Gregory Klimow. Berliner Kreml. Kapitel 08

Die Früchte des Sieges

Die Autofabrik der Firma BMW in Eisenach war einer der ersten großen Industriebetriebe der deutschen Sowjetzone, der von der SMA die Erlaubnis zur Wiederaufnahme seiner Produktion erhielt. Sie begann auf Hochtouren zu arbeiten, um Wagen auf Reparationskosten und für den inneren Bedarf der SMA zu liefern. Der neue Wagenpark von Karlshorst bestand ausschließlich aus Wagen der Marke BMW. Außerdem wurden schwere Militär-Motorräder für die sowjetischen Besatzungstruppen hergestellt.

In Übereinstimmung mit den Beschlüssen der Potsdamer Konferenz über die Entmilitarisierung Deutschlands arbeitete der Kontrollrat unter aktiver Teilnahme General Schabalins genaue Bestimmungen aus, die der deutschen Industrie jedwede Art von Kriegs- oder kriegsähnlicher Produktion auf das strengste untersagte. Zur gleichen Zeit erhielten die BMW-Werke von demselben General Schabalin feste Aufträge für die Lieferung von Militär-Motorrädern. Aber das sind natürlich nur Kleinigkeiten.

Die Verhandlungen der Vertreter von BMW-Eisenach kamen in Karlshorst zu einem ungewöhnlich schnellen Abschluß. Andere Firmen, die ihre Erzeugnisse für Reparationsaufträge anboten, wetzten tage- und wochenlang die Schwellen der SMA, bevor sie zu positiven Ergebnissen kamen. Diese raschen Erfolge bewirkte die Findigkeit der BMW-Direktion, die ihre Fürsprecher nach Karlshorst entsandte.

Wenige Tage nachdem Schabalin die Genehmigung für die Inbetriebnahme der BMW-Werke unterzeichnet hatte, sah ich die Morgenpost des Generals durch. Unter anderem fiel mir eine Rechnung der Firma BMW über insgesamt 7.400 Reichsmark auf den Namen Schabalin auf, sie betraf die Bezahlung des Wagens, “den Sie durch unsere Vertreter erhalten haben”. Die Rechnung war mit dem Stempel “Betrag erhalten” versehen. Ich warf Kusnezow einen fragenden Blick zu. Er gab sich den Anschein, als wüßte er nichts von der Sache.

Am Tage darauf traf ich Mischa, als ich über den Hof des Hauses ging, in dem Schabalin wohnte, in der Tür der Garage. Er brachte mit einem Lappen einen funkelnagelneuen Wagen, der mir – noch ohne Nummer – aus dem Halbdunkel der Garage entgegenschimmerte, auf Hochglanz.

“Wem gehört der Wagen?” fragte ich erstaunt; ich wußte nichts davon, daß der General einen solchen Wagen hatte. “Ach, bloß so”, antwortete Mischa ausweichend, entgegen seiner sonstigen Gesprächigkeit.

Als ich die schachbrettartige Fabrikmarke auf dem Kühler des Wagens erblickte, begriff ich, wie die Dinge lagen. Die Direktion der BMW-Werke hatte dem General ein kleines “Geschenk” gemacht. Heute sind 7.400 Reichsmark die Fiktion einer Kaufsumme. Der General hat also seinem Fahrer und seinem Adjutanten für alle Fälle befohlen, den Mund zu halten. Daher sind Kusnezow und Mischa auch so zurückhaltend in bezug auf den neuen Wagen.

Während des Vormarsches durch Deutschland “organisierte” General Schabalin zwei PKWs und verfrachtete sie mit Mischas Hilfe nach Hause, neben den drei Lastwagen, vollbeladen mit sonstigen “Trophäen”. Hier benutzt General Schabalin nur die zwei ihm zur Verfügung stehenden Dienstwagen, ohne auch nur eine einzige Fahrt mit dem neuen BMW zu machen. Bald verfrachtete Mischa auch den BMW, wieder in Begleitung zweier Lastwagen, in die Heimat. Natürlich nicht auf Rechnung des Wiederaufbaues oder der Reparationen, sondern höchst privat an die Adresse des Generals. So hat er also drei Privatwagen und zwei Dienstwagen. Die Dienstwagen benutzt er, die eigenen schont er und versteckt sie verschämt. In dieser Hinsicht ist der proletarische General so geizig wie ein Wucherer. Ach, ihr eisenharten Bolschewiken mit der Seele eines Taschendiebs!

