Eines Tages klingelte mein Tischtelefon. Ich nahm den Hörer ab.
“Ist dort der Stab der Sowjetischen Militär-Administration?” läßt sich eine unbekannte Stimme vernehmen.
“Ja.”
“Major Klimow?”
“Jawohl, persönlich.”
“Guten Tag, Klimow”, und nach einer kurzen Pause: “Hier istdie Hauptverwaltung des MWD in Potsdam.”
“Bitte. Wen wünschen Sie?”
“Sie”, lautet die kurze Antwort.
“In welcher Angelegenheit?”
“Ein Major der Staatssicherheit möchte Sie sprechen.”
“Bitte. In welcher Angelegenheit?”
“In einer höchstpersönlichen Angelegenheit”, sagt die Stimme mit leicht ironischem Unterton und betont dann höflich: “Wann sind Sie zu sprechen?”
“Jederzeit”.
“Wir würden Sie gerne außerhalb der Dienstzeit besuchen. Seien Sie heute abend nach Dienstschluß zu Hause. Ihre Adresse? Übrigens nein, ist nicht nötig, wir haben sie. Bis nachher – alles Gute!”
“Auf Wiederhören.”
Offengesagt hielt ich den Anruf für den dummen Scherz irgendwelcher Freunde. Wozu bloß diese idiotische Komödie, und dazu noch telefonisch! Als könnte man keinen anderen Weg ausfindig machen, mich zu Hause anzutreffen.
Am Abend liege ich zu Hause auf dem Sofa und lese Zeitungen. Den angekündigten Besuch hatte ich ganz und gar vergessen. Nicht einmal als es klingelt, fällt mir die Sache ein. Mit der Zeitung in der Hand gehe ich öffnen.
Im Treppenhaus steht ein Offizier. Die Flurlampe beleuchtet eine grellblaue Kopfbedeckung mit himbeerrotem Rand und blau eingefaßte Schulterstücke. Kein Zweifel – MWD-Uniform! Die MWD-Funktionäre tragen in Deutschland gewöhnlich die normale Militäruniform oder Zivilkleidung. Zum ersten Male seit Ende des Krieges sehe ich wieder den himbeerroten Mützenrand und das... in meiner Wohnung!
Ich fühle eine unangenehme Leere in der Herzgegend. Dann blitzt es mir durch den Kopf: “Er ist allein. Dann kann es noch nicht so schlimm sein. Einer gegen einen – das ist bei Verhaftungen nicht üblich”.
“Gestatten Sie?” mein Besucher geht mit sicheren Schritten an mir vorbei in den Flur.
Ich habe sein Gesicht noch nicht gesehen; bestürzt über den unerwarteten Besuch versuche ich zu überlegen, was er bedeutet. Ohne meine Aufforderung abzuwarten, legt der Offizier Mantel und Mütze ab, wendet sich zu mir und sagt: “Na, altes Haus, wenn wir uns auf der Straße begegnet wären, hätte ich Dich auch nicht erkannt. Jetzt aber los – bereite Deinem Gast einen würdigen Empfang!”
Verwirrt starre ich dem Major der Staatssicherheit ins Gesicht. Er ist offensichtlich sehr zufrieden mit der erzielten Wirkung. Vor mir steht mein Klassenkamerad und Studienfreund Andrej Kowtun, den ich längst nicht mehr unter den Lebenden glaubte.
* * *
An einem heißen Julitag 1941 standen Andrej Kowtun und ich auf der Straße. Soldatenkolonnen marschierten an uns vorüber. Gestern waren sie noch friedliche Bürger. Heute hat man sie in Reih und Glied in die Badestube geführt, ihnen den Schädel kahlgeschoren, sie in Soldatenuniformen gesteckt, und jetzt bewegt sich die schlecht ausgerichtete, schweigende Kolonne dem Unbekannten entgegen. Die Soldaten sangen keine Lieder, ihre Gesichter drückten nichts aus als Schicksalsergebenheit. Sie steckten in alten, völlig verblichenen Uniformen, Erbstücken früherer Soldatengenerationen.
“Was meinst Du – wie wird das alles enden?” fragte Andrej.
“Wir werden's erleben”, antwortete ich, nur um etwas zu sagen. “Ich glaube, daß die Deutschen bald hier sein werden”, sagte Andrej geheimnisvoll und blickte mich forschend an.
Andrej war ein sonderbarer Kauz – äußerlich wie innerlich. Nicht schön, dafür aber handfest gebaut. Groß von Wuchs, leicht krummbeinig, mit zu langen Armen. Auf einem unverhältnismäßig langen Hals saß ein Kopf, der an den Seiten plattgedrückt schien. Er war schrecklich stolz auf sein dichtes, borstiges Haar und hatte sich sogar einen Schöpf wachsen lassen, der ihn aussehen ließ wie einen Kosaken aus den Zeiten Nikolais. Er sah irgendwie asymmetrisch und seltsam aus: die Augen allzu schwarz, die Haut allzu dunkel und bedeckt von Sommersprossen, die für einen erwachsenen Menschen allzu zahlreich waren. Manchmal sagte ich ihm scherzweise: “Andrej, wenn später einmal Gelehrte Dein Skelett ausgraben, werden sie sich freuen. Sie werden glauben, einen Höhlenmenschen entdeckt zu haben.” Zur gleichen Zeit strahlte Andrej jugendfrische Energie aus und schien den Geruch von Schwarzerde und Steppenluft zu verbreiten.
Sein hervorstechendster Charakterzug war ein unbändiger Ehrgeiz. Als wir noch die gleiche Schulbank drückten, gingen wir beide oft an die Seen hinaus, die sich etwa zwanzig Kilometer außerhalb der Stadt befanden. Andrej schleppte Angeln und Netze mit sich, ich ein altes Jagdgewehr. Unterwegs veranstaltete er immer Wettkämpfe – wer schneller gehen konnte. Er bestimmte die Bedingungen des Wettkümpfes bis ins kleinste und griff dann mit seinen plumpen Beinen mächtig aus, wobei er dauernd nach mir schielte, ob ich noch mithalten könnte oder vielleicht Lust hätte, aufzugeben. Nach stundenlangem Wettrennen erklärte er, selbst außer Atem wie ein abgehetzter Gaul, herablassend: “Ja, Du verstehst auch etwas vom Marschieren. Machen wir eine Pause, ich fürchte, Dich trifft sonst noch der Schlag.” Wenn er dann, nach Luft japsend, im Gras des Straßengrabens lag, ächzte er: “Natürlich, Dein Gewehr ist leichter als meine Angeln... Sonst hätte ich Dich geschlagen... Wir wollen jetzt einmal tauschen...”
Später, als Student, fand Andrejs Ehrgeiz ein anderes Betätigungsfeld. Er studierte mit wahrem Feuereifer die Biographien großer Persönlichkeiten. Zu diesem Zweck wühlte er einfach in den Katalogen der Bibliotheken nach Büchern, die mit dem Wort “Große...” begannen, wobei er nicht einmal vor einem dreibändigen Werk “Große Kurtisanen der Weltgeschichte” haltmachte.
Wenn er zu mir kam, pflegte er sich rittlings auf einen Stuhl zu setzen und eine Zeitlang wortlos mit den Fingern Märsche zu trommeln; dann streckte er mir sein Gesicht entgegen, das flach war wie das einer Eidechse, und fragte im Ton eines Inquisitors: “Von KIeopatra hast Du vielleicht schon etwas gehört. Sag mir doch aber einmal, wer Messalina war? Eh?” Wenn ich auf seine Frage keine Antwort wußte, war er außerordentlich stolz.
Gewöhnlich ging ich ihm nicht auf den Leim, sondern wandte die Taktik an, ihn mit Gegenfragen zu verwirren. Wenn er mich fragte, was für einen Stein Nero als Brille benutzte, sagte ich verächtlich: “Das ist Quatsch. Sag Du mir lieber – was für ein Unterschied besteht zwischen Kohorte und Falange? Siehst Du, das ist eine Frage, die Männern würdig ist”.
Andrej rutschte daraufhin verlegen auf seinem Stuhl herum in dem unangenehmen Gefühl, daß er noch weit davon entfernt war, ein Nero zu sein. Er konnte auf der Karte haargenau zeigen, an welcher Stelle sich Karthago befunden hat, das vor zweitausend Jahren dem Erboden gleichgemacht wurde. Wenn ich ihn aber fragte, wo Murmansk liegt, geriet er in Verlegenheit.
Man darf nicht übersehen, daß bei uns der Geschichtsunterricht mit der Pariser Kommune einsetzte. Was bis dahin auf der Welt passierte, kann man, nach Ansicht der sowjetischen Pädagogen, mit der Darwinschen Theorie in Einklang bringen – nämlich die Entwicklung vom Affen zum Menschen; der Mensch taucht als solcher eigentlich erst zur Zeit des ersten kommunistischen Aufstandes der Pariser Kommune auf. Für die Aufklärung der Sowjetjugend auf dem Gebiet der Geschichte schien das vollauf zu genügen. Nach dem Gesetz von Wirkung und Gegenwirkung hegten wir einen unüberwindlichen Widerwillen gegen den “Leierkasten” – wie wir den Geschichtsunterricht nannten – und zogen es vor, statt seiner den Fußballplatz zu besuchen.
