Gregory Klimow. Berliner Kreml. Kapitel 18

Die Flügel des Sklaven

1.

Anfang 1947 machte Anastas Mikojan, Mitglied des Politbüros und Außerordentlicher Bevollmächtigter des Ministerrates der UdSSR für die wirtschaftliche Aufschließung der besetzten Gebiete und der Satellitenländer, eine eingehende Besichtigungsreise durch die Sowjetzone Deutschlands. Anschließend hatte er in Karlshorst eine ausführliche Besprechung mit Marschall Sokolowskij und dessen Stellvertreter für Wirtschaftsfragen, Genossen Kowal.

Auf der Konferenz wurden die Ergebnisse der Umstellung der deutschen Wirtschaft erörtert. Die Bodenreform, die in den ersten Monaten nach der Kapitulation durchgeführt wurde, hatte keine entscheidende wirtschaftliche Wirkung erzielt. Diese Tatsache rief weder bei Anastas Mikojan noch bei Marschall Sokolowskij Verwunderung oder gar Beunruhigung hervor. Durch die Bodenreform waren notwendige taktische Ergebnisse erzielt worden – die Schaffung der Ausgangsbasis für den nachfolgenden Angriff gegen die Bauern und der Voraussetzungen für die bevorstehende Kollektivierung der Landwirtschaft.

Auf dem Gebiete der Industrie war – nach der Massendemontage und der Sozialisierung kleiner Unternehmen unter dem Sammelbegriff "landeseigene Betriebe" – die Vereinigung praktisch der gesamten Grundindustrie der deutschen Sowjetzone in einen kolossalen Industriekonzern unter der Bezeichnung "Sowjetische Aktiengesellschaften" – SAG – die wichtigste Maßnahme der SMA. Dieser seinerzeit von Moskau diktierten Maßnahme wurde auf der Konferenz bei Marschall Sokolowskij besondere Aufmerksamkeit gewidmet.

Die Geschichte der Entstehung der SAG ist folgende. In der zweiten Hälfte des Sommers 1946 fuhr Genosse Kowal, der Stellvertreter des SMA-Oberbefehlshabers für Wirtschaftsfragen, nach Moskau und kehrte von dort mit neuen Geheimanweisungen zurück. Wenig später begannen zwischen der Verwaltung für Industrie, der Verwaltung für Reparationen und dem Büro Kowal geheimnisvolle Schriftstücke zu kursieren. Sie wurden flüsternd "Liste der 216" oder "Liste der 235" genannt. Die Zahl änderte sich ständig. Es waren die für Moskau in Vorbereitung befindlichen Listen der Unternehmen, die zur Verwandlung in "Sowjetische Aktiengesellschaften" vorgesehen waren. Die Liste wurde zur Bestätigung nach Moskau geschickt und kehrte von dort als Anlage zum offiziellen Befehl über die Organisierung der Verwaltung für Sowjet-Aktiengesellschaften in Deutschland zurück. Diese Verwaltung der SAG, die ihr Stabsquartier im Gebäude der ehemaligen Gesellschaft "Askania" in Berlin-Weißensee unterbrachte, umfaßte dreizehn Sowjet-Aktiengesellschaften der wichtigsten Industriezweige, denen im ganzen rund 250 der größten Industriebetriebe der Sowjetzone angeschlossen waren. Entsprechend dem Status des neuen Konzerns sind 51 Prozent der Aktien aller angehörenden Betriebe sowjetisches Eigentum. Auf diese Weise gelangte praktisch die gesamte Industrie der Sowjetzone Deutschlands in sowjetische Hände, und das nicht nur vorübergehend auf Grund des Rechtes des Siegers oder für die Dauer der Besetzung, sondern auch für die Zukunft.

Auf der Postdamer Konferenz wurde unter aktiver Beteiligung Stalins der Frage der Dekartellisierung der deutschen Wirtschaft größte Aufmerksamkeit gewidmet und beschlossen, die deutschen Industriekonzerne zu liquidieren, da sie nicht nur als wichtiger wirtschaftlicher, sondern auch als verderblicher politischer Faktor, häufig aggressiven Charakters, betrachtet wurden. Dementsprechend war die Frage der Liquidierung der deutschen Konzerne einer der ersten Programmpunkte auf der Tagesordnung des Alliierten Kontrallrates in Deutschland, in dem auch General Schabalin eine Lanze für diese Maßnahme brach. Und jetzt wird, wiederum auf Befehl von Moskau, in der deutschen Sowjetzone der größte neue Industriekonzern nicht nur Deutschlands, sondern wohl der ganzen Welt gegründet. Das wirtschaftliche wie das politische Gewicht dieses Konzerns übersteigt alles, was bis zu dieser Zeit in Deutschland und in Europa bestanden hat. Und dieser Superkonzern befindet sich jetzt nicht mehr in deutschen, sondern in sowjetischen Händen. In dem sich zwischen Ost und West anbahnenden Kampf um Deutschland und um Europa werden die SAG die Rolle eines gewichtigen Trumpfes in den Händen des Kreml spielen.

Die folgerichtigen wirtschaftlichen Maßnahmen der SMA in Deutschland verfolgen ebenso wie die gesamte Wirtschaftspolitik des Kreml unter dem Deckmantel tönender demagogischer Phrasen weitreichende politische Ziele. Das Ziel der gegenwärtigen Umgestaltung der sowjetdeutschen Wirtschaft ist, Deutschland unsichtbare, dafür aber um so festere wirtschaftliche Ketten anzulegen. Es ist der notwendige wirtschaftliche Ausgangspunkt für den weiteren politischen Vormarsch. Begreifen werden das vorerst nur wenige, spüren werden es alle.

Fast zur gleichen Zeit wie Mikoj an unternahm auch ein zweites Mitglied des Politbüros, der Innenminister der UdSSR Lawrentij Berija, eine Besichtigungsreise durch die Länder Osteuropas und durch Ostdeutschland. Nach dieser Reise fand ebenfalls eine eingehende Besprechung mit Marschall Sokolowskij und dem Chef der Verwaltung für Innere Angelegenheiten der SMA, Generaloberst Serow, statt. Auf dieser Konferenz wurden Maßnahmen zur Festigung der innenpolitischen Front in Deutschland behandelt. Eine gesetzmäßige Entwicklung der Ereignisse – dem Meister der wirtschaftlichen Ausbeutung folgt der*Meister der physischen Verniditung.

Eines der Ergebnisse des Berija-Besuches in Karlshorst war eine neuerliche Säuberungswelle unter dem Personal der SMA. Eine immer wachsende Anzahl von Offizieren, die seit Gründung der SMA in Karlshorst waren, wurde in die Sowjetunion zurückberufen. An ihre Stelle kamen neue Leute aus Moskau, die man auf den ersten Blick unweigerlich als Parteileute reinsten Wassers erkennen konnte. Während des Krieges waren sie nicht zu sehen, sie hatten sich irgendwo in sicheren Schlupfwinkeln verkrochen. Jetzt aber kam diese zuverlässige Stütze dqr Partei wieder an die Oberfläche und begann, die führenden Stellungen zu übernehmen.

Die Ablösung der Menschen in Karlshorst entsprach voll und ganz der Nachkriegspolitik des Kreml, die darauf gerichtet war, die .Schlüsselpunkte erneut fest in die Hand zu nehmen. Hierbei sprang ein übriges Mal der Unterschied zwischen "nominellen Parteimitgliedern" und "Parteileuten reinsten Wassers" in die Augen. Fast jeder sowjetische Offizier ist Mitglied der Partei. Aber die Partei selbst ist weit davon entfernt, sie für echte Parteileute zu halten.

Anderthalb Jahre sind vergangen, seit Karlshorst aus einem stillen Vorort der Reichshauptstadt zum Berliner Kreml und damit zu einem Begriff wurde, den die Welt kennt. Vieles hat sich in dieser Zeit in der Welt und in Karlshorst geändert. Bin großer Teil dieser Veränderungen ist der Tätigkeit Karlshorsts als des Vorpostens der sowjetischen Außenpolitik zuzuschreiben. Das hat auch eine Veränderung der internationalen Atmosphäre mit sich gebracht, was die Menschen in Karlshorst in erster Linie zu spüren bekommen.

Nur die Erinnerung an jene Tage, in denen die Russen überall als Befreier und Verbündete begrüßt wurden, ist geblieben. Die Nachkriegspolitik des Kreml ließ auch nicht eine Spur der Sympathien zurück, die sich der russische Soldat auf den Schlachtfeldern in der Welt errungen hat. Der Heldenmut und die Selbstaufopferung des russischen Volkes im Kampf um sein Vaterland hatten der Sowjetunion den ersten Platz unter den Großmächten der Erde gesichert, doch führte das zu unerwarteten Ergebnissen. Der Kreml beschloß, die entstandene Lage für seine außenpolitischen Ziele auszunutzen. Anstatt der Entspannung, die es nach dem Kriege erhofft und erwartet hatte, muß das Volk jetzt wieder alle Lasten tragen, die das abenteuerliche außenpolitische Glücksspiel des Kreml ihm auferlegt. Am internationalen Horizont sammeln sich erneut drohende Gewitterwolken. Am besten sichtbar sind sie den Menschen im Vorposten Karlshorst. Sie sprechen nicht gern von der Gefahr eines neuen Krieges, aber sie denken an ihn – mit schwerem Herzen.

Je weiter sich die Ereignisse entwickeln, desto größer wird die Gefahr eines neuen Krieges. Das erscheint widersinnig und unnatürlich, aber die Tatsachen sprechen für sich. Viele versuchen sich einzureden, daß die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Verbündeten einfach der Streit um die Teilung der Beute sind. Aber das ist eine schwache Ausrede. Die Sowjetoffiziere kennen die Theorie des Marxismus-Leninismus über die Weltrevolution zu gut, um daran zu1 glauben. Wir, die Sowjetmenschen auf der Grenze zweier Welten, die wir vom ersten Tage an in Berlin waren, die den ganzen Prozeß der Entwicklung der Beziehungen zwischen den Verbündeten seit der Kapitulation Deutschlands erlebt haben, die sich mit eigenen Augen davon überzeugen konnten, daß der Westen tatsächlich den Frieden anstrebte und anstrebt, und die gesehen haben, wie alle Versuche, einer friedlichen Zusammenarbeit von der Sowjelseite systematisch sabotiert wurden – wir wissen vieles, was die Sowjetmenschen in der Sowjetunion nicht wissen und nicht wissen können.

Wir erinnern uns genau an die ersten Monate nach der Kapitulation Deutschlands. Die westlichen Verbündeten demobilisierten ihre Armeen so rasch, wie die Transportverhältnisse es nur erlaubten. Zur gleichen Zeit brachte die Sowjetführung mit der gleichen Eile ihre angeschlagenen Divisionen in volle Kampfbereitschaft – sie ergänzte ihren Mannschaftsbestand und schickte neue Panzer und Flugzeuge. Damals zerbrachen sich die Menschen den Kopf – wozu das alles? Vielleicht braucht man für die diplomatischen Verhandlungen am grünen Tisch eine gepanzerte Faust. Die Ereignisse der Folgezeit zeigten wozu. Friedenswillen erachtet der Kreml für Schwäche, die Demobilisierung der Demokratien als Gelegenheit für eine weitere Aggression. Folglich bleibt den Demokratien nichts übrig, als ebenfalls aufzurüsten. Das bedeutet – erneutes Wettrüsten statt eines friedlichen wirtschaftlichen Wiederaufbaus Rußlands, erneut all das, was wir aus der Vorkriegszeit so gut kennen. Wozu wird das alles führen?