Anfangs kam ich gar nicht auf den Gedanken, mir einen eigenen Wagen anzuschaffen. Später, als ich sah, wie sich die anderen den örtlichen Verhältnissen anpaßten, überlegte ich mir, daß es nicht schlecht wäre, ein eigenes Auto zu haben. Ein Auto kaufen ist eine Kleinigkeit, viel schwerer ist es, die sogenannte “Genehmigung zum Besitz eines privaten Automobils” zu bekommen. Solche Genehmigungen werden von dem Chef der Verwaltungsabteilung der SMA, General Demidow, ausgestellt. General Demidow untersteht in seiner Dienststellung General Schabalin als dem höheren Vorgesetzten. Daher beschloß ich, erst einmal bei Schabalin den Boden zu sondieren. Wenn er will, kostet es ihn nur einen Telefonanruf bei Demidow – und alles geht in Ordnung. Ich verfaßte eine entsprechende Meldung und legte sie, nach dem üblichen dienstlichen Bericht, vor Schabalin hin.

“Hm! Wozu brauchen Sie einen Privatwagen?” fragte der Wirtschaftsdiktator Deutschlands und rieb gewohnheitsmäßig mit dem gekrümmten Finger seine Nasenspitze.

Die Sowjetführer wachen eifersüchtig darüber, daß die Vorrechte, die sie selber genießen, nicht zu vielen zugänglich werden. Selbst wenn ein beliebiger Amerikaner, und sei es General Draper persönlich, zu Schabalin käme, würde dieser entscheiden, daß er einen Wagen absolut nicht nötig habe.

“Warten Sie damit. Ich habe eben keine Zeit, mich mit solchen Dingen abzugeben”, sagt der General, als er mir meine Meldung zurückgibt.

Ich weiß, daß es von Tag zu Tag schwerer wird, die Genehmigung für einen Privatwagen zu erhalten. Außerdem weiß ich, daß es keine ausweglosen Lagen gibt, daß es höchstens Menschen gibt, die den Ausweg nicht finden. Mit den Wölfen muß man heulen – das ist eines der Hauptgebote des Sowjetlebens. Gleichzeitig steigt in mir der Verdacht hoch, daß die Ablehnung des Generals nur seiner Vorsichtigkeit entspricht. Er will sich nicht der Gefahr aussetzen, beschuldigt zu werden, er lasse es an bolschewistischer Wachsamkeit fehlen, indem er seinen Untergebenen erlaubt, sich mit “kapitalistischen Spielzeugen” zu verwöhnen. Das gleiche Gefühl mag ihn beherrscht haben, als er seine Trophäen organisierte, in dem Falle allerdings überwand das unkommunistische Überbleibsel des Strebens nach persönlichem Gewinn die Furcht. In meinem Falle aber hatte er kein persönliches Interesse an der Sache, während die ewige Angst und das Streben nach Rückversicherung geblieben sind.

Von diesen Überlegungen ausgehend beschließe ich, es von der anderen Seite anzupacken.

“Gestatten Sie, daß ich mich an Demidow wende, Genösse General?” frage ich scheinbar ganz nebenbei.

“Warum nicht – bitte”, erwidert Schabalin bereitwillig. Also hat sich meine Annahme bestätigt. Der General will zwar seine Unterschrift nicht geben, hat aber nichts dagegen, daß ein anderer die Verantwortung übernimmt.

Der Chef der Verwaltungsabteilung weiß genau, daß ich im persönlichen Stab General Schabalins arbeite. Hier kann ich mich des Überraschungsmoments bedienen. Am nächsten Tage lege ich mit betont selbstsicherer Miene meine Meldung General Demidow auf den Tisch.

“Mit Genehmigung General Schabalins”, sage ich und lege die Hand an die Mütze.

Demidow liest die Meldung in der Annahme, daß die Sache von Schabalin bereits sanktioniert ist. Unter diesen Umständen käme eine Ablehnung der Zuwiderhandlung gegen einen Befehl des Vorgesetzten gleich.

“Ach, haben Sie an vier Zylindern nicht genug”, runzelt er die Stirn, als er die Autopapiere durchsieht. “Sechs Zylinder sind für Privatpersonen verboten.”

