplant zu haben. Darauf gibt er ihm ein fertiges Protokoll und sagt: .Wenn Du Stalin liebst, dann unterschreib'!" Andrej lächelt gezwungen und sagt: "Auch ich kann Dir helfen, Stalin zu lieben. Willst Du? Wir stellen ein kleines Experiment an. Es wird Dir zweifellos in Deinem Bestreben helfen, ein vollwertiger Kommunist zu werden."
"Was soll ich tun?" frage ich mit innerer Bitterkeit. Dieses ganze Gespräch geht mir, um so mehr als es im MWD-Hauptquartier Deutschlands geführt wird, auf die Nerven. "Ich denke nicht daran, irgendwelche Protokolle zu unterschreiben. Und ein zweites Mal werde ich Dich hier bestimmt nicht besuchen."
"Dir genügt schon das eine Mal", lächelt der Major der Staatssicherheit höhnisch und blickt auf die Uhr. "Jetzt fängt auch das Theater bald an. Du wirst Dich nicht langweilen."
"Jetzt aber keinen Ton mehr!" sagt Andrej und steckt die Stecker der Telefonschnüre wieder in die Wand. Er nimmt aus der Schreibtischschublade verschiedene Schriftstücke, und greift, nachdem er die Papiere verglichen hat, nach dem Telefonhörer. Das wiederholt er mehrere Male. Nach den Telefongesprächen zu urteilen, befinden sich am anderen Ende der Leitung die Untersuchungsbeamten, die Andrej unterstellt sind. Schließlich nickt er befriedigt und legt den Hörer auf die Gabel.
"Erster Akt. Erste Szene. Den Titel kannst Du Dir später selbst ausdenken", sagt Andrej halblaut und dreht an dem Schaltknopf des Diktafons (Ein Diktafon ist ein Apparat, der die Verbindung zwischen dem Arbeitszimmer des Chefs und des ihm unterstellten Untersuchungsbeamten herstellt. Das Diktafon gibt die Möglichkeit, alles was am anderen Ende geschieht, genau so klar zu hören, als geschehe es im selben Zimmer. Außerdem verwendet das MWD in großem Maße das Mikrodiktafon, das, in den Wänden oder Möbeln versteckt angebracht, das heimliche Abhören ermöglicht. Der das Horchgerät Bedienende hat gleichzeitig ein Tonaufnahmegerät neben sich, das erforderlichenfalls ein Gespräch auf Platten aufnehmen kann), das vor ihm auf dem Tisch steht. In der Stille des riesigen Zimmers erklingen zwei Stimmen, eine melodische Frauenstimme spricht in reinem Deutsch. Eine männliche Stimme antwortet mit deutlich russischem Akzent.
"...Wenn Herr Leutnant gestatten, möchte ich jetzt nach dem Schicksal meines Mannes fragen", sagt die weibliche Stimme.
"Das einzige was ich mit Bestimmtheit sagen kann, ist, daß das Schicksal Ihres Mannes voll und ganz von Ihrer Arbeit für uns abhängt", antwortet der Mann.
"Herr Leutnant, genau vor einem Jahr haben Sie mir versprochen, daß mein Mann unter bestimmten Voraussetzungen nach ein paar Tagen entlassen werden würde", sagt die weibliche Stimme.
"Ihre Arbeit für uns ist nur eine Ehrenpflicht. Damit dokumentieren Sie nur Ihre Loyalität gegenüber dem neuen demokratischen Deutschland. Oder wollen Sie behaupten... die Stimme des Mannes klingt drohend.
"Ich will nichts behaupten, Herr Leutnant. Ich frage nur nach meinem Mann", sagt die leise Stimme tonlos.
"Das von Ihnen gelieferte Material war in letzter Zeit unbefriedigend. Es wäre mir sehr unangenehm, wenn wir gezwungen wären, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Es könnte passieren, daß Sie Ihren Mann nicht dort Wiedersehen, wo Sie ihn gerne Wiedersehen würden", lautet die Antwort.
Man hört das unterdrückte Weinen der Frau. So weint ein Mensch, der sein Gesicht in die Hände vergraben hat. Andrej schaltet das Diktafon ab. Dann holt er aus einem Aktendeckel ein Blatt Papier und reicht es mir. Es ist das Urteil des MWD-Militärtribunals, das auf 25 Jahre Zwangsarbeit wegen "terroristischer Handlungen, gerichtet gegen die Besatzungstruppen der Sowjetarmee" lautet.
"Kommunist seit 1928", erläutert Andrej. "Saß acht Jahre in Hitlerschen Konzentrationslagern. Einen Monat nach Beginn der Okkupation erklärte er seinen Austritt aus der KP. Er redete zu viel. Das Resultat siehst Du hier. Seine Frau arbeitet als Übersetzerin bei den Engländern. Sie genießt dort Vertrauen als Frau eines Verfolgten des Hitlerregimes. Seit der Verhaftung ihres Mannes durch uns vertraut man ihr noch mehr. Bis vor kurzem war sie für uns ein äußerst wertvoller Agent."
Andrej greift wieder nach dem Telefonhörer und fragt nach den Nummern der Sachen, die in einem der Nebenzimmer verhandelt werden, indem er sie gleichzeitig mit seinen Papieren vergleicht. Als ich ihn frage, warum er nicht das Diktafon benutzt, antwortet Andrej: "Dritte Personen brauchen nicht zu hören, was die Untersuchungsbeamten sprechen. Und überhaupt brauchen sie nichts von der Existenz und dem Zweck der Diktafone zu wissen. Diese Dinge existieren hier vornehmlich zur Überwachung der Mitarbeiter durch ihre Chefs. Ich kann jederzeit hören, was meine Untersuchungsbeamten tun. Dabei wissen sie nie, ob mein Gerät gerade ein- oder ausgeschaltet ist. Ihnen ist es überdies verboten, ihrerseits das Diktafon auszuschalten. Das Sowjetsystem en miniature! Und dabei ganz unverhüllt."
Endlich findet er, was er sucht, winkt mir zu schweigen und dreht am Knopf des Diktafons. Dieses Mal werden zwei männliche Stimmen laut, die sich wfeder deutsch unterhalten.
"...Sie haben sich in letzter Zeit gut bewährt. Jetzt wollen wir Ihnen eine verantwortungsvollere Aufgabe übertragen", hört man eine Stimme mit russischem Akzent sagen. "Sie waren seinerzeit aktives Mitglied der nationalsozialistischen Partei. Wir versuchen den Menschen Gelegenheit zu geben, ihre früheren Fehler gutzumachen. Wir haben Ihnen sogar die Chance geboten, in die Reihen der SED einzutreten. Jetzt erwarten wir, daß Sie das in Sie gesetzte Vertrauen ehrenvoll rechtfertigen."
"Herr Hauptmann, selbst als ich – gezwungenermaßen – der NSDAP angehörte, sympathisierte ich immer mit den Ideen des Kommunismus und blickte hoffnungsvoll nach Osten", erklingt es in akzentfreiem Deutsch.
"Heute befindet sich eine große Anzahl von Menschen in der SED, die früher mit den Ideen des Nationalismus sympathisierte", läßt sich wieder die erste Stimme vernehmen. "Möglicherweise tun sie es auch heute noch. Wir interessieren uns sehr für diese nationalistischen Tendenzen innerhalb der SED-Mitglieder. Solche Leute arbeiten unter dem Deckmantel ihres SED-Parteibuches in Wirklichkeit für die Wiederaufrichtung des Faschismus und sind die ärgsten Feinde des neuen, demokratischen Deutschland."
"O, ja! Ich verstehe, Herr Hauptmann", pflichtet der Deutsche ihm bei. "Na also!" fährt die Stimme fort, die dem MWD-Hauptmann gehört. "Ihnen als ehemaligem Nationalsozialisten vertrauen Leute mit ähnlichen Gedankengängen selbstverständlich mehr an, als irgend jemand anderem. Ihre Aufgabe soll nun sein, nicht nur alle entsprechenden Äußerungen zu registrieren, sondern auch selbst die Stimmungen und Strömungen unter Ihren Kollegen zu sondieren. Ihrer besonderen Beachtung möchte ich folgende Personen anvertrauen... ." es folgt die Aufzählung einer Reihe von Namen.
"Wollen Sie mir detaillierte Instruktionen geben, Herr Hauptmann?" fragt der unsichtbare Deutsche in sachlichem Ton.
"Uns interessiert insbesondere folgendes", erklärt der MWD-Hauptmann. "Vielleicht gelingt es Ihnen, unter den Mitgliedern der SED Äußerungen festzustellen, die dahin gehen, daß die Politik des Genossen Stalin eine Abweichung von den Ideen des Marxismus und Kommunismus darstellt, daß das Sowjetsystem nichts mit Sozialismus zu tun hat, daß die brüderliche Freundschaft zwischen der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und den fortschrittlichen Parteien der neuen Volksdemokratien nichts anderes als ein Vasallenverhältnis sei usw. Vielleicht wird irgend jemand von Ihren Parteigenossen die Meinung äußern, daß es besser wäre, die Ideen des Sozialismus selbständig und allein, gestützt auf die Kräfte des deutschen Volkes, durchzuführen. Sie müssen verstehen, daß ähnliche revisionistische Meinungen nichts anderes zum Ziele haben als die Tarnung der Wiederaufrichtung des Faschismus."
"Oh, ja! Solche Leute gehören nach Sibirien, Herr Hauptmann", stimmt der ehemalige Nazi überzeugt zu.
"In Sibirien ist für viele Platz", bemerkt die Stimme des MWD-Haupt- manns doppelsinnig. "Wir verstehen es, Leute zu strafen, die gegen uns sind. Wir verstehen es aber auch, Leute zu belohnen, die uns ergeben sind. Wenn Sie Ihre Aufgabe pflichtgemäß erledigen, werden wir für Ihre Beförderung im Dienst sorgen. Am kommenden Freitag bringen Sie das übliche Material in meine Wohnung. Man soll Sie hier nicht sehen..."
Andrej schaltet das Diktafon aus und blickt in die Akten: "Gestapo- Spitzel seit 1934. Arbeitet seit Mai 1945 für uns. Auf Grund seiner Angaben wurden bisher 129 Verhaftungen vorgenommen. Auf unsere Empfehlung in die SED auf genommen."
Mir gegenüber am Tisch sitzt ein Major der Staatssicherheit bei der Erfüllung seiner dienstlichen Obliegenheiten. Er hat sich ganz in die Arbeit vertieft und wühlt eifrig in seinen Papieren. Aus dem Stahlsafe hinter seinem Rücken holt er einen Karteikasten hervor. Er entnimmt ihm eine numerierte Karteikarte und sucht nach dieser Nummer einen umfangreichen Schriftsatz hervor.