Wenn das Feuer der politischen Leidenschaften auf die nationalen Gefühle übergreift – was dem Kreml besonders erwünscht ist – wenn das Wettrüsten auf dem Höhepunkt anlangt, dann wird es schwer sein festzustellen, wer damit angefangen hat und wer daran die Schuld trägt. Dann wird – und das ist ganz natürlich – jeder den anderen beschuldigen.

Dieses Mal wissen wir, die Menschen der sowjetischen Besatzungstruppen, das eine ganz genau: was immer geschehen möge, die ganze Last der Schuld für die Folgen liegt einzig und allein auf den Schultern des Kreml. Dieses Mal ist es uns klar, wer das Spiel auf dem Pulverfaß in Szene gesetzt hat. Dieses Mal haben wir keinen Zweifel an den Grundursachen der neuen Kriegsgefahr.

2.

Je mehr siiph die allgemeine Atmosphäre verdichtet, desto eintöniger verläuft das Leben in Karlshorst. Die Tage dehnen sich grau und gleichförmig, einer wie der andere. An einem dieser grauen Tage trat ich meinen üblichen Vierundzwanzig-Stunden-Wachdienst im Stabe an, den ich einmal monatlich zu erfüllen hatte.

Der Wachhabende im Hauptquartier der SMA hat sich im Laufe des Tages im Vorzimmer des Oberbefehlshabers der SMA aufzuhalten, wo er als Helfer des Adjutanten des Marschalls fungiert. In der Nacht tut er mit den Rechten eines Adjutanten allein im Arbeitszimmer des Marschalls Dienst.

Um sechs Uhr abends nahm ich wie gewöhnlich meinen Platz im Vorzimmer ein. An diesem Abend befand sich Marschall Sokolowskij in Potsdam, so daß das Vorzimmer leer war. Um halb acht Uhr verabschiedete sich der Adjutant, und ich blieb allein an seinem Schreibtisch sitzen. Um mich über die Lage der Dinge zu unterrichten, sah ich die Aktendeckel auf dem Tisch und alle laufenden Angelegenheiten durch. So verging unmerklich die Zeit, nur unterbrochen von telefonischen Anrufen.

Nach Mitternacht nahm ich vorschriftsmäßig den Platz am Tisch des Marschalls ein, um die direkten Telefonleitungen des Oberbefehlshabers unverzüglich bedienen zu können. Nicht selten kommen mitten in der Nacht Anrufe aus dem Kreml. Dann muß das Telefonogramm aufgenommen und bestimmungsgemäß weitergeleitet werden.

Idi begann die auf dem Tisch des Marschalls umherliegenden Papiere zu ordnen. Dabei fielen mir gedruckte Informationsbulletins auf. Geheimbulletins, die nur für den höchsten Kommandostand bestimmt und einzeln numeriert sind. Ich machte mich daran, die Blätter mit den Randbemerkungen des Marschalls zu lesen. Der Inhalt der Bulletins war sehr eigenartig. Eine lückenlose Sammlung dessen, was die sowjetische Presse sorgfältig verschweigt oder wovon sie gerade das Gegenteil behauptet. Wenn ein Sowjetmensch es wagen würde, etwas Ähnliches verlauten zu lassen, würde er als Konterrevolutionär beschuldigt und hätte alle sich daraus ergebenden Folgerungen zu tragen. Dabei ist es das offizielle Informationsbulletin für den Oberbefehlshaber der SMA, das ich in meinen Händen habe.

Es ist ein schwerer Irrtum, die Handlungen der sowjetischen Führer damit rechtfertigen zu wollen, daß sie dieses oder jenes Problem nicht kennen oder daß ihnen Informationen fehlen. Seinerzeit kam es vor, daß bäuerliche Fürsprecher aus dunkelsten Einöden zu den Toren des Kreml pilgerten. Sie waren naiv genug zu glauben, Stalin könne durch die Mauern des Kreml nicht sehen, was rings herum geschieht, Stalin sei gut – man müsse ihm nur die Wahrheit sagen, und er würde alles ändern. Die Bauern mußten ihren Glauben mit dem Leben bezahlen und alles blieb beim Alten. Die Sowjetführer wissen alles und sind für alles voll verantwortlich.

Die schlaflose Nacht verging. Der Tag im Vorzimmer des SMA-Ober- befehlshabers brach an, angefüllt mit rastloser Geschäftigkeit. Generale aus der Provinz liefen eilfertig hin und her, Vertreter der neuen deutschen Demokratie drückten sich bescheiden in den Ecken herum. Die Schmiede des neuen Regimes arbeitete auf vollen Touren.

Gegen sechs Uhr morgens, ich wollte gerade die Wache übergeben, kam Ingenieur Sykow, um sich mit mir für die vorgesehene Jagd zu verabreden. Das Telefon unterbrach unsere Unterhaltung. Ich nahm den Hörer ab und meldete mich mit der üblichen Wendung: "Diensthabender des Stabes!" Aus dem Hörer ertönte die Stimme des Stellvertreters des Oberbefehlshabers für Wirtschaftsfragen, meines direkten Vorgesetzten Kowal:

"Genosse Klimow?"

"Jawohl."

"Bitte kommen Sie für einen Augenblick zu mir."

"Kowal will nicht den Diensthabenden des Hauptstabes sprechen, sondern mich persönlich", denke ich, als ich aus dem Vorzimmer in Kowals Arbeitszimmer gehe. "Was wird es geben?"

Kowal empfängt mich mit der Frage: "Wissen Sie, was hier los ist?" Er streckt mir einen Befehl des Hauptstabes der SMA entgegen. Ich nehme das Blatt und lese:

Der Oberingenieur Klimow, G. P., ist als hochqualifizierte Fachkraft der sowjetischen Volkswirtschaft aus den Reihen der Sowjetarmee zu entlassen und seiner Dienststelle bei der Sowjetischen Militär-Administration zu entbinden. Er ist zur weiteren Verwendung seiner fachlichen Fähigkeiten in die Sowjetunion zurückzuschicken."

Im ersten Augenblick kann ich nicht begreifen, was das bedeutet. Der Befehl macht auf mich einen unangenehmen Eindruck. Hier ist etwas nicht in Ordnung. In bezug auf das leitende Personal wird gewöhnlich eine gewisse formelle Höflichkeit eingehalten. Der Betreffende wird in solchen Fällen zuerst persönlich zur Aussprache vorgeladen, ihm aber nicht einfach ein Befehl unter die Nase gehalten.

"Haben Sie sich vielleicht um die Versetzung nach Moskau bemüht?" fragt Kowal.

"Nein...", antworte ich geistesabwesend.

"Unterschrieben vom Chef des Stabes, ohne vorherige Rücksprache mit mir", Kowal macht eine ratlose Handbewegung.

Fünf Minuten später betrete ich das Arbeitszimmer des Chefs der Kaderabteilung der SMA. Ich hatte mehrfach Gelegenheit, mit Oberst Utkin zusammenzutreffen, so daß er mich persönlich kennt. Ohne meine Fragen abzuwarten, sagt der Oberst: "Na, wie ist es – darf man gratulieren? Sie fahren nach Hause..." "Genosse Oberst, was geht hier vor?" frage ich.

Mich interessiert der Grund des unerwarteten Befehls. Ohne schwerwiegende Ursachen werden Mitarbeiter von Karlshorst nicht in die Sowjetunion abberufen. Anträge von SMA-Mitarbeitern auf Rückkehr in die Sowjetunion werden in der Regel vom Stab abgelehnt.

"Mich berührt nicht so sehr der Inhalt des Befehls, als vielmehr seine Form", sage ich. "Was ist da los?"

Utkin schweigt eine Zeitlang. Dann sagt er nach kurzem Zögern: "Die Politverwaltung hat ihre Hand im Spiel. Unter uns – ich wundere mich, daß Sie sich hier so lange gehalten haben, als Parteiloser..." Ich drücke dem Oberst dankbar die Hand.

Beim Abschied rät er mir: "Denken Sie daran, daß Sie nach der Unterzeichnung des Grenz-Propusk innerhalb dreier Tage von hier abreisen müssen. Wenn irgend etwas vorliegt, verzögern Sie die Übergabe der Geschäfte."

Ich verlasse das Arbeitszimmer des Obersten mit einem Gefühl der Erleichterung. Jetzt ist mir alles klar. Ich gehe über den schwach beleuchteten Korridor, langsam nimmt eine sonderbare Empfindung von mir Besitz. Neue Kraft strömt durch meinen Körper, ein leichtes Zittern durchläuft die Adern und die Seele erfaßt ein unerklärliches Freiheitsgefühl. Die gleiche Empfindung beherrschte mich, als ich zum ersten Male hörte, der Krieg sei ausgebrochen. Und die gleiche Empfindung beherrschte mich, als ich zum ersten Male den Soldatenrock anzog. Es war das Vorgefühl großer Veränderungen. Es war ein Windhauch des Unbekannten in meinem Gesicht.

Und jetzt schreite ich durch die Korridore des Hauptstabes der SMA und fühle wieder den Hauch dieses Unbekannten. Er berauscht mich, dieser Windhauch in meinem Gesicht.

Durch die öden Straßen Karlshorsts gehe ich nach Hause. Hinter den Gitterzäunen Wiegen Bäume ihre kahlen Zweige. Ringsum der feuchte deutsche Winter. Dunkelheit und Stille. Ein Vorübergehender grüßt, ich antworte automatisch. Ich habe keine Eile. Mein Schritt ist langsam und bedächtig. Als ginge ich nicht den wohlbekannten Weg nach Hause, als stehe ich am Anfang eines langen Weges. Ich schaue um mich, tief sauge ich die Luft ein, ich spüre die Erde unter meinen Füßen, wie ich sie lange nicht mehr spürte. Seltsame, unerklärliche Gefühle durchströmen mich.

Kaum habe ich die Tür meiner Wohnung hinter mir geschlossen, als Sykow mir auf dem Fuße folgt. Er erkennt sofort an meinem Gesicht, daß etwas geschehen ist.

"Wohin schickt man Dich?" fragt er.

"Nach Moskau", entgegne ich kurz.

"Wozu?"

Ich stehe, noch im Mantel, am Schreibtisch und trommle schweigend mit den Fingern-auf der polierten Platte.

"Warum denn?" fragt Sykow von neuem.

"Ich habe mir das rote Büchlein nicht rechtzeitig angeschafft...", antworte ich widerwillig.

Sykow betrachtet mich mitfühlend. Dann holt er aus der Brusttasche ein längliches Stück roter Pappe und dreht es zwischen den Fingern. "Was hätte er Dir geschadet?" sagt er und blickt auf seinen Partei- e.usweis. "Schreist einmal in der Woche auf einer Parteiversammlung Dein «Heü» – anschließend kannst Du in die Toilette gehen und ausspucken."

Sykows Worte berühren mich unangenehm. Instinktiv fährt mir der Gedanke durch den Kopf, daß dieses Stück Pappe noch warm ist von der Wärme seines Körpers, dort, wo sein Herz schlägt.

Als errate er meine Gedanken, fügt Sykow hinzu: "Sechs Jahre konnte ich mich als Kandidat herumdrücken... Länger ging es nicht."

Die Anwesenheit dieses Menschen und seine Worte reizen mich. Ich will allein sein. Er fordert mich auf, mit ihm in den Klub zu gehen. Ich lehne ab.