Demidow ist allgemein bekannt dafür, daß er imstande ist, wegen zehn Litern Benzin einen ganzen Tag mit Schaum vor dem Mund zu feilschen, obgleich er Zehntausende von Tonnen Benzin auf Lager hat. Um die gesetzwidrigen zwei Zylinder herauszuschlagen, biete ich liebenswürdig an: “Rufen Sie doch Schabalin an, Genösse General!”

Eine solche Dummheit wird Demidow nie begehen, überdies weiß ich, daß Schabalin verreist ist und sich nicht im Dienst befindet. “Na gut”, ächzt Demidow, als begehe er ein Verbrechen. “Wenn Schabalin es schon genehmigt hat...”

Er stellt die Genehmigung aus, unterschreibt und reicht mir das Blatt: “Brechen Sie sich nur nicht das Genick.”

Auf diese Weise wurde ich Autobesitzer. Das war ein großer Erfolg. Viele Offiziere bemühten sich später monatelang um die Genehmigung zum Besitz eines Privatwagens, mußten sich dann aber doch mit der Straßenbahn zufrieden geben.

Ich wurde gewarnt: “Geh in Karlshorst lieber zu Fuß. Beim überqueren der Straße sieh Dich erst nach allen vierzehn Seiten um!” Tatsächlich, in Karlshorst kommen mehr Verkehrsunfälle vor als im gesamten übrigen Berlin.

Die Verkehrsregeln sind hier in gewissem Maße abgeändert. Allerdings durch die Chauffeure selbst, oder richtiger, durch die Leute am Steuer. Das Vorfahrtsrecht im Straßenverkehr haben üblicherweise Lastwagen unter Berücksichtigung ihrer Tonnage. Die Logik ist ausnehmend einfach und vom Leben selbst diktiert: wer im Falle eines Zusammenstoßes den größeren Schaden hätte, hat nachzugeben. Nicht umsonst nennt man Karlshorst den Berliner Kreml. Die Spielregeln sind die gleichen.

Eine Streitfrage bilden die Wagen der Generale, wobei der Streit zwischen Tonnage und Generalsprestige nicht selten mit eingedrückten Kühlern endet. An den Straßenkreuzungen knirscht dann das Glas zerbrochener Scheinwerfer unter den Füßen, und die Neugierigen betrachten interessiert die nächsten Bäume und Zäune, in dem Bemühen, aus der abgestoßenen Rinde und dem verbogenen Gitter ergänzende Einzelheiten des Vorfalls zu rekonstruieren. Am sichersten wäre es, im Panzer durch Karlshorst zu fahren.

Die Fahrer, einfache Soldaten, sind ehrlich entrüstet, daß die Autos der Generale keine Erkennungszeichen führen. Wie soll man ahnen, wer in so einem Wagen sitzt: ein rotznasiger Leutnant oder ein von dem Bewußtsein der eigenen Würde aufgeplusterter General. Dabei besteht ein ungeschriebenes, aber desto strenger eingehaltenes Gesetz: niemand hat das Recht, den Wagen eines Generals zu überholen.

In diesem Zusammenhang blieb mir ein Vorfall im Gedächtnis haften. Einmal begleitete ich General Schabalin von Dresden nach Berlin. Auf der schmalen, von Apfelbäumen gesäumten Landstraße flitzte ein hurtiger kleiner DKW vor der Nase unseres gewichtigen “Admiral” vorbei. übermütig schwänzelnd, mit wackelnden Rädern, überholte er unsere Limousine. Am Steuer saß ein Offizier, der uns nicht einmal eines Blickes würdigte.

Fahrer Mischa warf dem neben ihm sitzenden General einen fragenden Blick zu. Er kannte dessen Gewohnheiten genau und wartete nur auf das Kommando. Ohne den Kopf zu wenden, befahl der General kurz: “Los, halt ihn an!”

Mischa, dem der General gewöhnlich wegen seines Magenleidens verbot, schnell zu fahren, ließ sich das nicht zweimal sagen. Im Vorgefühl des Vergnügens, das ihm nur selten zuteil wurde, trat er so eifrig auf den Gashebel, daß der General schmerzlich das Gesicht verzog.