"Aha! Liebe im Dienst der Staatsinteressen", bemerkt Andrej und schlägt den Aktendeckel auf. "Baronin von... Seit 1923 Leiterin eines Ehevermittlungs-Instituts für höhere Gesellschaftskreise und gleichzeitig Inhaberin öffentlicher Häuser. Seit 1936 Gestapoagentin. Seit 1945 bei uns registriert. Zwei Söhne als Kriegsgefangene in der UdSSR. Der Chef der Lagerverwaltungen hat Befehl, sie ohne Sondergenehmigung des MWD nicht zu entlassen. Hast Du Spaß an hübschen Mädchen? Schau!"
Andrej reicht mir Aktenmappe und Karteikarte über den Tisch. Der Aktendeckel trägt die mit der Karteikarte übereinstimmende laufende Nummer und den Decknamen. Dadurch wird die Geheimhaltung der Identität des Agenten gewahrt. Die Karteikarte enthält die Personalangaben. Links oben ist die Fotografie einer grauhaarigen gut aussehenden Frau im weißen Spitzenkragen angeheftet.
Ich schlage die Akte auf. Sie enthält eine Menge Standardformulare mit den Fotografien junger hübscher Frauen. Es sind die Schutzbefohlenen der Baronin. Alle diese Frauen sind durchweg ausgesuchte Schönheiten und machen der menschenfreundlichen Institution der gut aussehenden alten Dame alle Ehre. Jedes Blatt enthält neben den Personalangaben eine Rubrik: "Kompromittierende Tatsachen". Unter dem Bild einer lebensfroh lächelnden Blondine heißt es in dieser Rubrik: "Bräutigam diente in der Waffen-SS. Seit 1944 in sowjetischer Gefangenschaft.
1946 – Syphilis". Die folgende Fotografie – ein Mädchen mit den Augen einer Gazelle – trägt die Notiz: "Vater – Mitglied der NSDAP.
Interniert in der UdSSR. 1944 – uneheliches Kind". Auf dem nächsten Blatt eine feurige Brünette italienischen Typs und darunter der Vermerk: "Von der Polizei wegen Prostitution registriert. 1946 – uneheliches Kind von einem Neger". Alle Vermerke sind durch genaue Daten und Tatsachenmaterial ergänzt.
"Die Pension der Baronin befindet sich im amerikanischen Sektor", erläutert Andrej. "Dem entspricht auch ihr Tätigkeitsbereich." Er nimmt das Blatt mit dem Foto des gazellenäugigen Mädchens aus meiner Fland, sieht nach der Kontrollnummer, entnimmt darauf seinem Schreibtisch einen Aktendeckel mit der gleichen Nummer und reicht ihn mir: "Schau!"
Diese Akte enthält die Agentenmeldungen des Mädchens mit den Gazellenaugen. Fotos von amerikanischen Soldaten in Uniform. Zahlen. Daten. Liebesbriefchen – als Unterschriftsproben. Charakteristiken mit Angaben über Dienstort, persönlichen Lebensstil, politische Einstellung, Heimatadresse in Amerika.
"Wozu denn die Heimatanschrift in Amerika?" frage ich.
"Nötigenfalls haben wir dann immer die Möglichkeit, mit der uns interessierenden Person in Kontakt zu kommen", erwidert Andrej. "Dort ist das für uns sogar leichter als hier."
Der Major der Staatssicherheit weist mit dem Finger auf ein Sonderfach der Akte. Hier finden sich säuberlich geordnete Fotografien des Mädchens mit den Gazellenaugen in Gesellschaft des amerikanischen Leutnants. Anfangs sind es Leica-Liebhaberaufnahmen, die alle Etappen der fortschreitenden Bekanntschaft widerspiegeln. Dann folgen auf einem besonderen Blatt, sorgfältig numeriert und mit Daten versehen, Fotografien anderer Art. An der technischen Ausführung der Bilder erkennt man die Arbeit einer automatischen Mikrokamera. Eindeutig pornografische Bilder, die» nicht nur die Liebe, bar jeder Hülle, verewigen, sondern die Liebe in ihrer Perversität. Es wird sich kaum jemand finden, dem es Freude macht, ähnliche künstlerische Erzeugnisse zu sehen, wenn die eigene Person dabei die Rolle des Hauptdarstellers spielt. Der amerikanische Leutnant war auf allen Aufnahmen deutlich zu erkennen.
"Dieser Knabe arbeitet jetzt auch für uns", grinst Andrej. "Er hat in Amerika eine junge und reiche Braut. Als man ihn vor die Wahl stellte – entweder Kompromittierung in den Augen seiner Braut und damit sicherer Bruch der Verlobung und Verlust der soliden materiellen Grundlage, oder aber unbedeutende Hilfeleistung für uns, zog er das letztere vor. Jetzt liefert er uns recht wertvolles Material."
"Das ist nur ein kleiner Ausschnitt aus der Arbeit der Baronin", fährt er fort. "Sie hat alles in allem sechsundzwanzig Frauen, die darauf spezialisiert sind, bestimmte Bekanntschaften zu machen, und vierunddreißig Straßendirnen, die nur gelegentlich Material liefern. Wir haben besondere Instruktoren vom Typ der Baronin, die sich mit der Bearbeitung der Prostituierten in allen vier Zonen Deutschlands befassen. Wie Du siehst, ist das Unternehmen recht groß aufgezogen."
"Lohnt sich denn das?" werfe ich ein.
"Mehr als man glaubt", erwidert der Major der Staatssicherheit. "Pro- sitution und Spionage gehen seit alters her Hand in Hand. Wir haben diese Dinge lediglich durch eine neue ideologische Basis untermauert. Wobei wir in jedem einzelnen Falle individuell Vorgehen, überdies haben wir von fast jeder dieser Frauen einen Angehörigen in unserer Hand. Unser System ist das billigste in der ganzen Welt."
Der Uhrzeiger ist über die Mitternachtsstunde hinausgerüdct. Als ich den Blick von dem hellerleuchteten Schreibtisch wende, bemerke ich, daß alles um mich her im Halbdunkel versinkt. Vor den Fenstern hängen dicke, dunkle Vorhänge. Aus dem Rahmen, der hinter Andrejs Rücken an der Wand hängt, blickt uns das Gesicht mit der niederen Stirn und dem schweren Schnurrbart entgegen. Ich lenke meine Blicke wieder auf den Tisch. Die kleine Welt, eingeschlossen in den Lichtkegel der Schreibtischlampe, spricht von Menschen in Ketten. Die Aktendeckel auf dem Tisch fesseln die Schicksale von Hunderten von Menschen, die keine Wahl haben.
"Mach bitte die Deckenbeleuchtung an", bitte ich. Als Andrej auf den Knopf an der Wand drückt und unter der Decke eine matte Kugel zu leuchten beginnt, frage ich: "Du hast sicher Menschen sehen müssen, die zum Tode verurteilt sind. Sag mir, hast Du dabei oft Menschen getroffen, die mit dem Glauben an die Richtigkeit ihrer Überzeugung starben?"
"Zu Anfang des Krieges habe ich oft SS-Leute vor der Erschießung gesehen", sagt Andrej nachdenklich und reibt sich die Stirn. "Sie schrien .Heil Hitler!' Als ich bei den Partisanen war, mußte ich sehen, wie die Deutschen Russen aufhängten. Vor dem Tode beschimpften sie die Deutschen wütend und schrien: «Es lebe Stalin!» Einige dieser Todgeweihten kannte ich persönlich. Und wußte, daß sie nie vorher in ihrem Leben solche Worte in den Mund genommen hatten. Vor dem Tode schrien sie sie aber doch. Ich glaube, es geht hierbei nicht um den Glauben, sondern um den persönlichen Mut. Sie wollten einfach ihrer Verachtung des Todes und des Feindes Ausdruck geben."
"Jetzt beschäftigst Du Dich mit der Vernichtung der Staatsfeinde", fahre ich fort. "Die Kapitalisten und Gutsbesitzer sind laut der "Geschichte der KPdSU(B)" längst ausgerottet. Folglich sind diejenigen, gegen die es heute zu kämpfen gilt, Sprößlinge der neuen Gesellschaft. Wenn sie Feinde sind, was stellen sie dann dar? Wie kann man sie klassifizieren? Sind es ideologische Feinde oder einfach Menschen, die infolge äußerer Umstände etwas begangen haben, was laut MWD- Kodex strafbar ist?"
"Warum fragst Du danach? Andrej schielt mißtrauisch zu mir herüber. "Mich interessiert diese Frage schon seit längerer Zeit", antworte ich. "Wer könnte sie besser beantworten als ein Major des MWD?"
"Weißt Du es denn selbst nicht?"
"Ich wollte gern Deine Meinung hören."
"Der Teufel soll Dich holen, Grischa!" seufzt Andrej unerwartet auf. "Ich wollte Dich gern ein wenig quälen und dabei mein eigenes Herz erleichtern. Du aber sitzt da wie ein Ölgötze und fängst auch noch an, in meiner Seele herumzuwühlen. Du berührst da, scheinbar rein zufällig, eine Frage, die längst wie ein Damoklesschwert über mir hängt." Andrej spricht langsam. Die Worte entringen sich seiner Brust, als wage er es nicht, seine Gedanken laut werden zu lassen. "Wenn von ideologischen Feinden die Rede ist, so ist heute das ganze Volk unser ideologischer Feind. Diejenigen, die dem MWD zum Opfer fallen, sind nur die Opfer eines Lotteriespiels. Von hundert Anklageschriften des MWD sind neunundneunzig reine Erfindungen. Wir gehen von dem Grundsatz aus, daß jedermann unser Feind ist. Im Herzen, in seiner Seele ist er unser Feind. Um den Feind auf frischer Tat ertappen zu können, muß man ihm die Möglichkeit geben, feindselige Handlungen zu begehen. Wenn wir warten, wird es zu spät sein. Denn ihrer sind ja – Millionen. Darum greifen wir nach dem Erstbesten und beschuldigen ihn des erstbesten Verbrechens. Er wird es nicht zugeben, aber im Herzen ist er längst reif für alle die staatsfeindlicben Verbrechen, die wir ihm vorwerfen. Auf diese Weise liquidieren wir einen gewissen Teil der potentiellen Feinde und paralysieren gleichzeitig den Willen zur Tat bei der übrigen Masse des Feindes. Das ist unsere Präventivmethode. Verstehst Du? Der Lauf der Geschichte hat uns gezwungen, zu dieser Methode Zuflucht zu nehmen. Zur gleichen Zeit wurden nebenbei die positiven Faktoren eines solchen Systems sichtbar.