Die Kenntnis der Geschichte des Altertums und des Mittelalters war daher bei uns eine seltene Ausnahme. Um sich solche Kenntnisse anzueignen, mußte man diese Dinge auf eigene Faust studieren, und es war reichlich schwer, sich die nötigen Bücher zu beschaffen. Ich las die alten Lehrbücher über die Geschichte des Altertums erst als Student, sozusagen als Gegengewicht gegen die langweiligen Differentiale und Integrale. Ich weiß nicht, was Andrej dazu brachte, sich für die Asche Alexanders des Großen zu interessieren, wahrscheinlich ebenfalls sein Ehrgeiz. Er nahm an, daß er allein auf eine so ausgefallene Idee kommen könnte und staunte nicht wenig, wenn ich seine schikanösen Fragen beantworten konnte.
Der zweite auffallende Charakterzug Andrejs war sein animalischer Haß gegenüber der Sowjetmacht – es war der Erbhaß, der den Hund zwingt, die Katze zu hassen.
Mir war das unverständlich und oft einfach unangenehm, ich war in dieser Beziehung liberaler. Andrejs Vater war selbständiger Schuhmacher, er gehörte also nach sowjetischen Begriffen der zur Liquidierung verdammten Klasse der Besitzenden an, obwohl sein ganzer Besitz in einem Paar schwieliger Hände und einem von vieler Arbeit gekrümmten Rücken bestand. Andrej hat wahrscheinlich schon in der Wiege nicht wenig bittere Verwünschungen gegen Stalin und die ganze “kommunistische Bande” zu hören bekommen. lch konnte keine andere Erklärung dafür finden, wenn er mich noch während der Schulzeit beiseiteschleppte und mir antisowjetische Verschen ins Ohr flüsterte, wie man sie gewöhnlich an den Wänden der Toiletten findet. Er blickte mich dann immer mit seinen schwarzen Augen forschend an und fragte: “Nun, was sagst Du? Prima – nicht wahr?”
Meistens ließ ich mich auf keine Diskussionen ein und schwieg. Wir waren damals sechzehn Jahre alt, aber ich dachte daran, daß in der Nachbarschule vor kurzem drei Schüler wegen “antisowjetischer Tätigkeit” verhaftet worden waren.
Als wir studierten, kam Andrej häufig zu mir. Wir waren keine unzertrennlichen Freunde. Ich glaube, er besaß überhaupt keine vertrauten Freunde. Seine Freundschaft gründete sich hauptsächlich auf einseitige Wettbewerbe in allen Fragen. Er war ständig bemüht, mich nicht nur bei den Prüfungen und in bezug auf allgemeine humanistische Bildung, sondern auch bei den Mädchen auszustechen. Ich machte mich über seine sonderbaren Manieren lustig, holte ihn aus seiner Wolkenhöhe auf die Erde herunter und versuchte ihm klarzumachen, daß auch er es durchaus noch nötig habe, sich zu vervollkommnen. Ich empfand für ihn weniger Freundschaft als Interesse, weil er ein origineller Typ war. Ein richtiger Freund konnte er schwerlich sein, in seiner Seele gab es irgend etwas Unangenehmes. Obwohl er mir niemals irgend etwas Häßliches getan hat, wahrte ich doch unbewußt ihm gegenüber eine gewisse Distanz. Er aber würdigte mich mit gewisser Herablassung seiner Freundschaft oder richtiger seiner Rivalität und erklärte, daß ich mich wenigstens etwas in “höheren Sphären” auskenne.
Andrej hielt sich für unübertrefflich und einzigartig. In unserem Kreis diente das als stete Quelle fröhlicher Scherze und Witzeleien. Ein Pluspunkt für Andrej war, daß er trotz seines Ehrgeizes und seiner Eigenliebe in solchen Fällen niemals den Gekränkten spielte. Wenn er sich vielleicht manchmal auch beleidigt fühlte, so zeigte er es doch nie. Er verschwand dann einfach für einige Zeit und tauchte, wenn er die Kränkung überwunden hatte, wieder bei mir auf, als wäre nichts geschehen.
Einmal, als wir schon den dritten Kursus des Industrie-Institutes besuchten, kam Andrej zu Beginn des Studienjahres zu mir und setzte sich gewohnheitsgemäß rittlings auf einen Stuhl. Ich saß über den Schreibtisch gebeugt, mit einer Skizze beschäftigt, und beachtete ihn nicht – dazu war er ein zu häufiger Gast.
Dieses Mal hatte Andrej eine besonders wichtige Neuigkeit auf Lager. Er hüllte sich erst einmal in geheimnisvolles Schweigen, um meine Neugier anzufachen, wand sich dabei aber schon wie ein Aal. Ich merkte, daß er nahe daran war zu platzen, wenn er mich nicht bald mit seiner geheimnisvollen Neuigkeit überraschen könnte. Aber ich tat, als merkte ich es nicht.
“Weißt Du es noch nicht?” hielt er es endlich nicht mehr aus. Ich zeichnete ruhig weiter.
“Natürlich weißt Du noch nichts”, Andre] senkte seine Stimme beinahe bis zum Flüstern. “In diesem Jahr sind im ersten Kursus ganz fabelhafte Mädchen. Ich habe mich selbst um die Auswahl für das neue Studienjahr gekümmert.”
“Gestern war ich im Gemeinschaftswohnheim der Chemischen Fakultät. Ach, was für Mädchen! Eine habe ich dort gesehen – eine richtige Prinzessin, im wahrsten Sinne des Wortes eine Prinzessin. Ich habe sogar ihren Namen erfahren – Galina! Und dann habe ich einen genauen Plan entworfen und bin jetzt zu Dir gekommen, um mich mit Dir zu beraten. Aber zum Teufel mit Deinen albernen Zeichnungen. Laß sie doch endlich und hör zu!”
Andrej sprach so, als hätte er das Herz seiner Prinzessin bereits in der Tasche.
“Ich habe die Sache verteufelt schlau eingefädelt. Erst habe ich herausgefunden, in welchem Zimmer Galina wohnt. Dann habe ich festgestellt, wer mit ihr zusammenwohnt – es sind im ganzen vier. Und dann habe ich die häßlichste von ihnen ausgesucht und ihr den ganzen Abend wie ein Mephisto den Hof gemacht. Jetzt bildet sich diese Kröte ein, daß ich bis über die Ohren in sie verliebt bin, sie hat mich sogar zu sich eingeladen. Verstehst Du? In demselben Zimmer ist aber – Galina! Aha! Siehst Du, so wird es gemacht!” Andrej machte einen Freudensprung und stieß dabei undefinierbare Laute aus – in heller Begeisterung über seinen eigenen Scharfsinn.
Dann flüsterte er weiter: “Die Sache ist schon halb getan. Es ist mir nur peinlich, allein dort hinzugehen. Ich brauche einen Kompagnon. Komm mit!”
“Du bist sowieso ein ungefährlicher Konkurrent”, fügte er im Vollgefühl der eigenen Überlegenheit hinzu.
Ich war höchst erstaunt – Andrej galt bei den Studenten als eingefleischter Frauenhasser. Da er so wenig anziehend aussah, hatte er bei den Studentinnen keinen Erfolg. Um sich keine Blöße zu geben, pflegte er überlegen zu erklären: “Frauen haben keinen Verstand. Sie sehen nur die äußere Schale, von der Seele wollen sie nichts wissen”. Dann murmelte er, anscheinend zu seiner eigenen Beruhigung: “Außerdem waren die größten Männer alle bis zu ihrem Tode Junggesellen”.
Es mußte also schon etwas Außergewöhnliches vorgefallen sein, wenn Andrej plötzlich anfing, sich für weibliche Reize zu begeistern. Bisher interessierten ihn nur Frauen, die zumindest nicht jünger als Katharina die Große waren.
Wenig später lernte ich die Prinzessin kennen, die Andrej mit seinen scharfsinnig gesponnenen Netzen zu umgarnen suchte. Es bleibt nur hinzuzufügen, daß in der Folge Andrejs und meine Freundschaft und Rivalität sich auch auf Galina ausdehnten.
Im Frühjahr 1941 verteidigten Andrej und ich vor der Staatlichen Prüfungskommission unsere Diplomarbeiten und waren nun junge Ingenieure, denen die Welt offenstand. Das Studentenleben war trotz all seiner Reize nicht leicht. über die Hälfte der Absolventen unseres Kurses mußte das Hochschulstudium um einen teuren Preis erkaufen – Tuberkulose, Magenleiden, Neurasthenie. Aber wir kämpften für unsere Zukunft, die uns jetzt in all ihrer Verlockung offenstand. • Jetzt hatten wir einen soliden Beruf, der die Aussicht auf eine Verbesserung unserer materiellen Lage und damit die Möglichkeit bot, langgehegte Pläne in die Tat umzusetzen. Wir hatten den Ausweis für die Reise ins Leben in der Tasche.