"Ich gehe Billard spielen", sagt Sykow und wendet sich zur Tür. "Von zwei Banden die Kugel in die Ecke – und nichts von Ideologie." Ich stehe immer noch am Schreibtisch. Auch meinen Mantel habe ich noch an. Der Mantel auf meinen Schultern entspricht dem Gefühl, auf dem Weg zu sein. Ich versuche mich zu setzen, springe aber gleich wieder hoch. Ich kann nicht ruhig sitzen. Etwas brennt in meinem Innern. Die Hände in den Taschen vergraben, wandere ich durchs Zimmer.

Ich stelle das Radio an. Die fröhliche Musik sägt an meinen Nerven. Ich schalte den Empfänger wieder aus. Das Telefon klingelt lange und unausgesetzt – ich kümmere mich nicht darum und nehme den Hörer nicht ab. Auf dem Tisch steht ordentlich zugedeckt mein Abendbrot, das das Dienstmädchen bereitet hat. Ich sehe die Speisen nicht einmal an, ich gehe mit zu Boden gesenktem Kopf von einer Ecke in die andere. Das weiße Papier mit dem Befehl hat in mir den Damm zum Einsturz gebracht, der schon lange auf meiner Brust lastete. Ich fühlte, daß in meinem Innern alles durchbrochen ist, alles verwirrt. Nichts als eine schmerzhafte Leere im Herzen. Und gleichzeitig kriecht von irgendwoher, aus weiter Ferne, langsam etwas anderes heran, etwas Freudloses und Unerbittliches, von dem es kein Entrinnen gibt.

Heute muß ich den Strich ziehen.

Heute ist mir eines klar: ich glaube nicht an das, was hinter meinem Rücken liegt. Wenn ich aber nach Moskau zurückkehre, muß ich unverzüglich in die Partei eintreten, an die ich nicht glaube. Einen anderen Ausweg habe ich nicht. Ich werde es tun müssen, um mein Leben zu retten, um das Recht zu haben, zu existieren. Mein Leben lang werde ich lügen und heucheln müssen, allein des nackten Daseins willen. Daran zweifle ich nicht. Ich habe anschauliche Beispiele. Andrej Kow- tun – ein Mensch in der Sackgasse. Michail Beljawskij – ein Mensch hinter dem Grenzstrich. Major Dubow – ein Mensch im Leerlauf. Bin ich denn aber selbst nicht auch ein Mensch im Leerlauf? Wie lange kann es so weitergehen?

Ich werde ein Heim haben – und werde auf das nächtliche Klopfen an der Tür warten. Ich werde heiraten – um meiner eigenen Frau zu mißtrauen. Ich werde Kinder haben – die mich jederzeit verraten oder zu Waisen werden können, die sich ihres Vaters schämen.

Bei diesen Gedanken strömt mir das Blut zu Kopf. Der Kragen drückt mir die Kehle zu. In der Brust erhebt sich eine heiße Woge der Wut. Mir wird siedend heiß, ich fühle die Schwere des Mantels.

Vorläufig ist dieser Soldatenmantel noch auf meinen Schultern und die Waffen noch in meiner Hand. Ich will mich nicht von diesem Mantel trennen, von den Waffen. Warum?

Wenn ich zurückkehre, werde ich früher oder später zugrunde gehen. Wofür? Ich glaube nicht an die Zukunft. Und was hatte ich in der Vergangenheit? Ich versuche, mich dieser Vergangenheit zu erinnern. Als ich das Licht der Welt erblickte, spiegelten sich die Brände der Revolution in meinen Augen. Als ruheloses Wolfsjunges wuchs ich heran, während in meinen Augen dauernd diese Feuer flammten. Ich war ein Wolfsjunges Stalinscher Zucht, ich kämpfte mit Zähnen und Klauen um mein Leben und stürmte nichts achtend vorwärts, nur vorwärts. Heute steht das Stalinsche Wolfsjunge auf der Höhe seiner Lebenskraft und überblickt den Punkt, auf den es gelangt ist.

Heute muß ich mir selbst gestehen – mein ganzes Leben lang zwang ich mich, an etwas zu glauben, woran ich vom Tage meiner Geburt an nicht glauben konnte. Mein ganzes Leben lang habe ich nur Kompromisse mit dem Leben gesucht. Ich glaube nicht! Und wenn einer meiner Altersgenossen sagt, daß er glaubte – dann sage ich ihm, daß er lügt, daß er ein Feigling ist. Glauben vielleicht solche Leute wie Sykow? Ich gehe durchs Zimmer, den Blick auf meine Stiefel gesenkt. Von Moskau bis Berlin haben sie die Erde getreten. Ich erinnere mich der in Rauch und Flammen gehüllten Jahre des Krieges – der Feuertaufe, in der das Gefühl der Verantwortlichkeit gegenüber dem Vaterland erwachte. Vor meinen Augen zieht noch einmal der vom Siegesfeuer überstrahlte Rote Platz und die Mauern des Kreml vorüber – Tage des Stolzes und des Ruhms, in denen die überströmenden Gefühle sich in rasendem Schrei Luft machten. In meinen Ohren tönen noch einmal die Worte, die einmal meine Brust zu sprengen drohten: . . Unter den Ersten, unter den Besten der Besten marschierst Du heute über den Roten Platz!"

Jetzt marschiere ich von einer Ecke meines Zimmers in die andere, wie ein Wolf im Käfig. Ja, der Krieg hat uns geblendet! Im Kampf um die Heimat haben wir vieles vergessen. Damals konnte man nicht anders, wir hatten keinen anderen Ausweg.

Diejenigen, die den anderen Weg gingen... Mit schmerzhafter Schärfe erinnere ich mich der ersten Tage des Krieges. Ich bin dem Schicksal unendlich dankbar, daß ich in jenen ersten Tagen nicht an der Front war. Dadurch wurde ich der Notwendigkeit einer schweren Entscheidung enthoben. Als die Reihe an mich kam, den Soldatenrock anzuziehen, wußte ich schon genau, daß der Weg der Russen nicht der Hitlers ist. Und ich kämpfte bis zum Schluß. Kämpfte für etwas, woran ich nicht glaubte. Kämpfte und tröstete mich mit Hoffnungen.

Heute habe ich nicht einmal mehr diese Hoffnungen. Heute fühle ich, daß wir fehlten – wir haben die Sache nicht durchgefoehten. Wir verließen uns auf Versprechungen. Deshalb will ich heute den Soldatenrock nicht ausziehen. Bis es noch nicht zu spät ist!

Heute ziehen sich am Horizont erneut die Gewitterwolken zusammen. Wenn ich nach Moskau zurückkehre, werde ich wieder vor die gleiche quälende Entscheidung gestellt sein, wie im Juni 1941. Wieder werde ich das verteidigen müssen, was ich nicht verteidigen will.

Noch mehr – heute bin ich überzeugt, daß die Männer im Kreml das Land auf einen unheilvollen Weg führen. Heute bedroht uns niemand. Statt dessen bedrohen wir die Welt. Es ist ein unnötiges und gefährliches Spiel. Wenn wir siegen – wozu? Wenn wir besiegt werden – wer wird die Schuld tragen und wer wird die Rechnungen des Kreml bezahlen? Ein jeder von uns!

Ich habe die Angst um die Heimat, Kampf und Sieg erlebt. Und überdies habe ich mit eigenen Augen die ganze Bitternis der Niederlage gesehen. Das zusammengebrochene Deutschland ist ein gutes Beispiel. Auch seine Führer liebten das Glücksspiel. Deutschland windet sich in Krämpfen des Hungers und der Schande – und wo sind die Schuldigen? Sind nur die Führer schuld oder die ganze Nation?

Wenn der Krieg ausbricht, wird es zu spät sein. Der Krieg hat seine eigenen Gesetze. Die, welche der Kreml zu seinen Feinden gemacht hat, werden uns für Feinde halten. Sie wollen den Krieg nicht, wenn aber der Krieg unausweichlich, ist, werden sie ihn führen müssen. Was bleibt zu tun – wieder zum Spielzeug werden in den Händen der verbrecherischen Spieler?

Stunde um Stunde marschiere ich durchs Zimmer, den Mantel über den Schultern. Es ist weit nach Mitternacht, ich denke nicht an Schlaf. Leer ist es hinter mir – und ebenso leer vor mir. Ich fühle nur ein kategorisches Bewußtsein – ich kann nicht zurück. In meinem Kopf hämmert unaufhörlich immer der gleiche Gedanke: "Was tun?"

Erst gegen Morgen fühle ich Müdigkeit und lege mich unausgeklei- det auf die Couch. So schlafe ich ein, den Mantel über den Kopf gezogen.

3.

In den folgenden Tagen begann ich allmählich meine Dienstgeschäfte zu übergeben. Nach dem Rat Oberst Utkins zögerte ich diesen Vorgang bewußt hinaus. Ohne vorerst selbst zu wissen, warum, versuchte ich Zeit zu gewinnen. Und die ganze Zeit bedrängten mich die gleichen quälenden Gedanken, verfolgte mich unausweichlich die Frage "Was tun?"

An einem solchen Tag steige ich in Zivil aus der U-Bahn auf dem Kurfürstendamm im englischen Sektor Berlins hinaus. Die Füße treten in den schmutzig-nassen Brei tauenden Schnees. Durchdringende Feuchtigkeit erfüllt die Luft. Die vertraute Straße kam mir fremd und unfreundlich vor. Ich ging ziellos vorwärts, streifte mit dem Blick die Namensschildchen an den Haustüren. Meine Finger spielten in der Tasche des Mantels mit dem Griff der Pistole. Schließlich traf ich meine Wahl – ein Schildchen an der Tür. Ich trat ins Haus. Eine breite Marmortreppe eines einstmals prachtvollen Hauses. Jetzt herrscht hier Halbdunkel. Durch die bombenzerstörten Fenster pfeift feuchtkalter Wind. Mit Mühe finde ich die gesuchte Tür und klingle. Ein Mädchen in umgehängtem Mantel öffnet.

"Kann ich Herrn Diels sehen?" sage ich.

"In welcher Angelegenheit, bitte?" fragt das Mädchen höflich.

"In einer Privatangelegenheit", entgegne ich trocken.

Das Mädchen führt mich hinein und bittet, einen Augenblick zu warten. Ich sitze in dem kalten dunklen Empfangszimmer des Rechtsanwalts. Das Mädchen verschwindet durch eine Seitentür. Nach wenigen Augenblicken erscheint es wieder auf der Schwelle mit den Worten: "Herr Doktor läßt bitten..."

Ich betrete ein riesiges ungeheiztes Arbeitszimmer. Ein älterer Herr mit goldener Brille auf der schmalen Nase erhebt sich zur Begrüßung von seinem Sessel.

"Womit kann ich Ihnen dienen?" fragt der deutsche Rechtsanwalt, indem er mir einen Sessel anbietet. Er reibt sich die frostkalten Hände in Erwartung der üblichen Ehescheidungssache.

"Meine Bitte ist etwas ungewöhnlich, Herr Doktor", sage ich und fühle zum erstenmal im Gespräch mit einem Deutschen eine gewisse Unsicherheit.

"Oh, Sie brauchen sich hier nicht zu genieren", hilft mir der Rechtsanwalt mit gewohnheitsmäßigem Lächeln.

"Ich bin russischer Offizier", sage ich langsam und senke unbewußt die Stimme.

Durch überströmende Herzlichkeit versucht der Rechtsanwalt mir zu zeigen, daß er sich durch meinen Besuch sehr geehrt fühlt. "Gerade dieser Tage war ein sowjetischer Offizier bei mir mit einem deutschen Mädchen", sagt er, offensichtlich in dem Wunsch, mir sein Verständnis zu bekunden.