Der Major der Staatssicherheit kritzelt nachdenklich mit dem Bleistift auf dem Aktendeckel und fragt dann, ohne den Kopf zu heben: "Was glaubst Du wohl, wie hoch die Zahl der Gefangenen in den Lagern des MWD ist?"
"Jeden normalen Menschen wird diese Zahl einfach fantastisch anmuten", fährt er fort, ohne meine Antwort abzuwarten. "Annähernd fünfzehn Millionen. Es können auch drei Millionen mehr oder weniger sein. Das ist ein kolossales Reservoir an Arbeitskräften. Beinahe gleichzeitig mit dem Übergang der Organe der Staatssicherheit zur Präventivmethode erforderte die Entwicklung der Industrie eine riesige Zahl von Arbeitskräften in Gebieten, in die freiwillig kein einziger Mensch gehen würde. Auf diese Art hat die Präventivmethode das Problem der Arbeitskraft in idealer Weise gelöst. Später wurden die Anforderungen der Lager auf Arbeitskräfte zu einem der Faktoren, der die Arbeit der Untersuchungsorgane bestimmte. Wie Du siehst, hat sich ein System des Gleichgewichts ergeben. Das System ist in gewisser Weise amoralisch, aber andererseits lebensnotwendig und überdies lohnend für den Staat. Für den höheren MWD-Kommandostab werden geheime Bulletins herausgegeben, in denen alle diese Dinge ideologisch untermauert und begründet werden. Recht und Gesetz ergeben sich aus der Generallinie der Partei. Die Zahl der Gefangenen wird nicht von Recht und Gesetz diktiert, sondern von den Anforderungen der Lager und von politischen Erwägungen."
"Du hast die Vorlesungen über Marxismus-Leninismus noch nicht vergessen?" frage ich. "Erinnerst Du Dich an die Theorie vom Staat in der kommunistischen Gesellschaft?"
"A—a—ah... In der kommunistischen Gesellschaft stirbt der Staat allmählich ab", lacht Andrej höhnisch. "Und in erster Linie sterben die Organe der staatlichen Gewaltherrschaft ab – Polizei usw."
"Also ist alles in bester Ordnung", sage ich.
"Ja. Auf meiner Seite des Tisches ist alles in Ordnung", erklärt Andrej, indem er sich wieder der Wirklichkeit zuwendet. "Wenn man aber das Problem von der anderen Seite des Tisches aus betrachtet... ist es manchmal schwer."
"Du hast auf meine Frage immer noch nicht geantwortet", sage ich. "Ob Du Gelegenheit hattest, wirklichen Feinden zu begegnen. Solchen, die Dir fest in die Augen blicken und erklären – ja, ich bin dagegen." Der Major der Staatssicherheit blickt mich von unten her an. "Warum fängst Du nicht selbst an, beim MWD zu arbeiten? Du würdest einen ausgezeichneten Untersuchungsbeämten abgeben", brummt er. "Ich habe absichtlich versucht, dieses Thema zu meiden. Ich habe nämlich eine lebendige Antwort auf Deine Frage... Allerdings hatte ich nicht die Absicht, sie Dir vorzuführen. Ich fürchte, das könnte sich auf Deine persönlichen Beziehungen zu mir ungünstig auswirken."
Andrej schaut mich erwartungsvoll an und zögert. Als ich den Kopf vom Schreibtisch wende, sehe ich irgendwo sehr fern den Uhrzeiger rasen. Alle Gegenstände im Zimmer verschwimmen. Es ist weit nach Mitternacht. Das Gebäude in der Tiefe des Gartens lebt sein eigenes Leben. Auf dem Korridor werden gedämpfte Töne laut, die nur dem verständlich sind, der mit der Arbeit des MWD vertraut ist. Mehrere Male wurde vorsichtig an der Tür geklopft. Dann geht Andrej aus dem Zimmer hinaus, wobei er die Tür hinter sich abschließt. Telefongespräche unterbrechen immer wieder unsere Unterhaltung.
"Gut", sagt Andrej schließlich. "Aber ich bitte Dich – denk dabei nicht an mich..." Er nimmt den Telefonhörer ab und spricht mit dem Nebenzimmer: "Genosse Hauptmann, was gibt es Neues im Fall 51-W?" Er lauscht dem Bericht und sagt dann: "Alles beim alten also? Gut. Rufen Sie ihn zum Verhör. Ich komme zu Ihnen mit einem anderen Offizier."
Wir gehen eine Treppe tiefer. Hier liegen auf den Korridoren keine Teppiche mehr. Die Wände sind mit grauer Ölfarbe gestrichen. An den Türen Nummernschilder. Es sind die Arbeitszimmer der Untersuchungsbeamten.
Wir betreten eines der Zimmer. Am Schreibtisch gegenüber der Tür sitzt ein Hauptmann mit den Schulterstücken der Infanterie, über dem Tisch das gleiche Porträt wie in Andrejs Arbeitszimmer. Andrej antwortet mit einem Nicken des Kopfes auf den Gruß, geht zum Sofa, das an der Wand steht, und vertieft sich schweigend in einen Untersuchungsbericht. Ich setze mich ebenso schweigend auf das andere Ende des Sofas.
Ein Klopfen an der Tür. Ein Sergeant in grüner Mütze meldet: "Der Gefangene 51-W, zu Befehl, Herr Hauptmann!" Ihm folgt eine dunkle Gestalt mit auf dem Rücken gekreuzten Händen. Ein zweiter Posten schließt die Tür.
"Nun, wie geht's, Kaljushnyj?" fragt der Hauptmann freundlich.
"Was... hast mich wohl lange nicht gesehen, Du Hund?!" bricht es heiser aus dem Gefangenen heraus. In diesem Schrei drücken sich grenzenloser Haß und Verachtung, unterdrückter Schmerz und tödliche Verlorenheit aus, übertönt von einer Herausforderung und wütenden Drohung, die aus tiefster Seele kommen. Eine solche Stimme kann nur ein Mensch haben, der mit dem Leben abgeschlossen hat und jetzt nur noch eines wünscht – sein Leben so teuer wie möglich zu verkaufen. Der Gefangene kommt schwankend ganz nahe an den Tisch heran und bleibt dann stehen. Er steht breitbeinig, um seinen wankenden Knien festeren Halt zu geben. Der Kopf ist unnatürlich weit zur Seite gebogen. Die Hände, auf dem Rücken gekreuzt, stecken in Handschellen. Das MWD pflegt Handschellen nur Todeskandidaten und besonders gefährlichen Gefangenen anzulegen.
Die mächtige, muskulöse Gestalt steckt in völlig zerlumpter Militäruniform. Ein breiter, leicht gekrümmter Rücken. Die charakteristische Figur eines Arbeiters, der gewohnt ist, an der Maschine zu stehen. Der Kegel der Tischlampe beleuchtet nur den unteren Teil des Körpers, das übrige bleibt im Dunkel.
"Nun, wie steht's – ist Dir irgend etwas eingefallen?" fragt der Hauptmann, ohne den Kopf von dem Untersuchungsprotokoll zu heben. Die Antwort ist eine rasende, teilweise unverständliche Verwünschung. Die dunkle Gestalt übergießt den Hauptmann, das MWD, die Sowjetmacht und schließlich selbst den Mann, der eingerahmt über dem Schreibtisch hängt, mit einer wüsten Flut von Beschimpfungen. "Einmal im Leben will ich wenigstens frei von der Leber weg reden", krächzt der Gefangene und beugt sich vor, und man weiß nicht, ob er aus Erschöpfung vornüber zu fallen droht oder die Absicht hat, sich auf seinen Peiniger zu stürzen. Die Wachen zu beiden Seiten des Gefangenen packen die schwankende Gestalt an den Schultern und drücken sie gewaltsam auf einen Stuhl.
"Laß uns in Ruhe miteinander reden", sagt der Hauptmann. "Willst Du rauchen?"
Auf einen Wink des Hauptmanns nehmen die Posten die Handschellen ab. Im Zimmer herrscht minutenlanges Schweigen. Der Mann auf dem Stuhl zieht gierig den Rauch der Zigarette ein. Seiner Brust entringen sich röchelnde, gurgelnde Töne. Er hustet krampfhaft und spuckt schwarzen Auswurf auf seine Handfläche aus.
"Da, Hauptmann, freu Dich!" er streckt seine Hand über den Tisch. In dem grellen Licht der Tischlampe sieht man schwarze, gallertartige Klumpen geronnenen Blutes. "Die Lungen haben sie mir zerschlagen, die Hundesöhne!" krächzt der Gefangene und wischt das Blut an der Tischkante ab.
"Hör mal, Kaljushnyj", sagt der Vernehmende mit liebenswürdiger Stimme. "Mir tut es verdammt leid, daß Du so eigensinnig bist. Du warst doch ein vorbildlicher Bürger der Sowjetunion, überleg doch! Sohn eines Arbeiters, selbst Arbeiter, Held des Vaterländischen Krieges! Nun, jetzt hast Du einen Fehler begangen..."
"Das ist kein Fehler", klingt es heiser vom anderen Ende des Tisches. "Wir verstehen es, Verdienste zu würdigen", fährt der Hauptmann fort. "Bereue, sühne Deine Schuld... und das Vaterland wird Dir vergeben."
"Wer ist das – das Vaterland?" gurgelt es aus der Kehle des Gefangenen. "Wollt Ihr Blutsauger vielleicht das Vaterland verkörpern?!" Der Hauptmann bewahrt mühsam seine Selbstbeherrschung. Er dreht die Tischlampe so, daß ihr Licht voll auf das Gesicht des Mannes fällt, der am anderen Ende des Tisches sitzt. Aber dieser Mann hat kein Gesicht. Stattdessen sieht man eine einzige dunkle Masse von geronnenem Blut. Auf dem Kopf eine stachlige Kruste aus blutverschmierten Haaren. Eine blutige zerfetzte Wunde statt des Mundes. Wenn er spricht, entringen sich die Worte mühevoll diesem Mund. Die zerbissene, geschwollene Zunge bewegt sich schwerfällig zwischen den Stummeln der ausgeschlagenen Zähne.
"Ich will nur Dein Los erleichtern", sagt der Hauptmann. "Nenn uns die übrigen. Dann gebe ich Dir mein Ehrenwort als Kommunist..." "Das Wort als Kommunist?!" unsäglichen Haß atmet das heisere Röcheln. "Du Schlangenbrut, wieviel Menschen hast Du schon durch dieses Ehrenwort umgebracht?" Von krampfhaftem Husten geschüttelt sackt der Mann blutspuckend auf seinem Stuhl zusammen.