Der 22. Juni 1941...
Viele von uns werden dieses Datum niemals vergessen. Der Krieg kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Er zerstörte alle unsere Zukunftspläne mit einem Schlag. Für lange Jahre mußten wir auf ein privates Leben verzichten, mußten den Schritt ins Ungewisse tun. Trotzdem aber nahmen wir den Krieg mit einer sonderbaren Ruhe hin. Deutschland war für uns das Sinnbild Europas, Europa aber war für die Mehrzahl der jungen denkenden Intelligenz ein verbotenes Paradies. Die absolute Unterbindung jeglichen Kontaktes mit der Außenwelt hat ihre negativen Seiten – viele junge Menschen in der Sowjetunion sahen in Europa – in maßloser Übersteigerung der Wirklichkeit – die Verkörperung dessen, was sie in geistiger und materieller Beziehung erstrebten.
Viele nahmen im ersten Augenblick an, daß der Krieg das Fanal der kommunistischen Weltrevolution sei, daß er ein folgerichtiges evolutionäres Manöver der Komintern darstelle, von Stalin in Szene gesetzt – und sie erschraken. Als aber nach wenigen Tagen die ersten Nachrichten über unglaubliche Erfolge der deutschen Truppen, über katastrophale Niederlagen der Roten Armee eintrafen, beruhigten sich die Menschen wieder. Viele begrüßten den Krieg aus vollem Herzen. Gerade einen solchen Krieg! Sie betrachteten ihn insgeheim als Kreuzzug Europas gegen den Bolschewismus. Das ist ein innerer Widerspruch, dessen Vorhandensein nur wenige Menschen in Europa ahnten. Die russischen Menschen aber wollen daran nicht erinnert werden – zu bitter ist später die Enttäuschung gewesen.
Hitler hatte Stalin den größten Trumpf in die Hände gespielt – das Vertrauen des Volkes. Vor dem Kriege schenkte die Mehrzahl der jungen Sowjetintelligenz der Sowjetpropaganda grundsätzlich keinen Glauben oder brachte ihr jedenfalls größte Skepsis entgegen; der Krieg aber erteilte ihr eine blutige Lehre, die sie niemals vergessen wird.
Sobald Andrej mich irgendwo erwischte, schleppte er mich aufgeregt beiseite und erzählte mir die neuesten Frontberichte. Die deutschen Frontberichte wohlgemerkt. Von der deutschen Front, an der sich seine Seele befand. Als die deutschen Truppen noch weit von Kiew entfernt waren, schwor er, Kiew sei bereits gefallen. Jede Niederlage der Sowjettruppen begrüßte er nicht nur triumphierend, sondern mit einer wahrhaft animalischen Schadenfreude. In Gedanken befehligte er bereits eine Terroristenbande und überzählte die von ihm mit eigener Hand gehängten Kommunisten.
Bald darauf verschlug der Krieg Andrej und mich in verschiedene Himmelsrichtungen.
Ende 1941 bekam ich von ihm den ersten Brief. Er war auf einem schmierigen Fetzen Papier geschrieben, aus jeder Zeile klang hoffnungslose Depression. Es war kein Brief, es war das Geheul eines Hundes, der den Mond anbellt. Andrej saß irgendwo im Hinterland bei einer Ausbildungsabteilung. Zu allem Überfluß war es eine Spezial-Ausbildungsabteilung – nach Abschluß der Ausbildung sollten die Teilnehmer als Partisanen im deutschen Hinterland eingesetzt werden. Er war Bauingenieur. Jetzt war er Pionier-Offizier. Und sein künftiger Beruf war – Diversionstätigkeit in der Etappe des Feindes.
Nachdem ich seinen Brief gelesen hatte, war ich fest überzeugt, daß Andrej noch am Tage seines Einsatzes zu den Deutschen überlaufen würde.
Seinen zweiten Brief bekam ich viel später, ungefähr nach einem Jahr. Ein sonderbarer Umschlag, auf dem Papier das Hoheitszeichen eines deutschen Stabes, von Andrejs Hand kreuzweise durchgestrichen. Als ich den Brief las, staunte ich nicht wenig über das Maß von Heuchelei, das aus ihm zu sprechen schien. Er war in geschwollenem Stil geschrieben und enthielt eine einzige Lobeshymne auf Vaterland, Partei und Regierung. Allerdings hatte sich wohl Andrejs Feder gesträubt, auch noch Stalins Namen zu verherrlichen!
Er schrieb: “Erst hier, in der Etappe des Feindes, habe ich begriffen, was Heimat und Vaterland bedeutet. Für mich sind das keine abstrakten Begriffe mehr, sondern ein lebendes Wesen, ein teures Wesen, die Mutter-Heimat. Ich habe gefunden, was ich bisher vergeblich suchte – den Sinn des Lebens. Ruhmvoll siegen oder untergehen. Wenn aber leben, dann die Brust voller Orden. Ich bin jetzt Mitglied der Kommunistischen Partei, habe drei Orden und bin zur Beförderung vorgeschlagen. Ich befehlige eine Partisanenabteilung, die zahlenmäßig ungefähr einem Regiment entspricht, ihrer Kampfkraft nach aber noch größer ist. Ich habe eine Dummheit begangen, als ich mich entschloß, Ingenieur zu werden. Jetzt erst weiß ich, was ich zu tun habe – nach siegreicher Beendigung des Krieges werde ich in der NKWD arbeiten und meinen Namen in Orlow ändern.”
Der kleine Nero zweifelte nicht mehr am Ausgang des Krieges. Er wollte sich zum Mitarbeiter der NKWD umschulen lassen, weil er diese Institution für die Verkörperung der Sowjetmacht hielt. In seinem Brief zählte er weiter ausführlich die Anzahl der gesprengten Brücken, der zum Entgleisen gebrachten Züge und der dem Feind zugefügten Menschenverluste seiner Abteilung auf. Ich glaubte nicht an eine solche Wandlung Andrejs. Ich nahm einfach an, daß er beim Schreiben dieses Briefes an die militärische Briefzensur gedacht hatte. Die moralisch-politische Begutachtung und damit die Beförderung der Offiziere hängt in großem Maße von ihren Briefen ab. Ich nahm an, daß sein Ehrgeiz und die Sucht nach einer glanzvollen Karriere alle anderen Gefühle seiner leidenschaftlichen Seele übertönt hatten.
Ich ärgerte mich gründlich und antwortete: “Ich fürchte, es könnte sich herausstellen, daß wir an verschiedenen Ufern stehen, Bürger Orlow.” Das galt dem künftigen Jünger der NKWD!
Den letzten Brief von Andrej erhielt ich nach Verlauf eines weiteren Jahres. Es waren die wohlüberlegten Zeilen eines reifen Menschen. Er berichtete, daß er eine Gruppe regulärer Partisaneneinheiten kommandierte, die zahlenmäßig einer Armee-Division gleichkäme. Seine Abteilungen wirkten in einem Gebiet, das seiner Größe nach einem mittleren europäischen Staat entsprach. Uber die Kampftätigkeit seiner Einheiten berichteten die Meldungen des offiziellen Armeeberichts; Er zählte nicht mehr seine Orden auf, erwähnte nur kurz, daß ihm der Ehrentitel eines Helden der Sowjetunion verliehen wurde.
Mein Freund und Rivale hatte also tatsächlich Karriere gemacht. Andrej prahlte zwar gerne, log aber nie. Zu jener Zeit hatten in den Seelen der russischen Menschen große Veränderungen stattgefunden und ich war aufrichtig stolz über die Erfolge Andrejs. Er schrieb abschließend, daß er mit der vorrückenden Front westwärts ginge, in das Gebiet der Baltischen Staaten, daß die Arbeit dort schwer sein und unsere Korrespondenz möglicherweise eine Unterbrechung erfahren würde.
Seitdem hatte ich nie wieder von Andrej Kowtun gehört. Ich dachte voller Wehmut, daß er wahrscheinlich schließlich doch den kürzeren gezogen habe und machte in Gedanken ein Kreuz hinter seinen Namen.
* * *
Und jetzt steht Andrej wieder vor mir – frisch und fröhlich, von den Toten auferstanden. In meiner Vorstellung war er als ein sonderbarer Kauz gestorben, der von unerreichbaren Erfolgen geträumt hatte. Jetzt steht ein Mann vor mir, in der Blüte seiner Jahre; auf seiner Brust funkelt über mehreren Reihen von Ordensschnallen ein goldgeschliffener fünfzackiger Stern, – die höchste Auszeichnung soldatischen Heldenmutes in der Sowjetunion. Seine ganze Erscheinung strömt die ruhige Sicherheit eines Menschen aus, der gewohnt ist, zu befehlen; seine Gesichtszüge haben ihre jungenhafte Eckigkeit verloren und stattdessen eine eigene Art männlicher Schönheit angenommen. Nur Andrejs Charakter hat sich nicht geändert – hat sich für mich eine Überraschung ausgedacht, die mir das Herz in die Schuhe sinken ließ!