Ich höre seine weiteren Erklärungen kaum – warum eigentlich dieser Offizier bei ihm war. Durch meinen Kopf blitzt der ärgerliehe Gedanke: "Mißglückter Anfang..." Zum Rückzug ist es aber zu spät und ich entschließe mich, zur Sache überzugehen.

"Sehen Sie, ich bin demobilisiert und soll nach Rußland zurück", sage ich. "Ich werde Sie nicht mit Erklärungen belästigen – warum und wieso. Kurz – ich möchte nach Westdeutschland."

Das Lächeln im Gesicht des Rechtsanwalts erstarrt. Sekundenlang weiß er nichts zu sagen, dann fragt er vorsichtig: "A-a-a... Und was kann ich dabei tun?"

"Ich muß mich mit den Alliierten in Verbindung setzen", sage ich. "Ich will um politisches Asylrecht bitten. Selbst kann ich das nicht. Wenn man mich gerade jetzt mit einem Alliierten zusammensieht oder bemerkt, daß ich aus einer alliierten Behörde komme – ist das für mich ein zu großes Wagnis. Daher möchte ich Sie bitten, mir zu helfen."

Im Zimmer herrscht minutenlanges Schweigen. Dann bemerke ich, daß Herr Diels begonnen hat, sinnlose Dinge zu tun. Er rutscht unruhig auf seinem Sessel herum, sucht zerfahren nach irgend etwas in seinen Taschen, wühlt in den Papieren auf dem Tisch.

"Ja, ja... Ich verstehe Sie", murmelt er halblaut. "Ich bin auch ein Opfer des Naziregimes."

Darauf zieht Herr Diels eine Brieftasche aus der Tasche und blättert eilig in den zahlreichen Schriftstücken. Endlich findet er, was er sucht, und streckt mir mit leicht zitternder Hand ein Papier über den Tisch, das an den Faltstellen geklebt und offenbar häufig in Gebrauch ist.

"Sehen Sie, ich habe sogar eine Bescheinigung darüber", sagt er, als wolle er sich wegen irgend etwas rechtfertigen.

Ich überfliege das Papier. Es enthält die Bestätigung, daß der Vor- zeiger des Schriftstückes ein Opfer des Nazismus ist und beinahe Kommunist. Erneut durchfährt mich der unangenehme Gedanke, daß jeh an die falsche Adresse geraten bin. Gleichzeitig fühle ich, daß der Rechtsanwalt vor irgend etwas Angst hat und versucht, sich rückzuversichern.

"Herr Doktor, offen gesagt, wäre es mir im gegenwärtigen Augenblick lieber, es mit dem eingefleischtesten Nazisten zu tun zu haben", sage ich, indem ich ihm das Papier zurückreiche.

"Wer hat mich Ihnen empfohlen?" fragt der Rechtsanwalt unentschlossen.

"Niemand", entgegne ich. "Ich bin aufs Geratewohl zu Ihnen gekommen. Ich lasse mich von einer einzigen Überlegung leiten – ich kann niemandem aus meiner Umgebung trauen."

"Ich habe angenommen, daß ich in Ihnen einen Menschen treffen werde, der in der Lage ist, mir zu helfen", fahre ich fort. "Andererseits, wenn Sie mir aus irgendwelchen Gründen nicht helfen können, haben Sie keine Veranlassung, mir zu schaden."

Der Rechtsanwalt sitzt in Gedanken versunken. Schließlich scheint er einen Entschluß zu fassen und wendet sich mit folgenden Worten an mich: "Sagen Sie mir bitte, was gibt mir die Sicherheit, daß Sie..." Er dreht angestrengt einen Bleistift in den Händen und vermeidet es, mir ins Gesicht zu sehen. Dann, als gäbe er sich einen Anstoß, hebt er den Blick und sagt leicht stockend: "... daß Sie nicht ein Agent dieser... dieser Ge-Pe-U sind?"

Mir schneidet die alte Bezeichnung der vertrauten Behörde direkt in die Ohren. Anscheinend kennen die Deutschen die neue Bezeichnung noch nicht. Ungeachtet des Ernstes der Lage zwingt die Frage des Rechtsanwaltes mich unwillkürlich zum Lächeln. Das, was ich von anderen fürchte – dessen verdächtigt man mich selbst.

Ich zucke nur mit den Schultern und sage: "Ich hatte noch keine Gelegenheit, darüber nachzudenken, Herr Doktor. Vorläufig überlege ich mir, wie ich meinen eigenen Kopf vor dieser GPU retten könnte."

Der Rechtsanwalt sitzt unbeweglich und läßt seine Gedanken laut Werden: "Sie sprechen gut deutsch... Zu gut... Außerdem ist das alles so ungewöhnlich..." Er sieht mich aufmerksam, als suche er meine Gedanken zu lesen, an, und sagt: "Gut. Ich bin ein alter Mann und kenne die Menschen. Ich glaube, daß Sie die Wahrheit sprechen. Sagen Sie, wohin wollen Sie?"

"In die amerikanische Zone", antworte ich.

"Warum gerade in die amerikanische?" Der Rechtsanwalt hebt erstaunt die Augenbrauen.

"Herr Doktor, wenn ein Mensch aus politischen Erwägungen fortgeht, sucht er selbstverständlich bei den stärksten Feinden des Regimes Zuflucht, dem er entgehen will."

"Ja, aber hier ist der englische Sektor. Ich habe keine Verbindung zu Amerikanern."

Ich verstehe, daß das eine Ablehnung bedeutet, und mache den letzten Versuch: "Vielleicht können Sie mir einen Ihrer Kollegen empfehlen, der Verbindung zu den Amerikanern hat?"

"Oh, ja! Das kann ich", entgegnet der Rechtsanwalt und greift nach dem Telefonbuch. Er wühlt darin herum, erhebt sich dann schwerfällig und wendet sich mit den Worten zur Tür: "Entschuldigen Sie einen Augenblick. Ich schreibe Ihnen die Adresse auf."

Der Rechtsanwalt geht ins Vorzimmer hinaus. Ich höre, wie er mit der Sekretärin spricht. Wie er einige Worte mit anderen Klienten wechselt. Ein Telefon klingelt. Jemand kommt und geht.

Langsam verrinnen die Minuten. In dem ungeheizten Zimmer ist es kalt, mich fröstelt. Eine dumme Empfindung völliger Abhängigkeit von der Anständigkeit oder Schurkerei eines absolut unbekannten Menschen.

Ich setze mich tiefer in den Sessel. Schließe den Mantel fester und versenke die rechte Hand in der Manteltasche. Ich entsichere die Pistole und richte sie mit der Mündung gegen die Tür. Wenn eine sowjetische Kommandanturpatrouille in der Tür erscheint, werde ich das Feuer eröffnen, ohne die Hand aus der Tasche zu ziehen. Endlich kommt der Rechtsanwalt, fröstelnd die Schultern hochziehend, wieder ins Zimmer zurück und reicht mir einen schmalen Streifen Papier mit einer maschinengeschriebenen Adresse. Wieder blitzt der Gedanke auf: "Was ist das – Vorsichtigkeit oder einfach die Gewohnheit der Deutschen, sich immer der Schreibmaschine zu bedienen?"

Mit einem verhaltenen Seufzer der Erleichterung verlasse ich das Arbeitszimmer des Rechtsanwalts und gehe auf die Straße hinaus. In der grauen Dämmerung des Winterabends lärmen Straßenbahnen und Automobile. Eilig laufen die Menschen. Jeder eilt nach Hause, jeder hat etwas, wohin er geht. Und ich? Mich packt ein schmerzliches Gefühl der Einsamkeit. Ich ziehe den Hut ins Gesicht und tauche in den dunklen Schacht der U-Bahn.

Nach langer Fahrt und langem Umherirren durch die abendlichen Straßen Berlins finde ich mit Mühe die angegebene Adresse einer Villa am Rande der Stadt. Doktor von Scheer nimmt eine recht hohe Stellung ein und es ist nicht leicht für mich, bei ihm eine persönliche Audienz zu erwirken.

Als ich endlich mit ihm in seinem Schreibzimmer allein bin und ihm den Grund meines Besuches auseinandersetze, geht er sogleich zur Sache über. Er entnimmt seinem Schreibtisch die Fotoköpie einer Bescheinigung, wonach er in dienstlichen Angelegenheiten mit der sowjetischen Zentralkommandantur zu tun hat, und reicht sie mir. Ich erblicke bekannte Stempel und Unterschriften. Unwillkürlich ziehe ich ein so saures Gesicht, daß Doktor von Scheer sich eines Lächelns nicht erwehren kann.

"Was gibt mir die Sicherheit, daß Sie kein Agent dieser... eh-eh... sind?" fragt er. Er zwinkert mir zu und schlägt mir freundschaftlich aufs Knie.

Mir bleibt nichts übrig, als wieder mit den Schultern zu zucken. Das zweite Mal schon stoße ich auf die gleiche Frage.

Dr. von Scheer erweist sich als sachlicher Mensch. Nach einem kurzen Gespräch erklärt er sich bereit, die Angelegenheit mit amerikanischen Bekannten zu besprechen, und bittet mich, mir nach zwei Tagen die Antwort zu holen. Ich verabschiede mich und mache mich auf den Heimweg. Auf dem Wege nach Karlshorst bin ich nicht sicher, ob Dr. von Scheer in diesem Augenblick nicht in die sowjetische Kommandantur anruft und über meinen Besuch berichtet.

Zwei Tage vergehen. Zur angesetzten Frist betrete ich mit gemischten Gefühlen – einerseits Hoffnung auf Erfolg und gleichzeitig Erwartung möglichen Hinterhaltes – wieder das Arbeitszimmer des Doktors. Er erklärt mir kurz, daß die Besprechungen ergebnislos verlaufen seien. Die Amerikaner wollen sich in diese Sache nicht ein- mischen. Anscheinend aus dem gleichen Grund: "Was gibt uns die Sicherheit...?"

Ich danke dem Doktor für seine Bemühungen, taste mich die Treppe der Villa hinunter und gehe wieder in die Dunkelheit des nächtlichen Berlin hinaus. Wieder kehre ich nach Karlshorst zurück. Ich kann meinen Wagen mit der sowjetischen Nummer nicht benutzen und muß die Straßenbahn nehmen. So stehe ich auch diesmal wieder auf der Plattform der Straßenbahn, inmitten der geschäftigen, drängelnden, von der Arbeit heimkehrenden Menschen.

An einer der Haltestellen in der Nähe des Kontrollrats betritt ein sowjetischer Offizier die Plattform und stellt sich neben mich. Es ist ein älterer gutmütig aussehender Mann mit einer Aktentasche in der Hand. Offenbar hat er sich bei seiner Arbeit im Kontrollrat verspätet und die Dienstomnibusse versäumt. Beim Anblick der vertrauten Uniform verspüre ich eine gewisse Unruhe.

Plötzlich wendet sich der Offizier an mich und fragt mich irgend etwas auf deutsch. Ich antworte ihm ebenfalls deutsch. Gleichzeitig zieht sich mein Herz schmerzlich zusammen. Jetzt beginnt es schon! Ich traue niemandem mehr, ich wage nicht mehr einzugestehen, daß ich Russe bin.

Als ich von einer Straßenbahn in die andere umsteigen muß, streife ich in der Dunkelheit durch den nassen, schmutzigen Schnee. Nicht weit von mir entfernt unterscheide ich die Gestalt eines deutschen Polizisten. Ohne jeden bestimmten Gedanken gehe ich auf ihn zu und frage ihn, wo sich das amerikanische Konsulat befindet. Der Polizist errät offenbar, daß ich kein Deutscher bin, und beleuchtet mich vom Kopf bis zu den Füßen mit seiner Taschenlampe.