"Mein Wort ist das Wort der Partei. Bekenne – und Du erhältst Deine Freiheit", hält sich der Hauptmann immer noch mit Mühe zurück.
"Freiheit?" spottet die blutige Maske. "Diese Freiheit kenne ich... Im Himmel werde ich Freiheit finden..."
"Unterschreib das Protokoll!" Der Hauptmann streckt ein Blatt Papier über den Tisch.
"Wer es geschrieben hat, soll es auch unterschreiben", lautet die Antwort.
"Unterschreib!" befiehlt der Hauptmann drohend. Er vergißt die Anwesenheit der beiden schweigenden Gestalten auf dem Sofa, bricht in laute Verwünschungen aus und zieht eine Pistole aus seinem Schreibtisch.
"Gib her – ich unterschreibe", röchelt der Gefangene. Er nimmt das Vernehmungsprotokoll und spuckt aus voller Kraft auf das Papier. Geronnenes Blut bleibt daran kleben. "Da hast Du... Mit echt kommunistischem Siegel!" In schadenfrohem Triumph vibriert die Stimme des Todgeweihten. Die blutverschmierte Gestalt erhebt sich mit Mühe vom Stuhl und beugt sich langsam über den Tisch: "Na! Schieß doch!" Die verkrampfte, entstellte Maske schiebt sich der Pistolenmündung entgegen. Die Blicke des Gefangenen und des Vernehmenden kreuzen sich. "Nun, Henker, jetzt schieß... Gib mir Freiheit!"
Der Hauptmann läßt in ohnmächtiger Wut die Waffe sinken und winkt den Wachen, die neben dem Tisch stehen. Durch einen Schlag mit dem Kolben der Maschinenpistole wird der Gefangene zu Boden geworfen. Die stählernen Handschellen schließen sich klirrend.
"So leichten Kaufes kommst Du uns nicht davon", zischt der Hauptmann durch die Zähne. "Du sollst den Tod noch wie Deine leibliche Mutter herbeisehnen." Der Mann mit den Handschellen liegt bewegungslos am Boden. Die Posten reißen ihn mit einem Schwung hoch und stellen ihn auf die Beine. Er steht schwankend, von den Soldaten gestützt. "In die Stoika (Eine der vom MWD angewandten Folterungen. Der Gefangene- wird mit dem Gesidit zur Wand gestellt und in der Lage stehen gelassen, bis er sich bereit erklärt, das Protokoll mit der erfundenen Beschuldigung zu unterschreiben. Wenn der Gefangene sich an die Wand lehnt oder sich setzt, wird er unbarmherzig ausgepeitscht. Nach der "Stoika" ist der Gefangene bereit, jedes beliebige Protokoll zu unterschreiben, selbst wenn es sein eigenes Todesurteil bedeutet. Daher ziehen Menschen, die die "Stoika" kennengelernt haben, vor, sich prügeln zu lassen, um auf diese Weise der "Stoika" zu entgehen.
Den Rekord in der "Stoika" schlug ein ehemaliges Mitglied der japanischen Sektion der Komintern, der in der Zeit der großen Säuberung 1935-1937 verhaftet wurde. Der Japaner brachte es fertig, sechsundzwanzig Tage und Nächte in der "Stoika" zu stehen, worauf er anschließend im Lazarett am Herzschlag verstarb) mit ihm!" befiehlt der Hauptmann und gibt ein Zeichen, den Gefangenen hinauszuführen.
Mit einem unerwarteten, verzweifelten Ruck befreit sich die dunkle Gestalt aus den Händen der Soldaten. Der gefesselte Gefangene stürzt mit einem wütenden Tritt krachend den Schreibtisch um. Der Hauptmann springt zur Seite und wirft sich dann mit einem rasenden Wutgeheul auf den Gefangenen. Der Pistolengriff schlägt dumpf auf den Kopf des Menschen, der sich in den Händen der Soldaten windet. Uber der eingetrockneten Kruste geronnenen Blutes ergießen sich eilig neue purpurne Bäche.
"Genosse Hauptmann!" klingt scharf die Stimme Andrej Kowtuns.
Als der Gefangene wie ein Sack aus dem Zimmer geschleppt wird, sagt der Hauptmann, schwer nach Luft ringend: "Genosse Major, ich bitte um Erlaubnis, die Untersuchung abschließen und die Sache dem Tribunal vorlegen zu dürfen."
"Halten Sie sich an die Anweisungen, die ich Ihnen gegeben habe", entgegnet Andrej kalt und wendet sich zur Tür.
Wir gehen schweigend den Korridor entlang. Hinter jeder Tür hört man dumpfe Geräusche, Worte, die auf Kosten des Verrats alle Verlockungen des Lebens versprechen. Worte, die auf Kosten des Lebens anderer das eigene Leben schonen. Auf Kosten des Lebens derer, die heute noch lachen und sich ihres Lebens freuen und nicht wissen, daß auch über ihr Schicksal der Würfel schon gefallen ist.
"Du wolltest es selbst sehen", sagt Andrej düster, als die Tür seines Arbeitszimmers hinter uns ins Schloß fällt. Er sagt es eilig, als wolle er sich rechtfertigen, als wolle er dem, was ich sagen muß, zuvorkommen.
"Warum wurde er verhaftet?" frage ich.
"Gerade deswegen, wofür Du Dich interessiert hast", sagt Andrej und läßt sich müde in den Sessel fallen. "Ein Mensch, der offen erklärt – ja, ich bin dagegen. Den ganzen Krieg hat er tnitgemacht – vom ersten bis zum letzten Tag. War viele Male verwundet, viele Male ausgezeichnet. Als er nach dem Krieg aus dem Heeresdienst entlassen werden sollte, ließ er seine Dienstzeit aus freien Stücken verlängern. Und dann, vor einem Monat, wurde er wegen sowjetfeindlicher Propaganda in der Armee verhaftet. Seine Verhaftung hat ihm den Rest gegeben. Reißt sich das Hemd von der Brust und schreit: «Ja! Ich bin dagegen!»"
"Hast Du ihn verhört?" frage ich.
"Ja..." antwortet Andrej nach kurzem Zögern.
"Wodurch erklärst Du Dir das alles?"
"Er verbrachte vor kurzem seinen Urlaub in Rußland. Kam nach Hause – alles leer. Die alte Mutter nach Sibirien verschickt – wegen Kollaboration. Sie hat während der deutschen Besetzung, um nicht zu verhungern, bei den Deutschen Geschirr gewaschen. Den jüngeren Bruder hatten die Deutschen 1942 zur Arbeit nach Deutschland verschleppt. Nach der Repatriierung wurde er zu zehn Jahren Bergwerk verurteilt... Und überhaupt – er sah, was dort vor sich ging. Als er zum Truppenteil zurückkam, fing er an, davon zu erzählen. Was herausgekommen ist – siehst Du selbst!"
"Von was für Mitwissern war da vorhin die Rede?" frage ich.
"Nun, wie üblich", zuckt Andrej mit den Schultern. "Aus einem Menschen muß man eine ganze konterrevolutionäre Bewegung aufblähen." "Da hast Du den klaren Beweis, daß jeder ein Feind ist", spricht der Major der Staatssicherheit mit monotoner Stimme weiter. "Äußerlich – ein vorbildlicher Sowjetmensch. Einer von der Sorte, die im Krieg mit dem Schrei: «Es lebe Stalin!» auf den Lippen fielen. Wenn man aber tiefer gräbt..."
"Du hältst ihn also für einen ideologischen Feind?" frage ich.
"Er hat noch keine Idee, kein Ziel", antwortet der Major. "Aber er ist schon bis zur Verneinung des Bestehenden gekommen. Die Hauptgefahr liegt darin, daß er – einer von Millionen ist. Wirf in dieses Pulverfaß eine zündende Idee – und die ganze Herrlichkeit fliegt in die Luft."
"Nicht umsonst hat man die Träger der Idee in das STON') hineingetrieben", fügt er tonlos hinzu. "Die Herren im Kreml wissen die Gefahr zu würdigen."
Ich schweige. Als hätte er meine Gedanken erraten, flüstert Andrej hilflos weiter: "Was soll ich denn tun?" Und schreit mit plötzlicher Heftigkeit: "Wozu wolltest Du das sehen? Ich habe Dir doch gesagt..."
Im Halbdunkel des Zimmers sieht Andrejs Gesicht müde und gealtert aus. Seine Augen sind trübe und ausdruckslos. Er weicht meinem Blick aus und blättert mit unruhigen, nervösen Fingern in den Papieren auf dem Tisch.
"Andrej!" rufe ich laut und drehe den Lampenschirm so, daß der volle Lichtschein auf sein Gesicht fällt. Der Major der Staatssicherheit zuckt zusammen, hebt den Kopf und sieht mich verständnislos an. Ich blicke ihm scharf in die Augen. Andrejs schwarze Augen sind fest und ohne das geringste Zucken auf mich gerichtet. Die Pupillen verengen sich nicht, die Pupillen reagieren nicht auf das grelle Licht. Dann sehe ich in Andrejs Augen zum ersten Male Angst aufblitzen.
"Weißt Du, was Lichtreaktion ist?" frage ich so weich, wie ich nur kann (STON ist die russisdie Abkürzüng für Sibirisches Gefängnis zur besonderen Verwendung. Der Ort, an dem die für besonders gefährlich gehaltenen politischen Feinde der UdSSR isoliert werden, die zu lebenslänglicher Gefangenschaft verurteilt sind. Bastille der stalinschen Epoche. Die Abkürzung STON ist gleichzeitig das russische Wort für des »Stöhnen").
"Ich weiß...", antwortet Andrej leise und senkt den Kopf.
"Das heißt, daß Du schon die Grenze erreicht hast", sage ich. "Nach ein paar Jahren wird von Dir nichts übrig bleiben als ein lebender Leichnam."
"Auch das weiß ich", flüstert Andrej noch leiser.
"Findest Du wirklich keinen anderen Ausweg als Morphium?" frage ich und lege meinem Jugendfreund die Hand auf die Schulter.
"Ich finde überhaupt keinen Weg, Grischa... Nein", flüstern die Lippen des Majors der Staatssicherheit.
"Weißt Du, manchmal verfolgen mich – wie nennt man das doch in der Medizin – Wahnvorstellungen", sagt Andrej mit völlig ausdrucksloser Stimme. "Immer und überall verfolgt mich der Geruch von Blut. Nicht einfach von Blut, sondern von frischem Blut. Dieser Teppich, diese Akten. Meine eigenen Hände... Darum komme ich manchmal so unerwartet und plötzlich zu Dir. Ich fliehe vor diesem Geruch." "Beruhige Dich, Andrej", ich erhebe mich von meinem Stuhl. Ich nehme meine Mütze vom Kleiderhaken und werfe einen Blick auf die Uhr: "Es ist schon sechs Uhr früh. Fahren wir in die Stadt!"