“Lange haben wir uns nicht gesehen, Brüderchen! Bereite dem teuren Gast einen würdigen Empfang!” sagt Andrej mit seiner fremdgewordenen Stimme. In seinem Ton liegt ein Anflug von Herablassung, als sei er gewohnt, die Menschen von oben herab zu behandeln.
Schlimme Jahre fliegen im Handumdrehen vorbei. Erst wenn man einen alten Freund nach langer Trennung wiedersieht, merkt man, wieviel Wasser seit jenen sorglosen Studentenjahren ins Meer geflossen ist.
“Du bist tatsächlich ein seltener Gast”, sage ich. “Warum hast Du mir bloß vorher nichts gesagt. Jetzt weiß ich nicht einmal, wie wir Deine Auferstehung von den Toten feiern sollen. Warum hast Du nicht geschrieben?”
“Weißt Du, was das heißt – Spezialauftrag? Ich konnte zwei Jahre lang nicht einmal meiner Mutter schreiben. Aber wie geht es Dir? Hast Du geheiratet oder schlägst Du Dich immer noch allein durchs Leben?” Andrej geht im Zimmer auf und ab, stapft mit festen Schritten über den Teppich, die Hände in den Taschen seiner blauen Reithose vergraben. Das Leben hat den jungen Vogel gelehrt, fest auf seinen eigenen Füßen zu stehen. Früher, wenn er rittlings auf dem Stuhl neben meinem Arbeitstisch saß, war er nicht so selbstsicher.
“Jetzt erzähl mal alles schön der Reihe nach”, sagt Andrej und setzt sich in einen Sessel zwischen dem Schreibtisch und dem Bücherschrank. “Wie war's im Kriege?”
“Wie üblich”, antworte ich.
Ich habe mich von der Überraschung noch nicht erholt und fühle eine gewisse Unsicherheit. Andrej hat sich in diesen Jahren so stark verändert – ob wir wohl noch eine gemeinsame Sprache finden? “Die Menschen haben auf verschiedene Art im Krieg gekämpft”, vernehme ich Andrejs Stimme. “Weißt Du, der Kluge hat verdient, der Dumme hat gekämpft. Ubrigens gehören diese Dinge der Vergangenheit an. Was für Zukunftspläne hast Du?”
“Morgen werde ich gegen zehn Uhr aufstehen und zum Dienst gehen”, erwidere ich.
“Sehr lobenswert. Du bist also nach wie vor Realist?”
Unser Gespräch ist förmlich und gekünstelt. Sonderbar, wie die Zeit die Vertrautheit der Jugendjahre verwischt.
“Ach, war doch eine schöne Zeit – die Studentenzeit. Es ist, als wären tausend Jahre seither vergangen”, sagt Andrej nachdenklich, als hätte er meine Gedanken erraten. “Sag mal – wie ging damals die Sache mit Galina aus? Ich war überzeugt, daß sie Deine Frau werden würde.”
Andrej hat die Prinzessin unserer Studentenzeit nicht vergessen. Und auch ich denke gerne an jene ungetrübten Tage zurück.
Wir sitzen eine Zeitlang schweigend. Ich biete Andrej eine Zigarette an, er lehnt ab.
“Rauchst Du immer noch nicht?” frage ich.
“Nein, ich habe es versucht, in den Wäldern, aus lauter Langeweile. Es macht aber keinen Spaß”, erwidert er.
Ich weiß, daß Andrej früher keinen Alkohol vertragen konnte. Als ich eine Flasche mit einem bunten Etikett vor ihn auf den Tisch stelle, studiert er es erst mal von allen Seiten, als handele es sich um eine Medizin.
“Mein schlimmster Fehler – ich kann nicht trinken”, sagt er. “Bei mir zu Hause liegen ausgesuchte Weine aus Görings Privatkellern – ich rühre sie nicht an. Das ist nicht immer leicht. Die anderen machen so eine Flasche leer und finden Vergessen, mir hilft das nicht.”
“Plagen Dich etwa Gewissensbisse?” frage ich. “Du wolltest doch selbst, wenn ich mich recht erinnere, mit aller Macht ein Robespierre werden. Ach ja, übrigens – heißt Du jetzt Orlow?” Ich erinnere ihn an die Briefe aus der Partisanenzeit.
“Nein. Das war damals ein Rausch. Ein Rausch eigener Art”, antwortet Andrej und ich höre eine gewisse Unsicherheit aus seiner Stimme heraus.
“Sag mal, Andrej, warum hast Du in Deinen Briefen eigentlich so dummes Zeug geschrieben. Dachtest Du dabei an die Briefzensur?” “Du wirst es vielleicht nicht glauben”, erwidert er, “aber ich habe so gefühlt damals. Jetzt erscheint es mir selbst albern. Wenn ich Dir die Wahrheit sagen soll, so waren die Kriegsjahre die glücklichsten meines Lebens – und werden es wohl auch bleiben. Ich habe im Krieg mich selbst gefunden. Damals watete ich in Blut, aber ich war felsenfest davon überzeugt, daß ich im Recht bin, daß ich eine große und nützliche Sache vertrete. Mir schien damals alles so klar und rein, wie ein uferlos weißes Schneefeld. Ich fühlte mich als Herr der russischen Erde und war bereit, für sie zu sterben. Ganz einfach zu sterben – die Arme auf den weißen Schnee gebreitet.” Andrej spricht zögernd, mit einem kaum wahrnehmbaren Schwanken der Stimme; in seinen Worten ist nichts mehr von Selbstsicherheit und heroischem Pathos.
“Ja, was ist denn nun eigentlich mit Dir?” frage ich.
“Ich habe jetzt manchmal diese feste Überzeugung nicht mehr”, fährt er fort, als habe er meine Frage nicht gehört, und starrt ins Leere. “Früher habe ich Deutsche getötet. Schau!” er streckt mir seine kräftigen, braungebrannten Hände entgegen, “mit diesen Händen habe ich so viele Deutsche umgebracht. Einfach umgebracht – die Partisanen machen ja keine Gefangenen. Ich tötete und fühlte mich wohl dabei. Weil ich überzeugt war, daß ich recht tue.”
“Weißt Du, was ich jetzt mache?” Ein nervöser Krampf durchzuckt Andrejs Gesicht, aus seiner Stimme klingt unterdrückter Groll. Ein eigenartiger Groll, als wäre er wütend über sich selbst. “Jetzt töte ich die deutsche Seele und das deutsche Gehirn. Göbbels hat einmal gesagt: «Wenn man ein Volk unterwerfen will, muß man es seines Gehirnes berauben». Das ist meine jetzige Aufgabe. Das Schlechte ist nur, daß der eigene Schädel bei dieser Prozedur zu platzen droht. Wir dürfen an Deutschland nur insofern Interesse haben, als es für die Sicherung unserer eigenen Interessen notwendig ist. Richtig! Doch die Dinge gehen zu weit. Aber das ist nicht einmal die Hauptsache. Wie soll ich es Dir sagen...”
Er schweigt. Dann spricht er langsam weiter, sorgfältig nach Worten suchend: “Mich plagt ein verfluchter Zweifel. Mir scheint... das, was wir hier abzutöten suchen... das ist besser als was wir hinter uns haben. Mir tun die Deutschen nicht leid, aber ich selbst tue mir leid, und wir alle. Darum dreht es sich. Wir zerstören ein wohlausgewogenes Kultursystem, reorganisieren es nach unserem eigenen Vorbild, und dieses Vorbild... zum Speien! Erinnerst Du Dich an unser Leben dort?”
“Hören Sie, Major der Staatssicherheit, womit beschäftigen Sie sich gegenwärtig eigentlich?” frage ich. “Sprechen Sie im übrigen etwas weniger laut. Die Wände in diesen deutschen Häusern sind dünn.” Da haben wir die Evolution. Der MWD-Major beginnt, interessante Dinge auszuplaudern.
“Womit ich mich beschäftige?” wiederholt Andrej meine Frage. Und dann ausweichend: “Ich treibe Verschiedenes. Neben den Aufgaben, die dem MWD gewöhnlich zugeschrieben werden, haben wir viele andere zu erfüllen, von denen niemand etwas auch nur ahnt. Wir haben zum Beispiel eine genaue Kopie Eures SMA-Apparates, nur en miniature. Wir kontrollieren Eure Arbeit und helfen gleichzeitig dort, wo ein radikales Durchgreifen nötig ist, schnell und ohne Aufsehen. Moskau bringt den Berichten Sokolowskijs weniger Vertrauen entgegen als den entsprechenden Berichten von unserer Seite.”
“Du weißt wahrscheinlich schon aus Erfahrung”, fährt er fort, “ein Leutnant des MWD kann Euren Obersten Befehle erteilen, und das Wort eines Majors des MWD ist für Eure Generale Gesetz. Jedenfalls ein ungeschriebenes Gesetz – ein General begreift ganz von selbst, daß es ein Gesetz ist und noch dazu eines, dessen Mißachtung oder Nichteinhaltung sehr unangenehme Folgen haben kann.”