Im Deutschland der Nachkriegszeit sind Ausländer, die nicht die Uniform der Alliierten tragen oder den alliierten Paß führen, die verachtetsten und rechtlosesten Geschöpfe. Häufig habe ich in den Straßen Berlins diese ziellos lungernden Gestalten gesehen – an fremde Ufer verschlagene Überreste eines Schiffbruchs.

Der Polizist hält mich für einen dieser Ausländer, er blickt mich mißtrauisch an. Er ist gewohnt, daß diese Leute mit der Polizei nichts zu tun haben wollen. "Wir geben solche Auskünfte nicht", antwortete er endlich, leuchtet mir erneut mit seiner Lampe ins Gesicht, im Zweifel, ob er mich nicht nach meinen Ausweisen fragen soll.

Der Polizist entfernt sich. Ein saugendes Gefühl drückt mir die Brust zusammen. Das ist der Beginn des Weges, den zu gehen ich entschlossen bin. Dort, wohin ich gehe, werde ich weder eine Pistole noch einen allgewaltigen Ausweis haben, der heute meinen Platz im Leben bestimmt.

Als ich die Tür meiner Karlshorster Wohnung aufschließe, höre ich das aufdringliche und unaufhörliche Klingeln des Telefons. Das ist sicher einer meiner Kameraden. Ich nehme den Hörer nicht ab. Ich will niemand sehen. Ich muß allein sein, um das Bisherige zu überdenken und das Weitere zu überlegen.

Wieder wandere ich ruhelos von einer Ecke in die andere. Mein Versuch, mit den Alliierten in Verbindung zu treten, ist gescheitert. In Wirklichkeit ist alles nicht so einfach, wie es auf den ersten Blick aussieht. Das einzige Ergebnis – mir ist jetzt klar, daß ich auf eigene Gefahr handeln muß.

Als ich mich bemühte, die Verbindung zu den Alliierten aufzunehmen, war es mir nicht so sehr um die Ausführung der Flucht zu tun, als vielmehr darum, die prinzipielle Seite der Angelegenheit zu klären.

Ich weiß, daß zwischen dem amerikanischen Militärgouverneur MacNarney und dem sowjetischen Oberkommando ein Geheimabkommen besteht, wonach beide Seiten sich verpflichten, Deserteure auszuliefern. Die Engländer waren umsichtiger, sie haben sich auf solche Abkommen nicht eingelassen. Aber diese Umsicht ist nur eine schwache Garantie für einen Menschen, der mit den Gepflogenheiten der Geheimdienste vertraut ist. Obwohl ich demobilisiert bin und daher nicht als Deserteur betrachtet werden kann, steht es mir doch nicht auf der Stirn geschrieben, daß ich politischer Emigrant bin.

Die sowjetischen Militärbehörden unternehmen ihrerseits entsprechende Maßnahmen. Das Sowjetoberkommando beschuldigt einen jeden Flüchtling schwerer Kriminalverbrechen und fordert auf Grund der internationalen Praxis die Herausgabe des Kriminalverbrechers. Die enge Bekanntschaft mit Oberstleutnant Orlow (Oberstleutnant Orlow ist dadurch bekannt, daß er 1948 durch einen Federstrich das Urteil des Kriegstribunals gegen fünf Berliner Jugendliche aufhob. Diese Jugendlichen waren vom Militärtribunal zu je 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden, weil sie während einer politischen Kundgebung die Sowjetfahne vom Brandenburger Tor heruntergerissen hatten. Das Urteil und die anschließende Aufhebung sind charakteristisch für die sowjetische Justiz – zuerst ein abschreckendes Urteil zu fällen, um es dann aufzuheben und so alle Möglichkeiten für propagandistische Ziele auszunutzen), dem obersten Militär-Staatsanwalt der SMA, hat es mit sich gebracht, daß ich mich in diesen Fragen gut auskenne.

Diese Umstände machen es erklärlich, warum ich versuchte, zuerst Fühlung mit dem Westen aufzunehmen. Jeder Mensch wäre an meiner Stelle auf diesen Gedanken gekommen. Aber das ist die äußere Seite des Problems. Es gibt noch eine zweite, an die ich nicht gedacht habe. Ich gehe von einer Ecke in die andere, meine eigenen Handlungen der letzten Tage fangen an, mir als unverzeihliche Dummheit zu erscheinen. Ich darf das Gefühl für die Wirklichkeit nicht verlieren. Das kategorische Bewußtsein des Bruchs mit der Vergangenheit hat mich zu sehr beeinflußt. Ich habe mich von meinem bisherigen Leben losgesagt und bin wie eine blinde junge Katze in die neue Welt hineingetappt. Die schmerzliche Ablehnung der einen Hälfte der Welt erweckte in mir die falsche Vorstellung, daß die zweite Hälfte der Welt ohne Fehl ist. Ich muß den Tatsachen nüchtern ins Antlitz blicken.

Ich betrachte mich als Ingenieur und habe vergessen, daß ich Offizier des Sowjet-Generalstabes war, der den letzten Schliff der Kreml- Schule erhielt. Ich könnte doch heute mit dem gleichen Erfolg nach Moskau zurückkehren und einen Monat später ins Ausland fahren, abkommandiert in den Apparat eines Militärattaches – um einen ganzen Stab von Geheimagenten zu befehligen, um die zu kaufen und zu verkaufen, bei denen ich heute Zuflucht suche.

Ich, der ich niemandem und nichts vertraue, fordere Vertrauen für mich selbst. Wer soll mir glauben, wenn ich doch selbst nicht weiß, was in mir vorgeht. Ich fühle nur eines – in mir ist eine Feder gesprungen und der Mechanismus ist unbrauchbar. Habe ich denn das Recht, Vertrauen zu fordern? Ich —* ein verirrtes Menschenstück aus dem stalinistischen Völkerkollektiv?

Während ich durchs Zimmer sdireite, höre ich die Worte: "Eine unverzeihliche Dummheit, Genosse Klimow!" Ich zucke zusammen und merke, daß ich selbst diese Worte laut vor mich hin gesagt habe.

Ich wollte Verbindung zu den Alliierten auf nehmen. Gut, daß daraus nichts geworden ist! Ich muß besser als sonst jemand die allgemein- gültigen Gesetze des Krieges im Dunkeln kennen. Von der Gegenseite gut aufgenommen wird nur der, der sich Vertrauen erworben hat. Wie dieses Vertrauen zu erwerben ist, weiß ich genau. Ein Mensch ist solange von Interesse, als er Nutzen bringen kann. Wenn man ihn für dumm genug hält, nutzt man ihn für Propagandazwecke aus und wirft ihn anschließend auf den Misthaufen. Bei Gelegenheit tauscht man die Flüchtlinge gegen eigene hereingefallene Spione aus. All das geschieht leise und ohne Lärm. Und ich wollte diesen Weg gehen? "Sie haben meine Lehren schlecht beherzigt, Genosse Klimow!" höre ich die Stimme General Bijasis in meinem Ohr.

Ich weiß, daß der sowjetische Nachrichtendienst häufig seine Agenten als Flüchtlinge getarnt nach dem Westen schickt. Die Tarnung ist so gut, daß sie sich viele Jahre lang nicht verraten. Der Westen weiß das ebenfalls, Allerdings kenne ich auch die Anweisung, wonach in solchen Fällen in der Regel keine Menschen russischer Volkszugehörigkeit zu verwenden sind. Einerseits erregen Russen offenen Verdacht, andererseits verläßt sich die Sowjetmacht am allerwenigsten auf Sowjetmenschen. Aber diese Kleinigkeit ist dem Westen nicht bekannt. Upd unter diesen Umständen wollte ich, ein Offizier des sowjetischen.Generalstabes, sagen, daß ich – ich bin?

Der innere Bruch mit der Welt der Lüge hat in mir eine fast krankhafte Sucht nach Wahrheit hervorgerufen. Ich suchte Vertrauen. Wozu brauche ich ihr Vertrauen? Ich brauche nur eines – in Ruhe gelassen zu werden. Ich weiß nicht, was ich weiter tun werde. Ich habe mich nur von allem losgesagt. In meiner Seele ist eine große Leere. Ich muß eine Atempause haben, um einen neuen Lebensinhalt zu finden. In mir reift immer mehr und mehr ein Entschluß heran – ich muß verschwinden, ich muß mein Gesicht verlieren. So lange, bis ich ein neues Gesicht finde.

Ich habe einen Strich unter meine Vergangenheit gezogen. Ich habe dabei nicht an die Zukunft gedacht. Der erste Versuch, mit der anderen Welt in Verbindung zu kommen, zwingt mich, an die Zukunft zu denken. Ich versuche alle vor mir liegenden Möglichkeiten in ein System zu bringen.

Ich bin jetzt von meinem Diensteid befreit und damit frei, zu gehen wohin ich will. Ich will mich von meinem sowjetischen Paß lossagen und ein politischer Emigrant werden. Niemals würde ich einem meiner Kameraden raten, einen solchen Schritt zu tun.

Wenn du politischer Emigrant sein willst, mußt du dich von deinem sowjetischen Paß lossagen, nicht aber von deinem Lande. Das bedeutet, daß du auf den rechtlichen Schutz eines mächtigen Staates verzichtest. Nackt und waffenlos stehst du in der unvollkommenen Welt, in der nur der etwas gilt, der stark ist – ob es nun eine Waffe in deiner Hand, Geld in deiner Tasche oder Panzerdivisionen hinter deinem Rüdcen sind. Heute hat der Kreml die ganze Welt gegen sich aufgebracht. Die Menschen der Umwelt werden, ihre Angst und ihr Mißtrauen verbergend, mit heuchlerischem Lächeln die Hand jener drücken, die den sowjetischen Paß besitzen, während sie ihre machtlosen Gefühle an dir auslassen werden, weil du diesen Paß nicht mehr hast. Das ist das eine Gesicht der Emigration.

Das Leben in der Fremde ist nicht leicht. Ich habe Beispiele gesehen. Ich traf in Berlin häufig Menschen, die Mitgefühl verdienten. Sie sprachen russisch, hatten aber Angst, mit mir zu sprechen. Manchmal bewachten sie meinen Wagen vor dem Theater und waren dankbar, wenn ich ihnen ein Päckchen Zigaretten dafür gab. Das ist das zweite Gesicht der Emigration.

Es gibt natürlich einen anderen Ausweg – einen einfachen und leichten. Dazu muß man sich von seinem Lande, von seinem Volk, von sich selbst lossagen – man muß mit der neuen Umgebung verwachsen, muß ihren Inhalt, ihre Interessen zu den eigenen machen. Ich beschuldige solche Menschen nicht, aber sie erwecken in mir keine Sympathie.

Solcherart sind für mich die Aspekte und Möglichkeiten der neuen Welt. Solcherart ist der Preis der Freiheit!

Bis weit nach Mitternacht wandere ich durchs Zimmer. Totenstille herrscht im Haus. Karlshorst schläft. Ringsum ist das unermeßliche Meer einer fremden Welt. Ich spüre seinen kalten, gleichgültigen Atem.

4.