Andrej öffnet den Wandschrank und holt einen Zivilanzug heraus. "Jeder von uns muß einen Zivilanzug haben", erklärt er auf meinen schweigend fragenden Blick. "Jetzt benutze ich diesen Anzug auch, um den verfluchten Geruch loszuwerden."
Bevor wir das Zimmer endgültig verlassen, holt Andrej aus seinem Schreibtischfach ein Buch hervor und reicht es mir: "Nimm und lies es. So ein Buch habe ich selten gesehen."
Auf dem Leinenumschlag sehe ich den deutschen Titel "Laßt alle Hoffnungen fahren..." und den Namen der Verfasserin: Irene Kordes. "Ich habe wenig Zeit zum Lesen", entgegne ich. Ein flüchtiges Durchblättern läßt mich erkennen, daß darin von der Sowjetunion die Rede ist. "Ich habe schon genügend ähnliche Dummheiten gelesen. Außerdem noch 1942 als Erscheinungsjahr."
"Darum eben will ich es Dir geben", erklärt Andrej. "Es ist das einzige deutsche Buch über die Sowjetunion, das jeder Deutsche unbedingt lesen sollte. Für mich persönlich ist das Buch noch von einem ganz besonderen Wert. Diese Frau hat vier Jahre in NKWD-Untersuchungshaft zugebracht."
"Es ist doch ein antisowjetisches Buch. Wie bist Du dazu gekommen?" frage ich.
"Wir haben eine Spezialbibliothek. Eine vollständige Sammlung antisowjetischer Literatur, die jemals in deutscher Sprache erschienen ist", antwortet Andrej. "Gewissermaßen eine Auskunftsquelle besonderer Art für die MWD-Funktionäre", erläutert er.
Später las ich das Buch, das Andrej Kowtun mir gegeben hatte. Die Verfasserin, Irene Kordes, lebte zusammen mit ihrem Mann in Moskau. Beide wurden in der Periode der "Jeshowschtschina" ("Jeshowschtschina" bezeichnet man die von M. S. Jeshow geleitete große Säuberungsaktion der Jahre 1936-1938, der die meisten politischen Emigranten, die in der Sowjetunion Zuflucht gesucht hatten, zum Opfer fielen. M. S. Jeshow selbst wurde 1939 seines Postens enthoben und gleichfalls erschossen) einfach aus dem Grunde verhaftet, weil sie auf der Straße deutsch gesprochen hatten.
Das war für die NKWD Grund genug, die beiden Deutschen der Spionage zu beschuldigen. Es folgten vier Jahre voller Leiden und Qualen, vier Jahre Untersuchung in dien Zellen der berüchtigten Ljubjanka und in anderen Gefängnissen der Sowjetunion. Vier Jahre, die den Titel des Buches, der als Motto über dem Tor des Dante'schen Infernos stand, voll und ganz rechtfertigen. Nach der Unterzeichnung des Freundschaftspaktes mit Hitlerdeutschland wurde Irene Kordes freigelassen und nach Deutschland zurückgeschickt. Ihr Mann war in den Mauern der NKWD spurlos verschwunden.
Bezeichnend ist, daß das Buch 1942 veröffentlicht wurde. Dadurch erklärt sich möglicherweise seine äußerst geringe Auflage. Diese kleine deutsche Frau wies wahrhafte Seelengröße auf. Nachdem sie vier Jahre unter Bedingungen zugebracht hatte, in denen jeder andere Mensch sowohl das Regime und das Land als auch das Volk selbst verfluchen lernen würde, das gewollt oder ungewollt die Verantwortung und Schuld für das Sowjetsystem zu tragen hat, hat Irene Kordes in dem ganzen Buch kein einziges Wort des Vorwurfs oder der Beschuldigung gegen das Volk erhoben. Ich forschte aufmerksam nach solchen Stellen. Unter Blut und Qualen wird der Mensch geboren, unter Blut und Qualen lernen die Menschen einander erkennen. Vier Jahre verbrachte Irene Kordes in der Hölle, zusammen mit zehntausenden und hunderttausenden russischer Menschen, die ihr Schicksal teilten, und in dieser Zeit lernte sie das russische Volk kennen, wie es nur wenige Ausländer kennen gelernt haben.
Nachdem ich das Buch gelesen hatte, mußte ich den Worten des Majors der Staatssicherheit, Andrej Kowtun, Recht geben: "Einer solchen Frau kann man nur in Ehrfurcht die Hand küssen. An meinem Tisch haben doch viele Deutsche gesessen. Vielleicht hatten sie ebenso eine Seele, wie diese Frau...". Die Stimme des Majors schwankte.
Die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne vergoldeten die Wipfel der Bäume, als Andrej und ich das Gebäude in der Tiefe des Parks verließen. Frische Morgenluft schlug uns entgegen. Hier, unter den Strahlen der frühen Sonne, erwachte das Leben. Dort aber, hinter unseren Rücken, zwischen Nacht und Tag, zuckte das Leben im Krampf, entwich in Rinnsalen von Blut, ächzte in letzten Todeszuckungen. Mich ergriff der unüberwindliche Wunsch, den Schritt zu beschleunigen, möglichst weit fortzugehen von dem Ort, an dem den Menschen der Geruch dampfenden Blutes verfolgt.
Unser Wagen fährt auf die Autobahn hinaus. Andrej sitzt schweigend am Steuer. In dem verschwommenen Licht des grauenden Morgens erscheint sein Gesicht wächsern und verfallen. Er führt den Wagen ruckhaft und unruhig. Der Motor heult in unregelmäßigem Takt. Das stählerne Herz hat keine Nerven und kann nicht verstehen, warum der Fuß auf dem Gashebel zuckt.
Als wir uns Wannsee nähern, nimmt Andrej den Fuß vom Gashebel und schlägt nach einem Blick auf die Uhr vor: "Du mußt erst um 10 Uhr zum Dienst. Sollen wir nicht an den See fahren? Legen wir uns eine Stunde in den Sand."
"Gut", stimme ich bei.
Auf der weiten Fläche des Sees kräuseln sich leichte Wellen. Möwen fliegen darüber hin, schlagen mit ihren Flügeln die zarten Schaumkronen. Die frische Morgenbrise vertreibt die bleierne Müdigkeit der schlaflosen Nacht, erfrischt den schweren Kopf. Wir ziehen uns aus und werfen uns ins Wasser. Je weiter wir uns vom Ufer entfernen, um so stärker erfaßt mich ein Gefühl von Freiheit und Weite, der unerklärbare Wunsch, immer weiter und weiter hinauszuschwimmen. Ich spüre eine seltsame innere Erleichterung. Als würden die Wellen das Blut dieser Nacht von uns nehmen.
Nach dem Baden legen wir uns in den Sand. Andrej beobachtet die wenigen frühen Schwimmer. Ich blicke in den Himmel, an dem weiße Lämmerwolken segeln.
"Nun, wie ist es? Habe ich Dir bei Deinem Bemühen geholfen, ein wahrer Kommunist zu werden?" fragt Andrej mit hölzerner Stimme und versucht zu lächeln.
"Du hast mir nichts Neues offenbart", erwidere ich und erkenne meine eigene Stimme nicht. Sie klingt fremd und wie aus weiter Ferne. "Viele Dinge sind bei näherem Zusehen unangenehm", füge ich hinzu.
"Du entschuldigst also alle diese Dinge?"
"Man muß versuchen, nicht nur einen Teil, sondern das Ganze zu erfassen", fahre ich fort. "Nicht die Mittel, sondern den Zweck."
"So also ist das... Der Zweck heiligt die Mittel", sagt Andrej bitter. "Du wirst sicher einen besseren Bolschewiken abgeben als ich."
"Ich bin Zögling der Stalinschen Epoche", antworte ich.
"Deiner Ansicht nach ist also alles in bester Ordnung?"
"Ich möchte es gerne glauben..."
"Was fehlt Dir denn dann noch?"
"Ich fürchte, daß mir der Weitblick fehlt", entgegne ich langsam. "Wenn ich das Problem der Zweckmäßigkeit oder Unzweckmäßigkeit des Endzieles gelöst haben werde, dann wird es leicht sein... In beiden Fällen wird es dann leicht sein_...Das ist meine endgültige Antwort, Andrej. Bis dahin aber lassen wir lieber die Gespräche über dieses Thema."
Zwei Mädchen spielen nicht weit von uns mit einem Ball. Eines von ihnen springt im Eifer des Spiels übermütig im schnellen Lauf über uns weg und lacht dabei fröhlich. Andrej schüttelt den Sand von seiner behaarten Brust und versucht zu lächeln, aber das Lächeln erfriert auf seinem Gesicht und macht einem Ausdruck von Gleichgültigkeit und Müdigkeit Platz.
"Sieh sie Dir an!" sagt er und nickt mit dem Kopf in Richtung der Mädchen. "In ihnen pulsiert das Leben. Wir aber sind nicht einmal mehr imstande, uns zu freuen. Greise sind wir..."
"Du mußt Urlaub nehmen und Dich gründlich erholen", sage ich.
"Das hilft nichts", seufzt Andrej tonlos. "Ich brauche etwas anderes." "Du mußt entweder den Glauben finden, der Deine Tätigkeit rechtfertigt, oder..." Ich weiß nicht, was ich weiter sagen soll.
"Für mich ist es schon zu spät zu suchen, Grischa", schüttelt Andrej den Kopf und blickt in den Sand. "Ich habe mir die Flügel verbrannt. Jetzt muß ich weiterkriechen..."
2.
Die kleine Lisa war ein bezauberndes Kind. Wenn sie mit ihrer alten Gouvernante auf dem Gogolewskij Boulevard spazierenging, pflegten die Menschen, die dort mit ihren Kindern auf den Bänken ausruhten, ihren Kleinen belehrend zu sagen: "Schau doch mal, was für ein nettes Mädchen. Sieh nur, wie es sich gut benimmt!" Und dann wandten sie sich an ihre Banknachbarn und wiegten neiderfüllt den Kopf: "Ach! was für glückliche Kinder gibt es doch. Wenn sie groß wird, wird sie ein Mensch sein..."
Die kleine Lisa hörte diese Gespräche, zupfte hochmütig an ihrem Samtkleidchen und wandte sich betont laut in deutscher Sprache an ihre Gouvernante. Die Menschen flüsterten dann erstaunt hinter ihr her: "Wahrscheinlich eine Ausländerin..."