“Kennst Du den Politberater Semjenow und Oberst Tulpanow?” fragt Andrej und spricht dann weiter, ohne meine Antwort abzuwarten: “Wir kommen nur selten mit ihnen zusammen, und doch spüren sie tagtäglich unsere väterliche Fürsorge. Angefangen von solchen Kleinigkeiten wie der Sorge für eine entsprechende Zuhörerschaft und den richtigen moralischen Geist im Haus der Kultur der Sowjetunion.”
“Wir laden übrigens häufig Wilhelm Pieck und andere Führer zu freundlichen Aussprachen ein”, die Worte “Führer” und “freundschaftliche Aussprachen” betont Andrej bewußt ironisch. “Wir reichen ihnen nicht einmal die Hand zum Gruß – damit ihnen nicht irgendwelche voltaireianischen Ideen in den Kopf kommen. Wir fassen sie nicht mit Samthandschuhen an wie Euer Tulpanow.
Nur wer in unserem Apparat gearbeitet hat, kennt die ganzen Abgründe menschlicher Gemeinheit. Man möchte überhaupt niemandem mehr die Hand reichen", Andrejs Mund verzieht sich zu einem verächtlichen Lächeln. “Alle unsere teuren Gäste wagen nur auf Fußspitzen zu schleichen. Wenn ihre Nase nicht mehr gefällt – bis Buchenwald ist es nicht weit. Pieck und Konsorten wissen das genau – dort schmoren bereits verschiedene ihrer Kollegen im eigenen Saft.”
“Demokratisierung Deutschlands... Ha... Alle Brot- und Wurstmacher, ab nach Kolyma. Die Liquidierung der Besitzenden als Klasse. Aus ihren Geschäftslokalen machen wir Rote Ecken und benennen sie nach Pieck oder irgendeinem anderen Schweinehund”, aus den letzten Worten Andrejs spricht kalte Verachtung und Ekel. “Weißt Du, wie wir nach der Kapitulation die Säuberung Berlins durchgeführt haben? Es dauerte nur eine Nacht. Dreißigtausend Menschen aus den Betten heraus und direkt nach Sibirien. Die Listen hatten wir schon in Händen, als die Truppen noch jenseits der Oder standen. Wir bekamen alles, was wir brauchten, von den einheimischen Kommunisten.”
Andrej schweigt eine Zeitlang, legt ein Bein über das andere und betrachtet seine Knie.
“Wir können uns kaum retten vor all den dienstbeflissenen Schuften. Weißt Du, nach der Kapitulation standen bei uns die freiwilligen Denunzianten und Angeber buchstäblich Schlange. Einmal befahl ich, eine ganze Schar solcher menschlicher Abscheulichkeit mit dem Gewehrkolben aus meinem Empfangszimmer zu jagen – ich hielt es einfach nicht mehr aus.”
Andrejs Worte erinnern mich an die typische Einstellung der Sowjetsoldaten gegenüber den deutschen “Gesinnungsgenossen”.
Kurz vor der Vereinigung der sowjetischen und der amerikanischen Truppen traf eine Gruppe russischer Soldaten auf einen einzelnen Deutschen. Er trug einen Rucksack auf dem Rücken und führte ein Fahrrad neben sich, auf das er sein gesamtes übriggebliebenes Hab und Gut aufgeladen hatte. Er ging nach Osten. Als er die Sowjetsoldaten sah, geriet der Deutsche in einen Rausch der Begeisterung: “Stalin gut... Ich – Kommunist... Kamerad...”
Er versuchte den Soldaten klarzumachen, daß er sich auf den Weg in die Sowjetunion gemacht habe, daß er mit ihnen gemeinsam den Kommunismus aufbauen wolle. Die Soldaten warfen einander schweigend Blicke zu, drehten ihn mit dem Gesicht nach Westen und gaben ihm einen gutmütigen Tritt. Als der Deutsche sich widersetzte und wieder und wieder beteuerte, nach Osten gehen zu wollen, wurden die Soldaten wütend und nahmen ihm unsanft Rucksack und Fahrrad weg. Der zerschundene Paladin des Kreml konnte nach der kommunistischen Taufe kaum noch ein Glied rühren. Als er sich mühselig aufrappelte und auf den Rückweg machte, riefen ihm die Soldaten nach: “Jetzt Kamerad echter Kommunist. Dein ist mein. Stalin – gut.” Die Soldaten waren fest überzeugt, ein gutes Werk vollbracht – nämlich einem Menschen das Leben gerettet zu haben.
In den ersten Monaten nach der Kapitulation, in der Zeit des Interregnums, begaben sich die Sowjetsoldaten oft auf die Jagd nach deutschen Autos, einfach um ein wenig spazieren zu fahren. Wenn ein “Fritz” in solchen Fällen zu beweisen versuchte, daß er Gesinnungsgenösse, Kommunist, sei, fragten die Soldaten voller Verwunderung nach dem Parteiausweis: “Schau her, Petja, hast Du schon so einen Narren gesehen. Wenn wir bei uns den Kommunismus haben, ist das noch verständlich. Was aber wollen diese Idioten eigentlich? Sicher ist das irgend so ein Schweinehund!” Und ein solcher “ideologischer Fritz” bekam zusätzlich noch eine so gründliche Abreibung, daß er später, wenn er sich im Krankenhaus von ihr erholte, Zeit genug fand, seine Ansichten über den Kommunismus zu revidieren. Nach der Spazierfahrt wurde das Auto, wenn es dann noch heil war, irgendeinem anderen “Fritz” gegeben, der den Soldaten gerade sympathisch erschien. Die russische Seele ist impulsiv.
Die Funktionäre der KPD-SED, die die Kühler ihrer Wagen mit roten Flaggen geschmückt hatten und sich als Herren fühlten, jagten wie die Feuerwehr durch Berlin, wobei sie sich an keine Geschwindigkeitsgrenzen hielten. In diesen Fällen hielt jeder autofahrende sowjetische Soldat und Offizier es für seine Ehrenpflicht, sich mit der ideologischen Umerziehung des übergeschnappten “Kameraden” zu befassen. Je höher der Parteirang des “Kameraden” war, desto größer die Ehre, ihm Kühler und Schnauze einzuschlagen. “Damit er nicht mehr mit solcher Eile dem Kommunismus zustrebt!” hieß es in solchen Fällen.
Der Kommandant des Berliner Kreml – Karlshorst – Oberst Maximow, lachte nur, wenn ihm solche Vorfälle gemeldet wurden. Es waren nicht einfach Akte roher Barbarei. Wenn die Sowjetsoldaten eine Zeitlang in Deutschland gelebt hatten, sprachen sie mit Achtung und sogar mit einem gewissen Neid von den Deutschen. Von den deutschen Kommunisten aber hieß es: “Schufte und käufliche Lumpen”. Ein Sowjetmensch, der Europa gesehen hat, ist fest überzeugt, daß nur im Moskauer Sold stehende Degeneraten Kommunisten sein können.
“Ja, übrigens, – was hast Du neulich in der Petersburger Straße gemacht?” fragt Andrej unvermittelt.
Ich blicke erstaunt in sein unbewegliches Gesicht. Ich war tatsächlich vor einer Woche in der Petersburger Straße. Eine Moskauer Bekannte, Irina, hatte mich zu sich eingeladen. Sie hatte in Moskau das Institut für Fremdsprachen absolviert und arbeitete jetzt in Berlin als deutsche Sprachlehrerin. Das gesuchte Haus unterschied sich wenig von den übrigen; es war weder durch ein Schild noch durch eine rote Fahne als ein Haus gekennzeichnet, das von der Besatzungsbehörde belegt war. Vorübergehende konnten annehmen, daß es ein ganz gewöhnliches deutsches Haus sei. Kaum aber hatte ich die Tür aufgemacht, als schon direkt vor meiner Nase ein Wachposten in der Uniform des MWD-Grenzschutzes stand. Meine Offiziersuniform und mein Personalausweis nützten wenig. Irina mußte selbst herunterkommen und mich identifizieren – erst dann durfte ich das Haus betreten.
In diesem Gebäude befand sich die Schule für die Zensoren des MWD, die hier kasernenmäßig untergebracht waren. Die Bestimmungen waren sehr streng wie in allen Einrichtungen, die dem MWD unterstanden. Selbst an Sonntagen mußte Irina, obwohl sie eine freie Angestellte war, ihren Vorgesetzten um die Genehmigung bitten, ausgehen zu dürfen. Wenn sie fortging, mußte sie den Zeitpunkt des Verlassens des Hauses und das Ziel des Ausgangs in ein Tagebuch eintragen; bei der Rückkehr wiederum die Zeit angeben und unterschreiben. Sie lebten alle, wie Irina selbst zugab, wie halbe Gefangene.
“Woher weißt Du, daß ich in der Petersburger Straße war?” fragte ich.
“Woher ich das weiß? Sehr einfach – ich habe mich vorsorglich etwas um Deine Personalakten gekümmert. Glaub nur nicht, daß das dieselben Personalakten sind, die Du hier in der Kaderabteilung hast. Ich irre wohl nicht, wenn ich behaupte, daß Du vor kurzem «Eugen Onegin» im Admiralspalast gehört und Dir das Ballett «Petruschka» angesehen hast. Ich kann Dir sogar helfen, wenn Du vergessen haben solltest, mit wem Du dort warst.”