Weitere Tage verstreichen. Diese ganze Zeit über lebe ich ein doppeltes Leben. Den ersten Teil des Tages verbringe ich in Karlshorst – ich übergebe die Dienstgeschäfte, bringe meine Papiere für die Rückreise nach Moskau in Ordnung, nehme die Gratulationen und guten Wünsche meiner Bekannten entgegen. Ich muß mir den Anschein eines Menschen geben, der sich auf die bevorstehende Heimkehr freut. Ich tausche Adressen aus mit dem Versprechen, von Moskau aus zu schreiben. Die zweite Hälfte des Tages streiche ich durch das winterliche Berlin – besuche meine deutschen Bekannten und versuche, vorsichtig den Boden zu sondieren. Ich muß die Wege kennen, auf denen die Menschen nach Westen gehen.

Tag um Tag verstreicht ergebnislos. Die übliche Frist für die Vorbereitung der Heimreise beträgt drei Tage. Ich habe schon zwei Wochen verbraucht.

Je mehr Zeit verstreicht, um so schwerer wird es mir, das doppelte Spiel zu treiben. Mit jedem Tag wird meine Anwesenheit in Karlshorst gefährlicher. Ich muß mit der Möglichkeit eines Mißlingens rechnen und Vorsichtsmaßnahmen treffen. Die Sowjetoffiziere in Deutschland sammelten häufig Waffen als Trophäen. So habe auch ich eine ganze Sammlung von Waffen im Hause. Jetzt erinnere ich mich ihrer.

Ich nehme eine deutsche Maschinenpistole aus dem Schrank. Nachdem ich sie geladen habe, hänge ich sie an den Garderobenständer im Flur und decke einen Mantel darüber. Dann lege ich ein paar Reservemagazine und einen Kasten mit Patronen darunter. Für den Fall, daß man versuchen sollte, mich in meiner Wohnung zu verhaften. Dann lade ich mein großkalibriges Parabellum, das ich noch aus meiner Frontzeit habe.

Am nächsten Tag fahre ich in die Umgebung von Berlin. Bringe das Auto in ein dichtes Waldstück und beginne methodisch, wie auf dem Schießplatz, die Waffen auszuprobieren. Die kurzen Salven der Maschinenpistolen zerreißen die frostige Stille des Winterabends. Die schweren Kugeln des Parabellums zerfetzen den festen Stamm der jungen Kiefern. Versager darf es nicht geben! Alles andere, nur nicht hilflos sein. Ich überlege nicht viel, ich fürchte nur das eine – einen Versager.

So vergehen die Tage. An einem dieser Tage, nach dem üblichen fruchtlosen Umherirren durch Berlin, kehre ich müde und niedergedrückt spät abends nach Hause zurück. Völlige Apathie hat mich erfaßt. Mir wird wohl nichts anderes übrigbleiben, als mich blind nach Westen durchzuschlagen in der Hoffnung, im Strom der deutschen Flüchtlinge unterzutauchen.

Ich setze mich an den Schreibtisch. Ich will weder essen noch trinken. Dafür verlangt es mich schmerzhaft nach irgend einem lebenden Wesen, mit dem ich meine Gedanken teilen könnte. Ich verspüre eine grenzenlose Müdigkeit und Ausgehöhltheit. Ein Mensch, der sein Gesicht verlor. Ein Mensch, der allein blieb.

Ich erinnere mich, daß ich nach der Fahrt in den Wald die Waffen nicht gereinigt habe. Um den quälenden Gedanken zu entgehen, mache ich mich an das Putzen der Pistole. Das gibt mir vorübergehende Beruhigung.

Durch das Fenster blickt die schwarze Nacht. Im Zimmer lastet Halbdunkel. Nur auf dem Schreibtisch brennt die helle Lampe unter dem Schirm. In dem gelben Fleck des Lichtes blinkt kalt der eingeölte Leib der Pistole. Ich blicke gedankenlos auf das leblose Stück Metall, ohne meine Augen davon wenden zu können. Der blinkende Glanz zieht mich an, er ruft und lockt.

Ich versuche, an die Vergangenheit zu denken. Noch einmal ziehen die Jahre des Krieges, der Rote Platz, der Kreml an mir vorüber. Noch einmal erschallt in meinem Ohr der trunkene Schrei aufgepeitschter Gefühle. "Unter den Ersten der Ersten, unter den Besten der Besten..." klingt es von ferne.

"Morgen wirst Du der Letzte unter den Letzten sein, ein Besiegter unter den Besiegten", klingt es ganz nah. Ich versuche, an die Zukunft zu denken. Vor mir öffnet sich graue Leere, in der ich nichts sehe. Dort werde ich mich von allem lossagen müssen, was mein bisheriges Leben ausmachte. Ich werde mein Gesicht verlieren und im Nichts verschwinden.

Im Nichts verschwinden... Vielleicht kann man das einfacher machen? Ich blicke auf den fettglänzenden Leib der Pistole, strecke meine Hand nach ihr aus und spiele automatisch mit der Sicherung. Ein weißer Punkt – ein roter Punkt. Jetzt auf den Abzug drücken. So einfach...

Mich zermürbt die Leere dieser Tage. Immer habe ich der Pflicht gedient, wenn ich auch an ihr zweifelte. Ich betrachtete die Pflicht als das Ergebnis des Glaubens an die Unfehlbarkeit des Grundprinzips – und ich suchte hartnäckig nach diesem rationellen Kern. Heute bin ich von der Falschheit des Grundprinzips überzeugt. Heute habe ich den Glauben verloren. Was weiter?

Noch einmal gehen meine Gedanken zurück; ich denke daran, mit welcher Ungeduld ich auf das Ende des Krieges wartete, wie leidenschaftlich ich von einem friedlichen Leben träumte. Und jetzt, wo ich zu diesem friedlichen Leben zurückkehren kann, wo meine blauen Träume sich erfüllen sollen – jetzt werfe ich alles hinter mich und gehe in die entgegengesetzte Richtung. Warum? Ich fühle unbewußt, daß die Ursache in der drohenden Gefahr eines neuen Krieges liegt. Ich fühle, daß, wenn es diesen Umstand nicht gäbe, ich trotz allem in die Heimat zurückkehren und fortfahren würde, mit ihr Freud und Leid zu teilen. Die Möglichkeit eines neuen Krieges erweckt in mir tiefe und gegensätzliche Gefühle. Welcher Zusammenhang besteht hier?

"Es gibt Gefühle, die so tief im Herzen vergraben sind, daß man sich nicht traut, sie auszusprechen. Das Schicksal Deutschlands hatte ich vor Augen. Jetzt bin ich überzeugt, daß meine Heimat ein ähnliches Schicksal erwartet. Ich kenne die Verbrecher, die meine Heimat ins Verderben führen, und ich will nicht teil haben an ihrem Verbrechen. Ich gehe heute fort, um morgen gegen sie zu kämpfen. Ich will mir diese Gedanken nicht eingestehen, denn sie scheinen mir Verrat. – Wenn sich zwei negative Größen überdecken, ergibt sich ein Positives. Der Verrat des Verräters – das ist Treue gegenüber dem Grundprinzip. Die Ermordung eines Mörders ist eine gute Tat."

Am verlöschenden Rest stecke ich mir eine neue Zigarette an und lehne mich im Sessel zurück. Im Munde verspüre ich einen unangenehm bitteren Geschmack. Kalte Stille kriecht durch den Raum.

In dieser Stille schwingen monoton einfach die Worte durch das Zimmer: "Es ist nicht genug, Freiheit und Vaterland zu lieben – man muß dafür kämpfen. Du siehst keine andere Möglichkeit des Kampfes, als hinüberzugehen ins andere Lager und von dort aus zu kämpfen. Das ist Dein Weg zum Vaterland!"

5.

Am siebzehnten Tag erhielt ich den Grenz-Propusk. Er war mit dem endgültigen Reisedatum versehen. Im Laufe der nächsten drei Tage mußte ich die Grenze der Sowjetunion in Brest-Litowsk passieren. Auf jeden Fall konnte ich nun nicht länger mehr als drei Tage in Karlshorst bleiben.

Uber Berlin senkt sieb die Abenddämmerung, als ich nach dem üblichen ergebnislosen Umherirren einen deutschen Bekannten auf- zusudien beschloß, den Direktor einer der Fabriken, in der ich oft dienstlich zu tun hatte. Während der geschäftlichen Verhandlungen habe ich mit dem Direktor häufig recht offenherzige politische Gespräche geführt. So kamen wir auch an diesem Abend bald auf die Zukunft Deutschlands zu sprechen. Ich gab meiner Meinung Ausdruck, daß die Deutschen zu zuversichtlich seien in bezug auf ihre Zukunft.

"Sie unterschätzen die innere Gefahr", sage ich. "Sie warten blind auf das Ende der Besetzung. Wenn die sowjetischen Truppen aus Deutschland auch zurückgezogen werden, wird das an der Lage wenig ändern. Deutschland wird zuvor an Händen und Füßen gefesselt werden, es wird vollständig und für lange Zeit verkauft sein." "Von wem?" fragt der Direktor.

"Dafür gibt es eine SED und eine Volkspolizei."

Ich weiß, daß der Direktor seit kurzem Mitglied der SED ist und daß meine Worte ihm nicht sehr angenehm sein können. Er sieht mich von der Seite an, schweigt eine Weile und sagt dann zurückhaltend: "Viele Mitglieder der SED und der Volkspolizei denken im tiefsten Herzen anders als den Besatzungsbehörden lieb ist."

"Um so schlimmer, wenn sie das eine denken und das andere tun." "Vorerst haben wir keinen anderen Ausweg, Herr Oberingenieur. Wenn aber der entscheidende Moment kommt, glauben Sie mir, die SED und die Volkspolizei werden nicht das tun, was Moskau erhofft."

"Viel Erfolg", lächele ich.

Nach kurzem Schweigen fragt der Direktor, um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben: "Nun, wie geht es Ihnen sonst?"

Müde und durchgefroren kann ich nur hoffnungslos mit der Hand abwinken und seufzen: "Ich fahre nach Moskau zurück..."

Der Direktor scheint die Enttäuschung aus meiner Stimme herausgehört zu haben; er blickt mich verwundert an: "Sind Sie denn nicht froh, nach Hause zurückzukehren? Ich an Ihrer Stelle..."

"Ich bin bereit, mit Ihnen die Stelle zu wechseln", sage ich.

Der Direktor wirft mir wieder einen Blick zu und legt meine Worte auf seine Art aus. "Also gefällt Deutschland Ihnen mehr als Rußland?" fragt er.

"Es könnte mir gefallen, wenn ich nicht sowjetischer Offizier wäre", entgegne ich ausweichend.

"Die Sieger beneiden die Besiegten", der Direktor wiegt nachdenklich den Kopf.

Er erhebt sich und beginnt gedankenvoll durchs Zimmer zu wandern. Dann bleibt er plötzlich mir gegenüber stehen und sagt: "Warum bleiben Sie denn nicht hier?"

"Wo – hier?" frage ich gleichmütig.

"Fahren Sie doch in die andere Zone!" ruft der Direktor aus. Er fährt mit den Händen durch die Luft, überrascht, daß ich nicht von selbst auf einen solch einfachen Gedanken komme.

"Ist denn das so einfach?" frage ich, innerlich aufhorchend, aber äußerlich gleichgültig tuend.

Der Direktor schweigt lange. Dann, anscheinend schlüssig geworden, wendet er sich mit leicht gesenkter Stimme an mich: "Herr Oberingenieur, wenn Sie in Deutschland bleiben wollen, gibt es nichts Einfacheres, als über die grüne Grenze zu kommen." Mit einer Handbewegung deutet er an, wie leicht dieser Übergang über die Grenze ist.

Ich horche noch aufmerksamer auf und frage: "Ja, aber wie werden sich die Amerikaner dazu stellen?"