Lisas Vater gehörte zu den Menschen, die sich dem Leben anzupassen verstehen. Er war rechtzeitig der Partei beigetreten, wußte das rechte Wort zur rechten Zeit zu sagen und verstand es im übrigen noch besser, seine Zunge im Zaum zu halten. Auf diese Weise gelangte er in die Leitung eines der großen Handelstrusts in Moskau. Hoch genug, um die materiellen Vorteile seiner Dienststellung ausnutzen zu können, und wiederum nicht hoch genug, um das Risiko der Verantwortlichkeit für das Schicksal des Betriebes übernehmen zu müssen. Seine Söhne hatte er vorsorglich im Geiste seiner eigenen Karriere erzogen. Die Töchter aber hatte er mit Männern zu verheiraten verstanden, die der Familie nicht nur materiellen Wohlstand garantieren konnten, sondern auch den Glanz gesellschaftlichen Lebens. Lisa war die jüngste Tochter und der Liebling des Vaters. Seit frühester Kindheit war sie an laut geäußerte Begeisterung seitens der Verwandten und Bekannten und an naiven kindlichen Neid seitens ihrer Altersgenossinnen gewöhnt. So vergingen die Jahre. Im Herbst fielen auf dem Gogolewskij Boulevard die Blätter von den Bäumen, im Frühling sprangen die duftenden Knospen wieder auf. Lisa absolvierte die Schule und war nun ein erwachsenes junges Mädchen. Klar und nüchtern betrachtete sie das Leben. Als die Zeit gekommen war, die Entscheidung über ihr weiteres Leben zu treffen, beschloß sie, nachdem sie sich mit ihrem Vater beraten hatte, in das Moskauer Institut für Fremdsprachen – MIJ – einzutreten. Das gewährleistete ihr ein verhältnismäßig leichtes Studium und nach Absolvierung die Aussicht auf eine ebenso leichte Tätigkeit, überdies war das MIJ dafür bekannt, daß es häufig das Sprungbrett für viele lockende Ziele ist – das Außenministerium, das Ministerium für Außenhandel und andere Behörden, von denen man nur im Flüsterton spricht. Unter den jungen Mädchen von Moskau sind viele geheimnisvolle Gerüchte im Umlauf über das massive gelbe Gebäude in der Metrostrojewskaja Uliza. Bis hierher dringen die Geräusche des fernen und rätselvollen Auslandes, hier umschwebt der süß berauschende Duft von Coty die Köpfe, hier tanzen auf den Studentenbällen die Prinzen der Mädchenträume, gekleidet nach dem letzten Schrei der ausländischen Mode. Die Tore des MIJ erschienen Lisa wie die Tore zur terra incognita.
Dank ihrer guten deutschen Sprachkenntnisse, die sie bereits als Kind erworben hatte, und den Verbindungen ihres Vaters wurde Lisa ohne Schwierigkeiten in das Institut aufgenommen. Gleich im ersten Jahr lenkte sie durch ihren scharfen Verstand und ihre großartigen Studienerfolge die Aufmerksamkeit der Professoren auf sich. Es war für Lisa Ehrensache, eine hervorragende Studentin zu sein. In ihrer Kindheit war sie gewohnt an die allgemeine Begeisterung und das Aufsehen, das ihre langen Locken, ihre schönen Kleidchen und die teuren Spielzeuge erweckten. Mit den Jahren wurde dieses Gefühl für sie zu einem krankhaften Bedürfnis. Jetzt bemühte sie sich, Begeisterung und Neid ihrer Umgebung auf anderen Wegen herauszufordern. Sie gab sich größte Mühe, die übrigen Studenten in jeder Beziehung zu überflügeln und auszustechen – im Studieren, im Benehmen und in ihrer Kleidung. Und Lisa erreichte, was sie wollte. Die Professoren schoben sie überall in den Vordergrund. Ihre Studienkolleginnen rümpften über ihr exzentrisches Benehmen die Nase. Die jungen Leute blickten hinter ihrer schlanken Gestalt her und staunten über ihre herausfordernden Manieren und ihre Kleidung.
So verging das erste Schuljahr. Es begann das zweite. Durch die Metro- strojewskaja Uliza fegte ein eisiger Herbstwind, als Lisa eines Morgens wie gewöhnlich die Stufen zum Institutsgebäude emporsprang. Im Korridor war es kalt. Die Hände in die Ärmel ihres Mantels gesteckt, ging Lisa eilig zu ihrem Auditorium, um noch vor Beginn der Vorlesungen mit ihren Freundinnen die Tagesneuigkeiten besprechen zu können. Kaum war sie zu der Gruppe von Studenten getreten, die sich lärmend vor der Tür des Vorlesungsraumes versammelt hatte, als der Gruppenälteste sie zur Seite rief. "Lisa, für Dich liegt eine Vorladung der Spezialabteilung vor", flüsterte er streng. "Du sollst Dich sofort melden."
Die Spezialabteilung des Instituts befand sich im Raum neben dem Rektorzimmer. Niemand von den Studenten kannte die Funktionen dieser Abteilung. Man konnte sie nur ahnen. Die Tür zu diesem Raum wurde nur selten geöffnet. Und die Menschen, die hier herauskamen, gingen nicht, sondern glitten hinaus und versuchten dabei die Tür nur einen Spalt breit zu öffnen und sie möglichst leise wieder zu schließen. Nach leisem Klopfen öffnete Lisa vorsichtig die Tür zu dem geheimnisvollen Zimmer. Hinter dem Schreibtisch saß eine Frau mit betont selbstsicherem Benehmen, wie es Frauen haben, die den Posten eines Mannes ausfüllen. Gerüchtweise hatte Lisa gehört, daß diese Frau die Leiterin der Spezialabteilung war. Ohne die Zigarette aus dem Mund zu nehmen, nahm die Frau aus dem hinter ihr stehenden Panzerschrank einen Aktendeckel heraus, wobei sie bestrebt war, ihn so zu halten, daß Lisa den Inhalt nicht sehen konnte. Dann warf sie Lisa einen prüfenden
Blick zu und verglich sie mit der vorliegenden Fotografie. Die Minuten schienen sich endlos zu dehnen. Lisa blickte sehnsüchtig nach den Dächern der Häuser hinter dem Fenster und dachte: "Entweder werde ich verhaftet oder aus dem Institut gejagt . .
Endlich streckte die Frau mit den Manieren eines Mannes Lisa einen versiegelten Umschlag entgegen und sagte: "Heute abend um neun Uhr finden Sie sich an der angegebenen Adresse ein."
Lisa warf einen Blick auf den Umschlag und die Buchstaben begannen vor ihren Augen zu tamzen. Auf dem Couvert stand: "Ljubjanskaja Ploschtschadj.') Eingang 8. Zimmer 207."
"Sagen Sie in der Kommandantur Ihren Namen", erläuterte die Leiterin der Spezialabteilung. "Sie werden erwartet."
An diesem Tag war Lisa außergewöhnlich zerstreut. Sie hörte fast nichts von dem, was die Professoren vortrugen und konnte sich nicht auf ihre Konzepte konzentrieren. In ihrem Kopf hämmerten ohne Unterlaß die Worte: "Lubjanskaja Ploschtsdiad... Neun Uhr abends..." Immer wieder öffnete sie vorsichtig ihre Aktentasche und blickte hinein. Der graue Umschlag mit der unheilverkündenden Adresse befand sich an seinem Platz.
Pünktlich um fünf Minuten vor neun schritt Lisa durch die bronze- beschlagene Flügeltür der Hauptverwaltung der NKWD auf der Ljubjanskaja Ploschtschad. Der wachhabende NKWD-Leutnant rief irgendwo an und händigte ihr daraufhin einen Propusk aus. Dann der Eingang Nr. 8, Treppen, Korridore und endlich eine Tür mit dem Schild "207". Mit stockendem Herzen berührte Lisa fast unhörbar die Tür mit dem Knöchel ihres Fingers.
"Sie sind pünktlich. Ein gutes Zeichen", sagte mit freundlichem Lächeln ein junger Mann im Zivilanzug, indem er ihr die Tür öffnete. "Bitte .treten Sie ein!" Er wies höflich auf einen bequemen Sessel gegenüber dem Schreibtisch. Lisa ließ sich automatisch auf den Sessel nieder, zog die Füße nahe heran und wagte nicht, sich zurückzulehnen. Mit versagender Stimme nannte sie ihren Namen.
"Sehr angenehm, sehr angenehm", der Unbekannte verzog sein Gesicht zu einem liebenswürdigen Lächeln. "Darf ich Ihnen eine Zigarette anbieten?" Er streckte Lisa eine Schachtel teurer Zigaretten über den Tisch entgegen. Lisas bebende Finger konnten lange mit der Stanniolhülle nicht fertig werden, schließlich nahm sie vorsichtig eine Zigarette heraus, ohne begreifen zu können, was dieser gastfreundliche Empfang wohl bedeutet.
"Wünschen Sie vielleicht Tee? Oder Kaffee?" erkundigte sich der zuvorkommende Unbekannte. Lisas Verwirrung stieg. Ohne die Antwort des Mädchens abzuwarten, drückte der gastfreundliche Hausherr auf einen Knopf auf seinem Tisch und schon nach wenigen Minuten stand ein vernickeltes Tablett mit Kaffee, Keksen und einer Schachtel Schokoladenkonfekt vor Lisa.
Um ihre Unsicherheit und Schüchternheit zu verbergen, nahm Lisa ein kleines Stück Keks. Es kam ihr bitter vor und blieb im Halse stecken (Ljubjanka, Platz).
"Was glauben Sie wohl, warum ich Sie hierher gebeten habe?" sagte der Unbekannte weich; er steckte sich eine Zigarette an und betrachtete Lisa von der Seite.
"Ich weiß nicht . . antwortete Lisa mit zitternder Stimme und fühlte, wie ihr Herzschlag stockte.
"Wir interessieren uns schon lange für Sie", begann der Mann im Zivilanzug, lehnte sich gemütlicher in seinen Sessel zurück und richtete seinen Blick auf einen unsichtbaren Punkt über Lisas Kopf. "Sie sind ein kultiviertes und anziehendes Mädchen. Ich möchte sogar sagen, ein sehr anziehendes." Er betonte das Wort "anziehend". "Außerdem sind Sie aus einer guten sowjetischen Familie", fuhr der Unbekannte fort. "Ihr Vater ist altes Parteimitglied. Sie selbst haben sich im Institut als aktive Komsomolzin hervorgetan. Wir haben sehr günstige Gutachten über Sie."
Der Mann am anderen Ende des Tisches machte eine Pause und warf Lisa einen Blick zu, um den Eindruck seiner Worte zu prüfen. Der Ausdruck von Sorge und Aufregung verschwand allmählich aus Lisas Gesicht und machte angespannter Erwartung Platz.