Andrej blickt mich von der Seite an, um zu sehen, wie ich auf seine Worte reagieren werde. Er liebt es anscheinend nach wie vor, nach billigen Effekten zu haschen.
“Ubrigens gilt das vorläufig nicht als Verbrechen; der Admiralspalast liegt im sowjetischen Sektor”, sagt er, “allerdings empfehle ich Dir, Theater in den anderen Sektoren lieber nicht zu besuchen – solche Besuche kommen auf das Debetkonto. Verstanden?! Wir haben unsere eigene Buchführung über jeden einzelnen SMA-Offizier, einschließlich Marschall Sokolowskij. Deine Personalakten sind vorläufig absolut in Ordnung – wozu ich Dich beglückwünsche.”
“Ja, um bei der Petersburger Straße zu bleiben”, fährt Andrej fort. “Da gibt es noch ein paar interessante Einrichtungen – zum Beispiel eine Spezialschule für deutsche Instruktoren – die Kader des künftigen deutschen MWD. Manche Dinge läßt man besser von Deutschen ausführen.”
“Mich wundert nur eines – welch große Mühe sich diese Menschen geben”, spricht Andrej weiter. “Manchmal scheint mir, daß einige von ihnen tatsächlich fest daran glauben, daß sie mithelfen, ein besseres Deutschland aufzubauen. Und dabei bekommen diese kleinen Handlanger nicht einmal zusätzlich Rationen wie die Spezialtroika.”
“Weißt Du, was das ist – Speztroika?” Andrej blickt mich wieder an. “Die Deutschen nennen das Trio Grotewohl – Pieck – Ulbricht kurz und bündig GPU. Wir haben sie der Einfachheit halber «Speztroika» getauft.”
Andrej fängt wieder an, Dinge zu erzählen, mit denen meist die Wände in den Toiletten verziert sind. Es bereitet ihm anscheinend Vergnügen, mir die Literaturperlen aus den Archiven des MWD vorzuwerfen.
“Weißt Du übrigens, was SED bedeutet?” fragt der Major der Staatssicherheit. “Die Deutschen sagen: «So endet Deutschland». Sie wissen vielleicht selbst nicht, wie recht sie damit haben. Das wird ihnen erst klar werden, wenn Deutschland zur Deutschen SSR und die jetzige SED in DKP (B) umbenannt wird. Natürlich ist nicht die Bezeichnung, sondern das Ding an sich wichtig.”
Andrejs Gesicht hat einen eigentümlichen Ausdruck. Reste einer gespielten Geheimnistuerei sind darin zu finden – Ausdruck des ihm eigenen Verlangens, sein stark ausgeprägtes Ich-Bewußtsein zu befriedigen. Andererseits aber drückt es unverhohlene Bitterkeit aus. Schon während seiner Studentenzeit waren in Andrej irgendwelche dunklen unterbewußten Instinkte stark entwickelt. Vielleicht ist er auch hier nicht einfach Andrej Kowtun, sondern der Major der Staatssicherheit bei der Erfüllung dienstlicher Obliegenheiten? Vielleicht ist dieses Gespräch eine Provokation und dient dazu, meine wahre Einstellung zu den Dingen herauszubekommen?
In unser beider Interesse sage ich also: “Du schwatzt recht sonderbares Zeug zusammen. Wenn es jemand anderes wäre, der mir solche Dinge erzählt, würde ich ohne weiteres die zuständigen Organe verständigen. Da ich aber einen Major der Staatssicherheit vor mir habe, und noch dazu in voller Uniform, fasse ich diese Dinge als bewußte Provokation auf. Daher finde ich es überflüssig, irgendetwas zu unternehmen. Mach weiter, solange es Dir nicht langweilig wird.” Andrej sieht mich an und lacht: “Du bist ein vorsichtiger Mann. Rückversicherung kann nie schaden. Wer hat es gesagt: «Der ist kein Feldherr, der nicht den Rückzugsweg sichert.» War es nicht Moltke? Zur Beruhigung Deines Gewissens magst Du alles, was ich erzählt habe, ruhig als Provokation betrachten. Unter dieser Voraussetzung kann ich sogar noch offener reden.”
Andrej steht auf und geht im Zimmer auf und ab. Schließlich bleibt er vor dem Bücherschrank stehen und betrachtet die Buchrücken.
“Hier, sieh mal”, er hat ein Buch über Holland herausgenommen, blättert darin und zeigt es mir: “Die Holländer waschen sogar die Bürgersteige vor ihren Häusern mit Seife. Sie sind alle satt und zufrieden. Mir tun diese kleinen Länder besonders leid. Wofür, zum Teufel, brauchen sie den Kommunismus? Wenn sich aber bloß zwei Dutzend Lumpen finden – marschieren sie alle auch schon hinter der roten Fahne her. Bürgersteige waschen... Sie werden dann nicht einmal mehr sich selbst waschen.”
Andrej stöbert wahllos auf dem Bücherbrett herum. Mit dem Rücken zu mir gewendet fährt er fort: “Es ist nur witzig zu beobachten, wie leichtfertig ganze Nationen ihren Hals in diese Schlinge stecken. Nimm Deutschland. Wenn Stalin ganz Deutschland in seinen Händen hätte, würden die Deutschen heute schon alle wie ein Mann nach seiner Pfeife tanzen. Du weißt doch, wie das bei ihnen ist: «Befehl ist. Befehl»! Selbstverständlich wird man zuerst die Voraussetzungen schaffen – einen selbständigen deutschen Staat, mit Ministerpräsidenten und sonstigen Marionetten. Man wird den deutschen Nationalstolz ein bißchen kitzeln. Wenn dann die richtigen Leute die Zügel in der Hand haben, werden die Deutschen einstimmig für die Schaffung einer Deutschen SSR stimmen. Ob nun als zwanzigste oder einundzwanzigste Sowjetrepublik.”
Offensichtlich hat Andrej lange keine Gelegenheit gehabt, seine Gedanken laut werden zu lassen.
“Form und Inhalt”, fährt er in seinen nachdenklichen Betrachtungen fort: “Nimm zum Beispiel Sozialismus und Kommunismus. Laut Marx ist der Sozialismus die Vorstufe des Kommunismus. Die sozialistischen Tendenzen in der Welt sind recht stark. Der Fortschritt der modernen Gesellschaft erfordert natürlich irgendwelche neuen Formen. Die sozialdemokratischen Parteien, die Sozialisierungen unter Hitler, die heutige sozialistische Strömung in England. Du kannst das auf Schritt und Tritt beobachten. Nun also – führen tatsächlich alle Wege zum Kommunismus?”
Andrej bricht ab, als könnte er keinen Ausdruck finden für das, was ihm auf der Zunge brennt.
“Jetzt sieh Dir einmal an, was wir heute in Rußland haben”, sagt er dann. “Das nennt sich Sozialismus. Der Form nach scheint es tatsächlich Sozialismus zu sein – alles gehört der Gesellschaft in Gestalt des Staates. Aber dem Inhalt nach? Dem Inhalt nach ist das Staatskapitalismus oder sozialistische Sklavenhalterei. Das Volk vergießt Blut und Schweiß um des künftigen kommunistischen Paradieses willen. Das Ganze erinnert stark an den Esel, dem man ein Bündel Heu an die Deichselstange hängt – der Esel zieht aus Leibeskräften, das Heu bleibt aber immer in der gleichen Entfernung. Und die naiven Idealisten im Westen verwechseln die Begriffe Sozialismus und Kommunismus und stecken ihre Köpfe freiwillig in die Schlinge.”
“Erinnerst Du Dich an Andersens Märchen: «Des Königs neue Kleider»?” fragt Andrej. “Eine herrliche Geschichte. Erinnerst Du Dich, wie man den König nackt durch die Straßen führt und alle des Lobes voll sind über seine wunderbaren neuen Kleider. Unsichtbar, aber wunderbar. Der Kommunismus spielt heute die Rolle dieser unsichtbaren Kleider. Die einen loben ihn, weil sie an ihm verdienen, die zweiten weil sie hoffen, an ihm zu verdienen und die dritten aus Angst, man könnte sie für reaktionäre Dummköpfe halten. Und sie alle beteuern im Chor: «Ach, welch schönes Kleid!» Und niemand außer uns weiß, was das im Grunde für Kleider sind. Die Spinner im Kreml hüten ihr Gespinst nicht umsonst hinter sieben Schlössern. Es gibt feststehende Gesetze der menschlichen Psyche. Wenn einem Menschen Tag für Tag dasselbe eingehämmert wird, fängt er letzten Endes an, daran zu glauben. Man kann hier an Goebbels Gebot denken: «Je unwahrscheinlicher eine Lüge ist, desto eher glaubt man sie». Von der ganzen Hitler-Gesellschaft verehre ich Goebbels am meisten, er war ein kluger Mann und ein offener Zyniker.”
Nach dem Abendessen sitzen wir noch eine Zeitlang am Tisch. Ich überlege mir die Worte Andrejs. Man hat nicht oft Gelegenheit, über diese Themen zu sprechen, meistens versucht man sogar, nicht an sie zu denken.