Der Direktor macht eine geringschätzige Bewegung.

Ich muß unwillkürlich lächeln. Mir scheint, daß der Direktor, Mitglied der SED, mit allen Mitteln versuchen will, die Sowjetarmee um eine Kampfkraft schwächer zu machen. Gleichzeitig kenne ich den Direktor gut genug, um zu wissen, daß ich von seiner Seite keine Provokation zu befürchten habe. Ich sitze stumm. Wenn er mich so gerne verführen will, soll er mehr erzählen.

"Ich habe viele Bekannte in Thüringen", fährt der Direktor fort. "Wenn Sie wünschen, kann ich Ihnen Empfehlungsbriefe an zuverlässige Menschen mitgeben. Sie werden Ihnen helfen, die andere Seite zu erreichen."

"Und wie ist es mit den Papieren?" frage ich.

Der Direktor zuckt mit den Schultern: "Heute lebt in Deutschland jeder dritte Mensch mit falschen Papieren."

"Wo kann ich solche Papiere bekommen?"

"Ich kenne einen Mann, er wird Ihnen gerne behilflich sein, entsprechende Papiere zu bekommen." Bei diesen Worten lächelt der Direktor leicht und fügt hinzu: "Nebenbei – dieser Mann ist Offizier der Volkspolizei."

Ich entschließe mich endlich meine Karten aufzudecken. Ich ändere den Ton, meine Worte klingen schwer, beinahe hart. "Herr Direktor", sage ich. "Verzeihen Sie meine Zurückhaltung. Die Angelegenheit, von der wir sprechen, ist längst entschieden. Wenn ich Sie nicht getroffen hätte, wäre mir nichts anderes übrig geblieben, als auf eigene Faust nach Westen zu gehen."

Der Direktor schweigt eine Weile, dann sagt er: "Früher schon, wenn ich geschäftlich mit Ihnen zu tun hatte, habe ich gemerkt, daß Sie anders sind als die anderen. Die wollen nur eines – dawaj, dawaj!" (Bedeutet etwa: her damit, gib her). Diese Worte sagt er russisch.

In Erinnerung an unsere vorhergegangenen geschäftlichen Begegnungen, die mit Fragen der Demontage und Reparationen zusammenhingen, kann ich nicht ganz an die Aufrichtigkeit seiner Worte glauben.

Wir überlegen alle Einzelheiten. Für den Fall, daß ich mich länger in Berlin aufhalten muß oder unterwegs kontrolliert werde, verspricht der Direktor mir deutsche Papiere zu beschaffen. Nachdem wir uns für den nächsten Tag verabredet haben, verlasse ich das Haus des Direktors und trete auf die Straße hinaus. Es ist noch genau so kalt und so durchdringend feucht, wie vor zwei Stunden. Aber jetzt spüre ich die Kälte nicht, mir scheint die Luft voll belebender Frische.

Am folgenden Tage treffe ich mich mit dem Direktor. Mit echt deutscher Zuverlässigkeit legt er mir eine deutsche Kennkarte auf den Tisch. Am Fenster steht ein junger blonder Deutscher mit soldatischer Haltung. Der Direktor macht uns bekannt. Zwei Männer in Zivil drücken einander die Hand und schlagen gewohnheitsmäßig die Hacken zusammen.

Wir füllen die Kennkarte aus. Auf meinem Gesicht erscheint wider Willen ein bitteres Lächeln, als ich meinen neuen Namen sehe. So hieß einmal mein deutscher Schäferhund. Zum ersten Male nehme ich einen Fingerabdruck ab. Auf mein Paßbild drückt sich der Stempel der deutschen Volkspolizei. Mir kommt es vor, als sehe mich der Deutsche, nachdem er den Stempel aufgedrückt hat, schon anders an. Die Liebenswürdigkeit des Offiziers der deutschen Volkspolizei geht so weit, daß er sich bereit erklärt, mich bis zur Grenze zu begleiten. Er hat schon für ein paar Tage Urlaub genommen. Er will gleichzeitig einige Verwandte in Thüringen besuchen.

Ich beschließe, für alle Fälle eine meiner alten Dienstreisebescheinigungen für Thüringen mitzunehmen, auf denen vermerkt ist, daß ich im Sonderauftrag Marschall Sokolowskijs reise. Außerdem habe ich meine Offiziersausweise. Wenn unterwegs eine deutsche Polizeistreife kontrollieren wird, wird sie sowjetische Papiere zu sehen bekommen – sie wirken auf die Polizisten, wie die Schlange auf das Kaninchen. Wenn eine sowjetische Patrouille kommt – wird im Wagen ein Mensch sitzen, der sein Gesicht verloren hat.

Wir verabreden, daß morgen um ein Uhr mittags der Polizeioffizier im Wagen nach Karlshorst kommen und mich telefonisch anrufen wird.

Als ich mich von dem Direktor verabschiede, fragte er mich: "Warum haben Sie, ein Sowjetoffizier, eigentlich beschlossen, die Sowjetunion zu verlassen?"

"Aus dem gleichen Grunde, aus dem Sie, ein Mitglied der SED, beschlossen haben, diesem Sowjetoffizier zu helfen", erwidere ich und diücke ihm fest die Hand.

In der Frühe des folgenden Tages springe ich schon in der ersten Morgendämmerung auf die Beine. Ich verspüre eine ungewöhnliche Energie und Kraft. Heute muß ich unter allen Umständen Karlshorst verlassen. Zwanzig Tage sind verstrichen, seit ich den verhängnisvollen Befehl erhielt. Das Datum des Grenzpropusk lautet auf den heutigen Tag. An diesem Tag muß ich in Brest-Litowsk sein. Wenn man mich heute in Karlshorst vorfindet, wird es schwierig sein, die Gründe meines Hierseins zu erklären. Jede unnötige Minute in Karlshorst vergrößert die drohende Gefahr.

Für heute habe ich eine Fahrkarte für den Moskauer Zug bestellt. Bevor ich Berlin verlasse, werde ich am Schlesischen Bahnhof haltmachen und vom Bahnhofs-Militärkommandanten meine Abreise registrieren lassen. Jetzt muß ich dafür sorgen, daß meine Wohnung in einem Zustand zurückbleibt, als ob ich nach Moskau zurückkehren würde.

Ich mache den Ofen an und vernichte den Inhalt meines Schreibtisches. Mich beherrscht ein unerklärliches Gefühl innerer Befreiung. Packenweise fliegen die Papiere und Ausweise mit den Stempeln der SMA in den Ofen. Fotos schmelzen in der Glut – auf dem Hintergrund des zerstörten Reichstages, inmitten der Marmorstatuen der Siegesallee im Tiergarten, mit Marschall Shukow und General Eisen- hower auf dem Flugplatz Tempelhof. Zu schwarzer Asche zerfallen die Briefe teurer und lieber Menschen. In Rauch verfliegen die letzten seelischen Verbindungen mit dem Vergangenen. Vernichtungswut erfaßt mich. Das Gefühl, mich von dem ganzen bisherigen Leben losgesagt zu haben, und die absolute Leere der Zukunft lassen in mir nur einen einzigen schmerzlichen Wunsch lebendig – mit meinen eigenen Händen alles zu vernichten. Mir kommt es nicht in den Kopf, daß diese Dokumente und Papiere mir einmal nützlich sein könnten, daß es besser wäre, sie irgendwo aufbewahren zu lassen. Mir ist es völlig gleichgültig, was mit mir in der Zukunft geschehen wird. Von heute an bin ich ein Mensch, der sein Gesicht verlor – ohne Vergangenheit, ohne Namen, ohne Vaterland.

"So – die Bestattung des Wikingers ist beendet", sage ich zu mir selbst, als ich die letzten Papiere in den Ofen werfe.

Ich setze mich an den Schreibtisch und schreibe die letzten Briefe, die ich in den Briefkasten in Karlshorst werfen werde. Nie im Leben mehr werde ich wohl die Möglichkeit haben, diesen Menschen zu schreiben. Die Briefe enthalten nur eine einzige kurze Zeile – "Heute reise ich nach Moskau ab", einen letzten Gruß und die Unterschrift. Meine Unterschrift auf persönlichen Briefen läßt immer die Stimmung erkennen, in der ich den Brief schrieb. Heute ist sie klar, schwer und hart, wie ein Urteil. Sie werden an der Unterschrift alles erkennen.

Ich habe alle Möglichkeiten eines Mißlingens überlegt und alles, was ich in jedem einzelnen Fall zu tun haben werde. Waffen und Munition habe ich in genügender Menge. Das einzige, was ich genau weiß – lebendig kriegen sie mich nicht.

An diesem Morgen rasierte und kleidete ich mich mit besonderer Sorgfalt an. Ich parfümierte sogar mein Taschentuch. Heute verstehe ich die Sitte der Seeleute, saubere Wäsche und die beste Uniform anzuziehen, wenn sie zum letzten Kampfe schreiten. Ich denke an die Frontzeit zurück – damals war ich ein grober und abgehärteter Soldat, der keine Nerven kannte. Heute fühle ich in meinem Innern zum ersten Male im Leben etwas, das man Seele nennt.

Die langen Tage inneren Kampfes, quälender Suche nach einem Ausweg, des Bewußtseins ständig drohender Gefahr sind nicht spurlos vorübergegangen. Heute spüre ich, daß meine Nerven bis zum Zerreißen gespannt sind, daß diese Spannung die Höchstgrenze erreicht hat. Ich weiß, daß zu einem bestimmten Zeitpunkt die Entladung und Reaktion eintreten wird. Wenn es nur bis zur Grenze reicht – dann hinlegen und die Augen schließen können. Dort wird mir alles gleichgültig sein. So oder so – dort werde ich nur ein lebender Leichnam sein.

Ich blicke auf die Uhr und meiner bemächtigt sich ein beunruhigender Gedanke – wie, wenn mein Begleiter es sich anders überlegt oder Angst haben wird, in den Berliner Kreml zu fahren. Dann bleibt mir nichts übrig als aus dem Haus hinauszugehen und, die Hände in die Taschen gesteckt, der Karte nach den Weg nach Westen zu suchen. So oder so – heute muß sich alles entscheiden. Dieses Bewußtsein beruhigt mich.

Mit übergehängtem Mantel wandere ich wieder von einer Ecke in die andere. Im Zimmer ist es leer und kalt. Der Schall meiner Schritte klingt ungewohnt laut auf dem nackten Fußboden. Eine Uhr schlägt zwölf. Noch eine Stunde. Ich denke an nichts mehr. Ich warte nur auf das Klingeln des Telefons.

Plötzlich zerreißt das scharfe Läuten der Flurglocke die angespannte Stille. Ich bleibe stehen und horche. Seit Tagen schon beantworte ich keinen Telefonanruf und öffne nicht die Tür. Wieder das Klingeln – anhaltend und fordernd. Es weiß also jemand, daß ich zu Hause bin.

Idi versenke die rechte Hand in die Tasche des Mantels und horche wieder. Jetzt läutet es noch schärfer, noch fordernder. Mit gewollt langsamen Schritten, ohne die Hand aus der Tasche zu nehmen, gehe ich in den Flur. Mit der linken Hand öffne ich die Tür – und meine Rechte umfaßt fester den Griff der Pistole.