"Wir bestrafen nicht nur die Feinde der Sowjetmacht", fuhr der Mann fort. "Wir tragen vielmehr auch dazu bei, daß die Kader der echten Sowjetmenschen wachsen. Selbstverständlich nur in den Fällen, wenn diese Menschen sich als würdige Bürger der Sowjetunion erweisen, die der Partei und dem Genossen Stalin ergeben sind. Da wir über Sie so günstige Gutachten haben, halten wir es für unsere Pflicht, uns auch um Ihr weiteres Schicksal zu kümmern."
Der Mann machte erneut eine Pause, schaute noch einmal zu Lisa hinüber, die mit gesenkten Augen am Tisch saß, und fragte dann: "Sagen Sie, haben wir nicht recht, wenn wir Sie für einen treuen Sowjetmenschen halten und Ihnen helfen wollen, eine Karriere zu machen?" "Ich bin noch zu jung", brachte Lisa verwirrt hervor. "Bisher hatte ich noch nicht die Möglichkeit . .
"Oh, ja, ich verstehe", pflichtete der Mann ihr bei. "Sie hatten schon immer den Wunsch, ihre Ergebenheit gegenüber der Partei unter Beweis zu stellen, hatten aber bisher keine Gelegenheit dazu. Nicht wahr?"
"Ja... Ich habe mich immer bemüht...", stammelte Lisa. "Ichhabe immer die Komsomolversammlungen besucht."
"Ich weiß. Die Komsomolorganisation hat Sie wärmstens empfohlen", nickte der Mann am Schreibtisch ihr beruhigend zu. "Wie Sie sehen, habe ich mich ziemlich eingehend mit Ihrer Person befaßt, ehe ich Sie hierher bat."
"Und nun sind wir der Ansicht, daß Sie sich Ihrer Sache genügend bewußt sind, um sich in der Tat bewähren zu können", fuhr er fort. "Sie studieren im Institut für Fremdsprachen. Sie wissen, daß nach dem Abschluß des Studiums manche Absolventen die Möglichkeit haben werden, mit Ausländern zusammenzuarbeiten oder sogar eine Berufung ins Ausland bekommen. Das ist für jeden Absolventen eine hohe Ehre. Hätten Sie keine Lust, auch zu diesen Auserwählten zu gehören?" Die Stimme am anderen Ende des Tisches klang einschmeichelnd und weich.
"Natürlich, Genosse...", rief Lisa bereitwillig aus, fügte dann aber sofort vorsichtig hinzu: "Wenn das im Interesse der Partei und der Regierung liegt." Sie begriff jetzt, daß dieses Mal der abendliche Besuch im NKWD weit entfernt war von jenen Unannehmlichkeiten, die ihr als Alpdruck vorgeschwebt hatten. Vielleicht wird ihr gerade jetzt die Chance geboten, von der man in den Wandelgängen des Instituts nur zu flüstern wagt. Lisa beschloß, alle ihre Fähigkeiten einzusetzen, um die am Horizont auftauchende rätselhafte Möglichkeit nicht entschlüpfen zu lassen.
"Nennen Sie mich Konstantin Alexejewitsch", erlaubte der Mann in freundschaftlichem Ton und schob Lisa die Schokoladenschachtel näher zu. "Ich sehe, daß Sie ein kluges Mädchen sind. Arbeit im Ausland oder mit Ausländern! Wissen Sie, was das bedeutet? Das bedeutet Seide aus Lyon, Parfüm aus Paris und die besten Restaurants der Welt. Das bedeutet besondere Privilegien für die Mitarbeiter des Auslandsdienstes. Höhere Gesellschaft. Glanz, ein leichtes und schönes Leben, erfüllt von Vergnügungen. Männer zu ihren Füßen..."
Konstantin Alexejewitsch holte Atem und warf Lisa einen schnellen Blick zu. Lisa saß unbeweglich wie in Trance. Ihre Augen leuchteten vor Erregung. Das angebissene Schokoladenkonfekt schmolz zwischen ihren Fingern.
"Aber all das ist möglich nur unter einer Bedingung", brachte Lisas neuer Bekannter mit einem leichten Seufzer des Bedauerns hervor und legte seine Hand mit gespreizten Fingern auf den Tisch, als wollte er andeuten, daß der Weg zum schönen Leben durch eben diese Hand gehe. "Diese Bedingung ist – unser absolutes Vertrauen. Und dieses Vertrauen besitzt nicht jeder. Man muß es verdienen."
Die letzten Worte Konstantin Alexejewitschs erschienen Lisa unbarmherzig und kalt. Für einen Augenblick fühlte sie erneut Hilflosigkeit und Furcht. Aber schon in der nächsten Sekunde zerstreuten die sehnsüchtigen Wunschträume nach einem glanzvollen Leben und bewundernden Blicken die Zweifel und Befürchtungen Lisas.
"Was muß ich tun?" fragte sie sachlich.
"Oh, verschiedene Aufträge, die Ihnen die Gelegenheit bieten werden, Ihre Ergebenheit gegenüber der Partei zu beweisen", erklärte Konstantin Alexejewitsch in einem Ton, als handle es sich um Kleinigkeiten. "Das ist leichter getan als erklärt." Dann, als hätte er die Einwilligung des Mädchens bereits erhalten, erläuterte er in sachlichem Ton: "Sie werden eine zusätzliche Sonderschulung durchmachen. Für jeden einzelnen Auftrag werden Sie eine entsprechende Instruktion erhalten... und die entsprechenden Mittel für die notwendigen Ausgaben."
"Ja, aber vielleicht werde ich manchen Anforderungen nicht gewachsen sein", versuchte Lisa, die eine so rasche Wendung der Dinge nicht erwartet hatte, sich schwach zu widersetzen. "Vielleicht werde ich einfach nicht imstande sein..." Instinktiv versuchte sie sich einen Rückzugsweg zu sichern.
"Wir werden Ihnen helfen", beruhigte sie Konstantin Alexejewitsch. "Außerdem wissen wir aus den uns vorliegenden Personalcharakteristiken sehr gut, was Sie können. Jetzt möchte ich Sie bitten, dieses Papier hier zu unterschreiben." Er schob Lisa ein Standardformular über den Tisch und zeigte ihr, wo der Platz für die Unterschrift freigelassen war. Lisa überflog mit raschem Blick das Formular. Es war die Verpflichtung zur Mitarbeit und Stillschweigen; im Falle von Zuwiderhandlungen wurden "alle erforderlichen Maßnahmen zum Schutze der Staatssicherheit der Sowjetunion" angedroht. Das strahlende Bild einer glänzenden Zukunft schien sich vor Lisas Augen zu verdüstern. Konstantin Alexejewitsch reichte Lisa einen vorsorglich bereitgehaltenen Federhalter. Lisa unterschrieb.
Auf diese Weise erfüllte sich der Wunsch einer der Studentinnen des Moskauer Instituts für Fremdsprachen nach einem schönen Leben. Und auf diese Weise ergänzte das granitene Gebäude der Ljubjanka die Reihen seiner Lockspitzel. Schon nach kurzer Zeit wurde Lisa, ohne ihr Studium am Institut zu unterbrechen, zu einer vorbildlichen Sirene der NKWD.
Während des Krieges gab es in Moskau keine deutschen Ausländer im eigentlichen Sinne dieses Wortes. Daher wurde Lisa in die Kreise der wenigen deutschen Antifaschisten eingeführt, die irgendwann als Politemigranten in die Sowjetunion gekommen waren und die endlosen Säuberungen glücklich überstanden hatten. Bald erwies sich diese Arbeit aber als zwecklos. Denn es waren nur diejenigen deutschen Kommunisten noch in Freiheit, die selbst Geheimagenten der Ljubjanka waren. Die NKWD vermittelte Lisa diese Bekanntschaften daher nur in dem Wunsch, ein übriges Mal die Zuverlässigkeit der eigenen Spitzel zu überprüfen.
Jedoch die Deutschen, durch Erfahrungen klug geworden, beweihräucherten Stalin in allen Tonarten und wiederholten unisono die in jenen Jahren moderne Losung; "Schlagt die Deutschen!" Lisa widerten diese Art Ergebenheitsbezeugungen an und sie ärgerte sich über den Mangel an Gelegenheit, ihr Können unter Beweis zu stellen.
Nach kurzer Zeit schon überzeugte sich auch Konstantin Alexejewitsch, der direkte Vorgesetzte Lisas, von ihrem scharfen Verstand und ihrem für eine Frau ungewöhnlich breiten Bildungshorizont. Lisa war eine wahre Meisterin darin, ein Gespräch über jedes beliebige Thema anzuknüpfen und zu führen. Man übertrug ihr die Bespitzelung hoher Parteifunktionäre. In Zusammenhang damit wurde Lisa die Möglichkeit geboten, die geschlossenen Klubs der verschiedenen Volkskommissariate zu besuchen und selbst den ganz besonders exklusiven Klub des Volkskommissariats für Äußeres auf dem Kusnezkij Most.
Die Resultate von Lisas Arbeit wurden in den Aktenschränken und Gefängnissen der NKWD aufbewahrt. Als Beweis ihrer erfolgreichen Arbeit dient die Tatsache, daß Lisa längere Zeit hindurch an der "inneren Front" eingesetzt wurde. Die Arbeit mit Ausländern wird nach der Klassifizierung der NKWD nicht sehr hoch bewertet. Bei den Ausländern interessiert man sich für äußere Einzelheiten und Tatsachenmaterial. Bei den "Bibern", d. h. den hohen Sowjetfunktionären dagegen interessiert man sich für deren geheimste Gedanken und Stimmungen. Diese Arbeit ist bedeutend schwieriger und erfordert von der "Sirene" wahre Meisterschaft.
Im Frühjahr 1945 absolvierte Lisa als eine der Besten das Institut. Damals wurden viele Absolventen zur Arbeit in der Sowjetischen Militär- Administration nach Deutschland abkommandiert. In diesen Strom geriet auch Lisa. Wiederum mit Spezialaufträgen. Sie wurde einem Mitglied des Sonderkomitees für Demontagen beim SNK der UdSSR, einem General, als Dolmetscherin und gleichzeitig als NKWD-Beobach- terin zugeteilt, dem die Aufgabe übertragen war, die Möglichkeiten für eine möglichst rationelle Ausnutzung der Wirtschaftsreserven der Sowjetzone Deutschlands zu studieren.