Man muß zugeben, daß die kommunistische Lehre wirklich eine große Macht besitzt. Es gab noch keine einzige Weltanschauung, die eine so universale Waffe in der Hand desjenigen gewesen wäre, der sie besitzt. Hitler wählte die Rassendoktrin, die Theorie der nationalen Überlegenheit der germanischen Rasse als Grundlage seiner Lehre. Die Schwäche der nationalen Doktrin bestand in ihrer regionalen Begrenztheit. Je weiter sich das Hitlersche Imperium ausdehnte, umso schwerer wurde es, diese Doktrin anzuwenden. In den besetzten Ländern schadete sie Hitler mehr als sie ihm nützte. Die Überlegenheit der kommunistischen Doktrin besteht in ihrer Internationalität. Mussolini wollte das neue Italien nach dem Vorbild des Römischen Imperiums schaffen. Seine Idee war so alt wie die Welt. Die Geschichte lehrt uns aber, daß nur die politischen Doktrinen der Vergangenheit Erfolg hatten, die in der Zukunft wurzelten. Die kommunistische Doktrin ist gerade dadurch stark, daß sie ihr Rezept der Ausmerzung aller Krankheiten der modernen Gesellschaft – in der Zukunft anwendet.
In der demokratischen Welt hoffen die Proletarier ihr Leben zu verbessern, wenn sie den Kommunismus wählen – es ist ganz selbstverständlich, daß ein Mensch danach strebt, sein Leben zu verbessern. Wir hingegen haben bereits alle Illusionen verloren, aber wir sehen keinen Ausweg, wir haben keine anderen Möglichkeiten. Oft versuchen wir uns vergebens einzureden, was wir schon lange nicht mehr glauben; wir suchen nach irgendeinem Kompromiß.
“Wie sonderbar das auch ist, aber zu der kommunistischen Lehre kann man nur eine einzige historische Parallele ziehen – das ist die christliche Lehre”, fängt Andrej wieder an zu sprechen. “Nur sie war ebenso orthodox wie der Kommunismus. Das war auch der Grund, warum sie sich über die ganze Welt verbreitete. Die christliche Lehre sprach die Seele des Menschen an. Teile mit Deinem Nächsten' – hieß es nicht so? Die Geschichte ist zum Materialismus weitergeschritten. Der Kommunismus appelliert an die Instinkte der Menschen. Das vulgäre Primat des Kommunismus ist: «Nimm von Deinem Nächsten». Die neue Gesellschaft nach dem Beispiel der Spinnen in der Grube. Das ist das Prinzip. Alles übrige – das sind nur bunte Lumpen, um die Blößen zu verdecken.”
“Der Mensch muß an irgend etwas glauben”, fährt Andrej wie im Selbstgespräch fort. “Warum haben die Menschen die Sonne oder irgendwelche Idole und Gottheiten angebetet? Aus dem gleichen Grunde. Stalin verfolgt die Religion, weil sie seine Rivalin im Kampf um die Seele des Menschen ist. Stalin ertötete den Glauben an Gott, um an seine Stelle – sich selbst als Idol hinzustellen. Ein Mensch, ein Erdenwurm, hat sich selbst an die Stelle Gottes gesetzt. Weißt Du, mich hat schon vor dem Krieg Stalins Leidenschaft für Heuchelei und Kriecherei zur Raserei gebracht. Ein kluger und moralisch sauberer Mensch würde so etwas nie dulden. Außerdem gibt dieser schmutzige Charakterzug Grund zur Beunruhigung”, Andrej sucht nach dem richtigen Ausdruck. “Es würde ihn ausgesprochen freuen, wenn die ganze Welt... Kein Zweifel, wenn er das Experiment ungestraft machen könnte, würde er keinen Augenblick schwanken. Dieses Ziel ist alt, wie jede Diktatur. Es gibt viele Beispiele, wie alle solche Versuche endeten. Heute aber steht das Schicksal unseres Volkes auf dem Spiel.”
Andrej läßt sich langsam in den Sessel sinken, streckt die Beine aus und lehnt seinen Kopf an den Plüschbezug: “Nach der Kapitulation habe ich angenommen, daß wir von Europa das Beste übernehmen werden – wir sind doch schließlich die Sieger – und dann in unserem eigenen Hause Ordnung schaffen werden. Statt dessen aber verpflanzen wir zwangsweise unseren eigenen Dreck hierher, während wir unserem Volk das letzte Blut aussaugen. Permanente Revolution! Ich bin berufen, den Kommunismus in Deutschland aufzubauen, Wilhelm Pieck ist mein Laufbursche bei diesem Geschäft, und bei uns zu Hause – was geschieht derweilen dort?!”
In Andrejs Augen flackert ein böses Feuer auf. Er springt auf und durchmißt das Zimmer mit langen Schritten. Aus seiner gepreßten Stimme bricht ohnmächtige Wut durch: “Habe ich dafür gekämpft?” “Hör mal, Andrej”, sage ich. “Nehmen wir einmal an, daß Deine Reden keine Provokation sind, sondern daß Du wirklich so fühlst und denkst, wie Du sprichst. Wie läßt sich denn das mit Deiner Arbeit im MWD vereinbaren?”
Andrej blickt mir sekundenlang in die Augen, dann richtet er seinen Blick wieder auf einen unsichtbaren Punkt im Halbdunkel des Zimmers.
“Du meinst, weshalb ich diese rote Mütze trage?” fragt er. “Einfach zum Spaß. Um mich daran zu ergötzen, wie die Leute vor mir zurückschrecken. Das ist das einzige, was mich an meiner Arbeit noch befriedigt. Wenn es innen leer ist, sucht man unwillkürlich Ersatz im Äußerlichen.”
“Du hast diese Ader schon früher gehabt – ä la Nero”, entgegne ich. “Man kommt aber nicht weit damit.”
“Ja, Du hast recht. Ubrigens – kennst Du die Berufskrankheiten der MWD-Leute?” Andrej lächelt hämisch und fährt fort: “Der Alkoholismus ist die harmloseste unter ihnen. Die meisten sind Narkotiker – Morphium, Kokain. Es ist statistisch nachgewiesen, daß drei Jahre Arbeit in den Einsatzorganen genügen, um einen Menschen zum chronischen Neurastheniker zu machen.”
Andrej blickt mich mit einem rätselhaften Lächeln an: “Auf der Krim gibt es ein spezielles MWD-Sanatorium mit erstklassigen Einrichtungen für die Heilung von Narkotikern und Impotenten. Das hilft nur nicht viel. Ein zerrüttetes Nervensystem läßt sich schwer wieder in Ordnung bringen. Normal veranlagte Menschen können diese Art Tätigkeit nicht lange aushalten. Und Intelligenz ist in unserem Beruf am allergefährlichsten. Die Intelligenzler halten noch viel weniger aus als die anderen.”
“Wenn man im MWD Karriere machen will, muß man Schuft von Beruf sein”, fährt er fort. “Die Idealisten haben längst ihre Köpfe eingebüßt, die alte Garde ist in die Geschichte der KPdSU (B) eingegangen. Geblieben sind in der Hauptsache zwei Kategorien: Leute, die widerspruchslos alles tun, was von ihnen verlangt wird, denen es völlig gleichgültig ist, auf welche Art sie ihr Brot verdienen, und dann solche, die bereit sind, ihrer Karriere zuliebe selbst ihre eigene Mutter zu verraten und zu verkaufen. Du kennst das sowjetische Gebot – sei nach außen der Sklave Deines Vorgesetzten, grabe aber im stillen sein Grab, um Dich dann an seine Stelle zu setzen. Das gleiche gilt für das MWD, nur in der geometrischen Progression. Wie geht es doch gleich – die Parabel im Quadrat und die Hyperbel in der dritten Potenz – ist es nicht so? Alles vergessen. Früher berechnete ich Träger mit einer Konsole und feste Rahmen. Jetzt die Analogie – Galgen und Gitter. Die Anwendung der Bautechnik im politischen Aspekt.
Kein Wunder, daß die Leute nach Kokain und Morphium greifen. Hast Du nicht bemerkt, daß alle MWD-Einsatzoffiziere wachsbleiche Gesichter haben? Das kommt von der dauernden Nachtarbeit. Sie leben wie die Eulen. Am Tage schlafen sie und in der Nacht arbeiten sie."
Andrej verkriecht sich noch weiter in seinen Sessel und wirft den Kopf zurück: “Wenn mir der Ekel bis zum Halse steigt, setze ich mich mitten in der Nacht in den Wagen und jage wie ein Irrer durch Berlin. Mit Vollgas über die Ost-West-Achse. Die englischen MP's versuchen mich zu erwischen, aber was können sie schon ausrichten? Ich fahre einen Acht-Zylinder-Tatra. Bringe ihn auf über hundert Sachen und dann s—s—s—st – durchs Brandenburger Tor. Eine Haaresbreite – und man zerfetzt in Atome. Manchmal ist die Versuchung groß... So einfach ist das... Nur eine Haaresbreite... Du hast es gut, Du bist Ingenieur. Es riecht nach Oel und Rauch”, spricht Andrej leise weiter, als beantworte er eigene Fragen. “Um mich her riecht es nach Blut.