Im grauen Halblicht des Wintertages steht ein Mann in der Uniform des MWD vor mir. Ich schaue mit blicklosen Augen auf ihn und spüre, wie die Pistolenmündung das Futter der Manteltasche hochzieht. Der Mann steht stumm und bewegungslos da. Ich bezwinge mich und blicke ihm ins Gesicht. Langsam dringt die Erkenntnis in mein Bewußtsein, daß Andrej Kowtun vor mir steht. Er kommt nicht, wie gewöhnlich, einfach herein, sondern steht regungslos und wie entschlußlos da. Mehrere Augenblicke vergehen.

"Darf ich herein?" sagt Andrej endlich.

Ich schweige. Woher weiß er, daß ich noch hier bin? Wozu ist er gekommen? Ich will nicht, daß irgend jemand jetzt meine Wohnung sieht. Es gibt viele Kleinigkeiten, die nicht so sind, wie bei einem Menschen, der nach Moskau zurückkehrt. Ich blicke Andrej noch einmal an. Seine ganze Gestalt drückt eine ungewöhnliche, schweigsame Bitte aus.

"Komm herein!" sage ich kurz.

Ich stelle mich so, daß ihm nur der Eingang ins Arbeitszimmer offen bleibt. Er geht vor und bemüht sich, nicht umherzusehen. Sein Gang ist schwankend und unsicher. Ich werfe einen Blick auf die Treppe, schließe die Tür, drehe den Schlüssel im Schloß und lege ihn in die Tasche. Die schwere Pistole schlägt mir gegen den Schenkel. Ich nehme sie heraus und stecke sie in die Seitentasche des Mantels. Andrej läßt sich schwer in seinen üblichen Sessel fallen. Ich weiß nicht, worüber ich mit ihm reden soll und schließe, nur um irgend etwas zu tun, den elektrischen Kamin an. Dabei werfe ich einen Blick, durchs Fenster und überzeuge mich davon, daß Andrejs Wagen leer ist.

"Du fährst also?" fragt Andrej mit fremder Stimme.

"Ja."

"Wann?"

"Heute."

"Du wolltest Dich also nicht von mir verabschieden?"

Eine peinliche Pause entsteht. Andrej erwartet keine Antwort. Er lehnt seinen Kopf gegen die Sessellehne, blickt gegen die Decke und schließt dann die Augen. Er sitzt in Mantel und Mütze, sogar die Handschuhe hat er noch an. Jetzt erst fällt es mir ein, daß wir uns nicht die Hand gedrückt haben.

Ich werfe einen Blick auf die Uhr, aufs Telefon, dann wieder auf Andrej. Seit unserer Fahrt nach Moskau habe ich ihn sehr selten gesehen. Mir schien, daß er selbst mir aus dem Wege geht. Jetzt fällt mir auf, wie sehr Andrej sich verändert hat in dieser Zeit. Sein Gesicht ist hager, gealtert, über den Backenknochen spannt sich glänzende Haut. Das Gesicht ist in einem Ausdruck erstarrt, wie ihn unheilbar Kranke haben. Seine ganze Erscheinung trägt den Stempel hoffnungsloser Müdigkeit.

Die Minuten verrinnen. Andrej sitzt regungslos mit geschlossenen Augen. Ich sehe durchs Fenster auf die Straße hinaus und klopfe mit dem Absatz auf den Boden.

"Störe ich Dich?" fragt Andrej still. Zum ersten Male höre ich in seiner Stimme Unsicherheit, beinahe Ratlosigkeit.

Mich packt ein Gefühl des Mitleids. Ich sehe, daß von Andrej nur noch die äußere Schale übrig geblieben ist. Gleichzeitig aber traue ich ihm nicht. Mir läßt die MWD-Uniform keine Ruhe. Ich taste nach dem Schlüssel in meiner Tasche und sehe wieder schnell auf die Straße hinaus. Wenn man in diesem Augenblick kommt, mich zu holen, wird meine erste Kugel Andrej treffen.

In diesem Augenblick ertönt erneut die Flurglocke. Ein kurzes, unentschlossenes Läuten. So unentschlossen kann nur ein Fremder klingeln. Ich gehe hinaus und öffne die Tür. Vor mir auf der Schwelle stehen zwei kleine, stumme Figuren. Ich sehe bleiche Kindergesichter und blaugefrorene Händchen. Es sind Flüchtlingskinder.

"Chlepa", ungewohnt und fremd klingt das russische Wort aus dem Mund der deutschen Kinder. "Chlepa..." wiederholt noch leiser die zweite kleine Gestalt. In den Augen der Kinder liegt weder Bitten noch Erwarten – nur kindliche Hilflosigkeit. Ein Krampf schnürt mir die Kehle zu. Die kläglichen kleinen Gestalten sind wie eine Vision dessen, was mich erwartet.

Ich gebe den Kindern stumm ein Zeichen einzutreten, finde in der Küche meinen alten Tornister und stopfe ihn voll mit dem, was sich noch im Hause befindet. Die Kinder padcen ihn am Tragriemen und schleppen ihn mit Mühe zur Tür. Ich führe sie hinaus.

Als ich die Tür schließe, höre ich hinter meinem Rücken undeutliches Murmeln: "Das ist kein Zufall... Das ist ein Zeichen..." Ich sehe Andrej erstaunt an. Er senkt den Kopf und flüstert, meinem Blick ausweichend: "Gott hat sie geschickt."

Die Kinder sind gegangen. Andrej läßt sich wieder in seinen Sessel nieder. Die Zeiger der Uhr stehen auf halb eins.

Mir fällt ein, daß ich heute noch nichts gegessen habe. Ich muß Kraft haben für den Weg. Ich streiche einige Butterbrote, überwinde die Übelkeit und zwinge mich zum Essen. Den zweiten Teller stelle ich vor Andrej.

Als ich mich über den Tisch beuge, bemerke ich, daß Andrejs Augen mit einem merkwürdigen Ausdruck auf mich gerichtet sind. Auf einen bestimmten Punkt gerichtet. Ich folge seinem Blick. Mein Mantel hat sich geöffnet, aus der Innentasche ragt der Griff des Parabellums. Ich spüre meinen Mund trocken werden.

Die sowjetischen Offiziere müssen bei ihrer Rückkehr in die Sowjetunion alle vorhandenen Waffen abliefern. Der Versuch, Waffen über die Grenze zu bringen, wird mit strengsten Strafen geahndet. Daher fährt niemand mit einer Pistole in der Tasche nach Hause. Der Major der Staatlichen Sicherheit muß das besser wissen, als irgend jemand sonst.

Mit unauffälliger Bewegung schlage ich den Mantel zusammen und sehe Andrej von der Seite an. In seinen Augen ist kein Staunen, sein Gesicht ist ganz ruhig. Bedrückende Stille und Kälte kriechen durch das Zimmer. Die Uhrzeiger rücken immer näher an die festgesetzte Frist heran.

"Wir werden uns wahrscheinlich nicht mehr sehen", unterbricht Andrejs Stimme die Stille. Seine Worte klingen nicht wie eine Frage, sondern wie eine Antwort auf eigene Gedanken.

"...und Du wolltest Dich von mir nicht verabschieden", sagt er und aus seiner Stimme klingt Trauer.

Ich bleibe stumm, als hätte ich seine Worte nicht gehört.

"Mein Leben lang habe ich Dir nicht getraut", langsam und leise klingen die Worte meines alten Jugendfreundes. "Als ich anfing, Dir zu glauben, – glaubtest und vertrautest Du mir nicht..."

Seine Worte schneiden mir ins Herz. Aber ich kann nicht antworten. Ich weiß nur eines – gleich wird das Telefon läuten, und wenn sich jemand mir in den Weg stellt, werde ich schießen. Ist es Andrej, werde ich ihn töten.

Sekundenlang durchzuckt der Gedanke mein Gehirn – woher weiß Andrej, daß ich hier bin, daß ich heute fahre? In diesen langen Tagen hat es viele Möglichkeiten gegeben... Vielleicht hat er es dienstlich erfahren? Vielleicht hat er den Haftbefehl in seiner Tasche? Ich zwinge mich, diese Gedanken zu vertreiben, stehe auf und marschiere durchs Zimmer.

Wie eine Antwort auf meine Gedanken ertönt die Stimme des Majors der Staatlichen Sicherheit: "Sei nicht böse, daß ich heute zu Dir kam..."

Wie Wassertropfen tickt die Uhr.

Und leise, kaum hörbar, klingen die Worte Andrejs: "Wenn ich nicht gekommen wäre, wären andere zu Dir gekommen..."

Ich wandere durch den Raum, werfe von Zeit zu Zeit einen Blick auf die Uhr.

"Vielleicht brauchst Du meinen Wagen?" fragt Andrej.

"Nein, danke..."

"Du gehst also fort, und ich bleibe", klingt wieder die Stimme des Majors der Staatlichen Sicherheit. "Ich kann mehr Nutzen bringen, wenn ich auf meinem Posten bleibe... Wenn Du einmal an mich denken wirst, Grischa, dann denk daran... Ich tue, was ich kann." Wieder lastet schwere Stille im kalten Raum. Durch das Fenster blickt ein trüber Wintertag. Klar hört man das Ticken der Uhr.

"Willst Du mir nicht etwas zum Andenken geben?" unterbricht Andrejs Stimme das Schweigen. Sie klingt sonderbar unsicher, fast kläglich.

Ich sehe mich in dem leeren Zimmer um. Mein Blick bleibt auf dem schwarzen Affen haften, der auf dem Schreibtisch kauert. Ich sehe ihn aufmerksam an, als erwarte ich, daß er sich bewegt.

"Nimm das hier!" weise ich auf die Bronzefigur.

"Über der Welt sitzt ein schwarzer Affe", murmelt Andrej, "so strebst du nach dem Guten, Reinen... und dann siehst du, daß alles Schmutz ist."

Wie ein Pistolenschuß erklingt das Telefon. Gemacht langsam nehme ich den Hörer ab. Von weither höre ich die deutschen Worte: "Der Wagen ist da!"

"Jawohl!" antworte ich ebenfalls deutsch.

"Nun... Ich muß fahren!" sage ich zu Andrej.

Schwerfällig erhebt er sich aus dem Sessel, geht mit hölzernen Schritten zur Tür. Ich folge ihm. Mit Anstrengung, als wäre er todmüde, bringt Andrej seinen Mantel in Ordnung. Der Kragen des Offiziersmantels ist an dem goldenen Schulterstück seines Rockes hängengeblieben. Andrej sieht auf das goldene Schulterstück, dann reißt er mit einer solchen Gewalt an dem Mantel, daß das Schulterstück krachend bricht.

"Die Flügel... des Sklaven!" langsam und schwer fallen Andrejs Worte in die Stille. Er bringt sie mit einer so unsäglichen Bitterkeit vor, daß ich unwillkürlich zusammenschauere.

"Ich wünsche Dir Glück auf Deinem Weg!" sagt Andrej und streckt mir zum Abschied die Hand entgegen. Ich drücke seine Hand. Er schaut mir in die Augen, will noch etwas sagen, schüttelt dann nur noch einmal fest meine Hand und geht die Stufen hinunter. Ich sehe ihm nach, aber er wendet sich nicht um.

Ich stehe und lausche, bis das Geräusch des Wagens sich in der Ferne verliert. Minuten vergehen. Es ist Zeit.

Ich habe die Schlüssel zu meiner Wohnung abgegeben und es bleibt mir nichts zu tun, als die Tür hinter mir zuzuschlagen. Ich zögere einen Augenblick auf der Schwelle, dann schlage ich mit hartem Ruck die Tür hinter mir zu. Ich drücke auf den Türgriff. Die Tür ist fest geschlossen. Es gibt keinen Weg zurück.

Ich wende mich um und gehe – der Zukunft entgegen.


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