Nachdem der General nach Erledigung seiner Aufgaben nach Moskau zurückgekehrt war, wurde Lisa der Kaderabteilung des Stabes der SMA zugeteilt. Auf ihrer Personalakte befand sich der Vermerk: "Verwendung in Übereinstimmung mit der Verwaltung für Staatssicherheit". Ein paar Tage darauf wurde Lisa persönliche Dolmetscherin des Wirtschaftsdiktators Deutschlands, General Schabalin.
So machte ich die persönliche Bekanntschaft Lisa Steninas. Kurz darauf erteilte Major Kusnezow mir eine heimliche Warnung. Da er schon lange mit dem General zusammenarbeitete, hatte er entsprechende Erfahrungen gesammelt. Ahnte der General, was für Leute in seiner Umgebung waren? Später konnte ich mich überzeugen, daß er Ursache hatte, niemandem zu trauen. Hier einige Beispiele.
Die Ordonnanz des Generals, Nikolaj, diente seinerzeit bei denNKWD- Truppen. Gemäß den Gepflogenheiten der Sowjetunion bleiben die Menschen, die irgendwann irgendwelche Beziehungen zur NKWD hatten – nicht nur ehemalige Mitarbeiter, sondern auch ehemalige Gefangene der NKWD – immer in Verbindung mit dieser Behörde. Der General wußte das natürlich. Nikolaj war der Bursche, gleichzeitig aber der Wächter seines Herrn.
Das Dienstmädchen des Generals, Dussja, war ein liebes, stilles Mädchen. Ende 1945 wurden alle ehemaligen jungen Repatriantinnen, die bis dahin in untergeordneten Stellungen tätig gewesen waren, in die Heimat zurückgeschickt. Zum allgemeinen Erstaunen blieb Dussja da. Damals nahm man an, daß sie das der Protektion des Generals zu verdanken habe. Als aber auch der General nach Moskau zurückkehrte und Dussja trotzdem in Karlshorst blieb, nahmen die Leute an, daß Dussja einen anderen hochstehenden Beschützer habe. Nur wenige ahnten, was das für ein Beschützer war.
Dussja war ein sehr nettes Mädchen, aber immer machte mich der Ausdruck stiller Trauer und unbestimmter Depression betroffen, der das frische Gesicht des Mädchens überschattete. Sie wußte, welches Schicksal ihre Freundinnen betroffen hatte, die in die Heimat zurückgeschickt worden waren. Und sie wußte, daß letzten Endes auch sie dieses Schicksal ereilen würde. Und gleichzeitig mußte sie als Instrument in der Hand jener Menschen dienen, die morgen schon ihre Gefängniswärter sein würden.
So waren also Bursche, Hausmädchen und persönliche Dolmetscherin des Generals Spitzel des MWD. Später konnte ich mich an Hand offizieller Quellen davon überzeugen. Ich glaube, der General war nicht so dumm, um das nicht zu merken. Und wenn er es vielleicht auch nicht im einzelnen Fall merkte, so wußte er doch aus Erfahrung, daß es so sein mußte. Der Einfachheit halber betrachtete er alle seine engeren Mitarbeiter als Auskundschafter des MWD. Darunter auch mich.
Nach der Warnung Kusnezows wurde ich im Verkehr mit Lisa vorsichtiger. Daraufhin weihten mich die ehemaligen Freundinnen Lisas, die mit ihr zusammen im Institut studiert hatten, und jetzt als Dolmetscherinnen im Hauptstab arbeiteten, in Lisas Geheimnis ein. Lisa war nicht nur unbändig ehrgeizig, sondern auch grenzenlos prahlsüch- tig. Unter diesen Voraussetzungen konnte das "Vertrauen des MWD' nicht sehr lange ein Geheimnis bleiben. Später erfuhr ich auch die Einzelheiten aus anderer Quelle.
Eines Abends kam Lisa unter irgendeinem Vorwand zu mir. In Karlshorst war es üblich, Bekannte ohne besondere Einladungen zu besuchen. Nachdem sie sich in den Zimmern umgesehen hatte, machte Lisa es sich ungeniert auf der Couch bequem und erklärte: "Gregory Petrowitsch, Sie sind ein schlechter Kavalier. Und zudem noch ein Geizkragen."
Als Antwort auf meinen fragenden Blick zog sie die Füße auf die Couch und befahl: "Holen Sie mal aus dem Schränkchen dort eine Flasche Wein und fühlen wir uns wie zu Hause."
"Ich fühle mich auch so wie zu Hause", bemerkte ich.
"Seien Sie nicht so abscheulich", schnurrte Lisa wie eine Katze. "Ich fahre bald fort. Obwohl ich Sie nicht ausstehen kann, möchte ich doch gerne mit Ihnen Abschied feiern."
"Die Liebe ist gegenseitig", seufzte ich. "Gleichzeitig tut es mir aber doch irgendwie leid, daß Du fortfährst."
Es war die Zeit, als Lisa nach der Abreise General Schabalins auf einen neuen Arbeitseinsatz wartete. Da ich für den Abend nichts Besonderes vorhatte, beschloß ich, ihn in Lisas Gesellschaft zu verbringen. "Also tut es Ihnen doch leid, sich von mir zu trennen?" Lisa blickte mich mit ihren dunkelbraunen Augen an. "Geben Sie es nur zu!"
Wenn man von den weiblichen Reizen Lisas sprechen soll, muß man zugeben, daß das Anziehendste an ihr ihre weltstädtische Art, ihre vielseitige Bildung und die Kultiviertheit in Verein mit einer unübertrefflichen Vulgarität ist. Eine solche Mischung zieht allein durch ihre Einmaligkeit unwillkürlich an.
"Du interessierst midi genau so, wie die hübsche Haut einer Schlange", gab ich zu.
"Warum weichen Sie mir aus, Gregory Petrowitsch?" fragte Lisa. "Wir müßten uns doch allen Voraussetzungen nach besser verstehen als sonst jemand."
"Das ist es ja gerade, Lisa", sagte ich und berührte ihre Schulter. Sie hob den Kopf und blickte mir in die Augen.
"Sei mir nicht böse, Lisa", sagte ich. "Soll ich Dir einmal wahrsagen? Hör zu! Du wirst einen betagten General heiraten. Nur dadurch wirst Du Deine Lebensbedürfnisse befriedigen können. Du betrachtest das Leben nüchtern genug, um einzusehen, daß meine Wahrsagung richtig ist."
Lisa schaute midi leicht verwirrt an und versuchte zu begreifen, wie meine Worte aufzufassen waren, als Scherz oder als Ernst. Dann begann sie sicher und leidenschaftlich zu sprechen, als wolle sie sich rechtfertigen: "Gut... Offenheit gegen Offenheit! Ja, ich werde einen Mann heiraten, der eine möglichst hohe Stellung hat. Wahrscheinlich wird er nicht mehr jung sein. Was ist denn aber die sogenannte reine Liebe gegenüber dem, was mir ein Mann in hoher Stellung bieten kann? Hübsche Jungen kann ich überall auf der Straße auflesen, und sie werden tun, was ich will. Ha! Liebe? Mögen die anderen ohne Strümpfe herumlaufen und reine Liebe mimen. Macht muß man haben —Geld oder eine hohe Stellung. Dann, und nur dann kann man begreifen, wie billig Liebe ist..."
"Geschmackssache", zuckte ich mit den Schultern.
"Nicht eine Sache des Geschmacks, sondern des Verstandes", ent- gegnete Lisa, ihre Augen blitzten und sie zitterte vor Erregung. "Sie, Gregory Petrowitsch, sind alt genug um zu verstehen, daß Leben – Kampf ist. Daß es Starke und Schwache gibt. Wenn man leben will, muß man stark sein. Wenn man selbst schwach ist, muß man den Starken dienen. Gleichheit, Brüderlichkeit? Ha! Wo sehen Sie das? Schöne Märchen für Dummköpfe..."
"Du betrachtest das Leben sehr kritisch", bemerkte ich.
"Ja, ich will oben sein und nicht unten", fuhr Lisa wie im Traume fort. "Man kann das Leben nur fassen, wenn man es von oben betrachtet. Lind dazu braucht man Flügel..."
"Lisa, heute gefällst Du mir", sagte ich beinahe aufrichtig. "Manchmal ist das Leben wirklich nicht leicht. Manchmal sucht man nach einem schönen Märchen. Wie Du gesagt hast – nach einem Märchen für Dummköpfe. Aber... erinnerst Du Dich an die Sage von Ikarus? Das ist ein Märchen für die Klugen. Auch er wollte Flügel haben... Weißt Du noch, wie es endete?"
Lisa blickte mich verständnislos an. "Was wollen Sie damit sagen, Gregory Petrowitsch?" fragte sie unsicher.
"Einfach so – eine Gedankenverbindung..." antwortete ich.
Zu Beginn des Jahres 1946 wurde Lisa als Dolmetscherin der sowjetischen Delegation beim Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozeß zugeteilt. Sie blieb über ein Jahr dort. In dem Dokumentarfilm über den Nürnberger Prozeß kann man inmitten des technischen Personals der Alliierten im Gerichtssaal flüchtig Lisas Gesicht erkennen. Selbstverständlich erfüllte Lisa auch in Nürnberg nebenbei eine andere Aufgabe, ihre Hauptaufgabe. Wer waren die Opfer der Sirene aus dem Kreml – naive Amerikaner, korrekte Engländer, galante Franzosen? Lisa ist interessant als leuchtendes Beispiel eines neuen Typs von Sowjetmenschen. Dieser Typ ist das Erziehungsprodukt der Stalinschen Epoche und verfügt über alle Voraussetzungen für einen erfolgreichen Lebensweg unter den Bedingungen des Sowjetsystems. Aufgewachsen in einer Umgebung, die Freiheit des Geistes und der Idee ausschließt, ist das Bewußtsein dieser Menschen automatisch auf die materiellen Seiten des Lebens ausgerichtet. Die treibende Kraft ist hier der Wunsch, eine möglichst hohe Stufe auf der sozialen Leiter zu erklettern. Die Mittel? Leute vom Schlage Lisas sind dazu erzogen worden, über die moralische Seite ihrer Handlungen nicht nachzudenken. Die Sowjetmoral rechtfertigt alles, was den Interessen der Partei dient. Unwillkürlich zieht man Vergleiche zwischen Andrej Kowtun und Lisa Stenina. Beide stehen sie im Dienste einer und derselben Sache. Andrej erfüllt seine Aufgaben mit innerem Protest, jedoch ohne die Möglichkeit, irgend etwas zu ändern. Lisa dagegen – völlig freiwillig und bewußt. Andrej hat schon zur Genüge erkannt, daß er nur ein hilfloser Sklave des Systems ist. Lisa strebt nach oben. Vielleicht wird auch sie bald der Geruch des Blutes verfolgen.