Als ich die Universität bezog, schien mir der Beruf eines Ingenieurs etwas Solides zu sein. Wie es im Liede heißt: «Blaue Gardinen vor dem Fenster, das Namensschild in Bronze an der Tür». Später aber, als ich die Praxis kennenlernte und diese ganzen Ingenieure sah! Ich blieb auf der Universität nur dank dem Gesetz des Beharrungsvermögens. Ich wollte irgend etwas anderes. Jetzt weiß ich selbst nicht mehr, was ich will. Ich weiß nur noch eines – meinem Leben wird eine Kugel eine Ende setzen... entweder aus meiner eigenen oder aus einer fremden Waffe."
Andrej tut mir leid. Meine Wohnung betrat ein Mann in der Vollkraft seiner Jahre, der zuversichtlich vorwärts blickte und seinen Lebenszweck scheinbar erreicht hat. Jetzt aber spüre ich aus seinen Worten, daß er verdammt ist. Die Ruhe, mit der er diese Worte vorbringt, verstärkt nur noch diesen Eindruck.
“Du bist doch auch Ingenieur”, sage ich. “Außerdem bist Du Parteimitglied, verdienter Held des Krieges. Stell Dich doch wieder auf Deinen alten Beruf um.”
“Das ist völlig ausgeschlossen”, antwortet Andrej. “Aus dem MWD gibt es keinen Weg zurück. Nicht einmal für uns selbst. Oder hast Du schon solche Leute getroffen? Früher galt die Arbeit in der Tscheka als Sprungbrett für jede anderweitige Karriere. Jetzt sind wir auch auf diesem Gebiet fortgeschritten. Die Frage wird von der anderen Seite her betrachtet, ad adversum – wie Professor Lusin zu sagen pflegte. Jetzt wirst Du gefragt: «Warum sind Sie aus dem MWD ausgeschieden?» Jetzt ist das kein Verdienst, sondern ein Verbrechen – Desertion von dem verantwortungsvollsten Abschnitt der kommunistischen Front. Ich komme nie mehr los, es sei denn, ich gerate selbst hinter die Gitter.”
“Außerdem – wer einmal eine gewisse Macht in Händen gehabt hat, die Macht, über andere Menschen zu befehlen – dem fällt es schwer, anschließend Schmetterlinge zu fangen und Geranien im Blumentopf vor dem Fenster zu ziehen”, spricht Andrej mit einem unguten Lächeln weiter. “Die Macht ist ein pikantes Gericht. Dieses Gericht kann man dem Menschen nur entreißen, wenn man ihm seinen Kopf entreißt.” Wieder klingt aus den Worten Andrejs die Zwiespältigkeit seiner seltsamen Seele.
Einst traf ich in einem Frontlazarett einen Soldaten der Strafkompanie. Vor dem Krieg war er Flugzeug-Ingenieur. Als er einberufen wurde, teilte man ihn, da er Parteimitglied war, für die NKWD-Arbeit ein. Er kam zu der Geheimabteilung des Zentralen Aerohydro-dynamischen Instituts – ZAGI – nach Moskau. Damals wurden im ZAGI geheime Arbeiten auf dem Gebiet der Konstruktion besonders hochfliegender Flugzeuge mit Turbokompressoren durchgeführt.
Kein einziger Moskauer ahnte, daß fast während des ganzen Krieges Tag für Tag ein einsames deutsches Hentschel-Flugzeug über Moskau kreiste. Es kreiste in einer solchen Höhe, daß es für das unbewaffnete Auge unsichtbar war. Nur die eingeweihten Fachleute wußten, was die weißen zickzackförmigen Rauchstreifen bedeuteten, die am Himmel auftauchten und langsam verschwanden. Es waren die Rauchstreifen des geheimnisvollen Flugzeugs. Das Flugzeug warf niemals eine Bombe ab, es machte nur Luftaufnahmen mit Hilfe infraroter Filme. Es war für die Deutschen von größter Wichtigkeit, laufend Luftaufnahmen vom Moskauer Eisenbahn-Knotenpunkt zu bekommen, über den die Hauptlast des Frachtverkehrs von Osten nach Westen lief. Die infraroten Kameras machten selbst in dunkelster Nacht ihre Aufnahmen. Das Gespensterflugzeug hing Tag und Nacht über Moskau. Wenn es fortflog, wurde es von einem anderen abgelöst. Das fiel dem Kreml allmählich auf die Nerven.
Wenn die sowjetischen Jäger nach Erreichung der 10.000-Meter-Grenze unter Aufbietung aller Kräfte krampfhaft höher zu klettern versuchten, verzog sich die Hentschel-Maschine noch höher hinauf, kurvte – sie hatte also ihre Höhengrenze noch nicht erreicht – und beschoß die YAK und MIG, die sowjetischen Jägertypen, mit ihren Bordwaffen. Gewöhnlich aber würdigte sie die sowjetischen Jäger nicht einmal dieser Ehre, sondern machte sich von ihrer unerreichbaren Höhe herunter über sie lustig.
Der Verteidigungsrat hatte dem ZAGI den Sonderauftrag erteilt, in aller Eile Kampfmethoden gegen diese hochfliegenden Flugzeuge auszuarbeiten. Dem neugebackenen NKWD-Leutnant, dem ehemaligen Flugzeug-Ingenieur, wurde die ehrenvolle Aufgabe übertragen, die Arbeit des ZAGI zu kontrollieren. Nach dem “Plan” der NKWD-Hauptverwaltung war er verpflichtet, der NKWD allmonatlich einen bestimmten Prozentsatz von Spionen, Diversanten und Schädlingen namhaft zu machen. Der “Plan” war genau festgelegt – jeden Monat so und so viel Prozent Spione, so und so viel Prozent Diversanten und ähnliche Volksfeinde. Manchmal wurde ein Eilauftrag auf zehn “Spione” – Fräser von Beruf – oder fünf “Schädlinge” – Laboranten oder Metallurgen von Beruf – erteilt. Je nachdem, welche Sorte Facharbeiter die NKWD gerade bei irgendeinem speziellen Bauprojekt benötigte.
Nach ein paar Monaten gingen dem NKWD-Leutnant die Nerven durch. Da er mit den Gepflogenheiten der NKWD noch nicht so gut vertraut war, reichte er einen Rapport ein mit der Bitte, ihm ein anderes Tätigkeitsgebiet zuzuweisen. Am Tage darauf wurde er als einfacher Soldat in die Strafkompanie versetzt. Ich lernte ihn im Lazarett kennen, in dem er nach der Amputation beider Beine lag. Ja, für Andrej gibt es keinen Weg aus dem MWD.
“Wo ist Galina jetzt?” fragt Andrej unvermittelt.
“Irgendwo in Moskau”, erwidere ich.
“Ich habe jetzt nur noch eine einzige Hoffnung”, sagt Andrej versonnen, “vielleicht, wenn ich Galina wiedersehe...”
In diesem Augenblick klingelt es an der Tür. Ich gehe hinaus und kehre mit Michail Sykow zurück, der nicht weit von mir seine Wohnung hat. Sykow entschuldigt sein Eindringen mit der üblichen Tirade: “Ich ging gerade vorbei, da sah ich bei Dir Licht und dachte...”
Er bricht ab, als er Andrej erblickt. Andrejs Gesicht ist im Halbdunkel nicht zu erkennen, der helle Schein der Tischlampe beleuchtet nur die blaugoldenen MWD-Schulterstücke und die reich mit Ordensschnallen geschmückte Brust seiner Uniform. Michail Sykow begrüßt Andrej, dieser nickt nur, ohne sich aus seinem Sessel zu erheben, schweigend mit dem Kopf. Sykow fühlt, daß er ungelegen kommt. Mit einem MWD-Major kann man nicht einfach so plaudern wie mit einem gewöhnlichen Sterblichen. Außerdem kann man nicht wissen, warum er hier ist – vielleicht aus dienstlichen Gründen. In solchen Fällen ist es das Beste, unauffällig wieder zu verschwinden. Außerdem macht der schweigsame Major keinerlei Anstalten, ein Gespräch in Gang zu bringen.
Sykow lehnt also den von mir angebotenen Stuhl ab und erklärt: “Ich glaube, ich mache, daß ich weiterkomme. Will mal sehen, was im Klub los ist.”
Er verschwindet ebenso plötzlich, wie er gekommen ist. Morgen wird er im Dienst sicherlich laut verkünden, daß ich mit dem MWD auf freundschaftlichem Fuß stehe und dabei die Tatsachen bestimmt ausschmücken. Meine Aktien in den offiziellen Kreisen der SMA werden steigen – gute Beziehungen zum MWD sind nicht ohne Bedeutung.
Andrej sitzt noch eine Zeitlang schweigend da, dann erhebt er sich und sagt: “Allmählich wird es auch für mich Zeit, nach Hause zu gehen. Besuch mich, wenn Du mal in Potsdam bist.”