Der unglückliche DKW, der nichts von dem drohenden Geschick ahnte, nahm die Herausforderung an und gab ebenfalls Gas, wobei seine Räder derart wackelten, daß er riskierte, sie zu verlieren. Nach wenigen Minuten wilder Jagd holte der “Admiral” auf, riß sich voraus und begann, dem Rivalen den Weg zu verlegen. Um diesem Manöver Nachdruck zu verleihen, steckte der General seinen Kopf mit der goldverzierten Generalsmütze zum Fenster hinaus und drohte mit der Faust. Das wirkte nachhaltig. Der DKW stoppte ruckartig und blieb etwa dreißig Meter hinter uns in Erwartung des Donnerwetters wie angewurzelt stehen.

“Los, Major, gehen Sie und verdreschen Sie diesem Tölpel gehörig das Maul”, wandte sich der General an mich.

Ich stieg aus, um den Befehl auszuführen. Neben dem DKW stand ein Oberleutnant, verlegen von einem Fuß auf den anderen tretend. Hypnotisiert von dem Anblick der drohenden Generalsfaust, versuchte er bestürzt, sich zu rechtfertigen. Ich stellte durch einen vorsichtigen Seitenblick fest, daß der General mich vom Wagen aus beobachtete und brach in einen Strom von Verwünschungen gegen den unglücklichen Oberleutnant aus. Zu meiner Verwunderung bemerkte ich, daß der Oberleutnant viel erschrockener war, als sich nach Lage der Dinge gehörte.

Während ich mit strengem Blick die Papiere des Oberleutnants prüfte, warf ich einen schnellen Blick in den Wagen. Aus dem Fond blickten mich die Augen eines jungen deutschen Mädchens an. Daher also der große Schreck des Oberleutnants. Das konnte ihm die Schulterstücke kosten (Bekanntschaften mit deutschen Mädchen waren strengstens untersagt). Ich sah den bestürzten Oberleutnant forschend an. Er stand da wie ein Lamm, das das Messer des Schlächters auf sich gezückt sieht. Ich stellte mich mit dem Rücken zum Wagen des Generals und sagte in ganz anderem Ton: “Hau ab, aber rasch!”

Als ich zum Wagen zurückkehrte, betrachtete der General mein fröhliches Gesicht mit gereiztem Blick und brummte: “Warum haben Sie ihm nicht die Zähne eingeschlagen? So was nennt sich Frontkämpfer!”

Um das gekränkte Selbstbewußtsein des Generals zu besänftigen, sagte ich: “Hat keinen Sinn, Genösse General. Sie haben ihm einen solchen Schrecken eingejagt, daß er sowieso die Hosen voll hatte.” “Sie haben eine lange Zunge, Major. Ewig finden Sie Ausreden, um meine Befehle zu umgehen”, schimpfte der General und winkte Mischa zu: “Los, fahren wir. Aber etwas langsamer.”

Offiziell ist das Ohrfeigen in der Armee stengstens verboten, während des Krieges war es jedoch illegal legitimiert und galt bei den “Fronf”-Offizieren, insbesondere bei denen der Ausbildungsabteilungen in der Etappe, sogar als besonders schneidig. Für ein und dieselbe Handlung kann man entweder ein Lob bekommen oder vors Kriegstribunal gestellt werden. Schlüpfrig ist die Leiter der sowjetischen Karriere.

Gewöhnt an die Zustände des Autoverkehrs in Karlshorst – besonders nachdem ich mit meinem Wagen verschiedentlich auf der Flucht vor verfolgenden Lastwagen auf den Bürgersteig entfliehen mußte – war es mir irgendwie ungemütlich, durch die Straßen Berlins zu fahren. Ein fremdes Element. Da fährt man ordnungsgemäß die Hauptstraße entlang und tritt höflich auf die Bremsen, wenn aus der Seitenstraße ein riesengroßer amerikanischer Truck seine Nase heraussteckt. Teufel noch mal, ein solcher würde bei uns nicht einmal dem Marschall persönlich den Weg freigeben. Der dumme Yankee aber verbrennt sein Benzin für nichts, stöhnt wie ein Elefant mit seinen pneumatischen Bremsen und winkt von seiner unbezwinglichen Höhe mit der Hand: “Fahr zu!” Da sieht man doch gleich, daß dieser Mensch die einfachsten Dinge nicht begreift – bist Du der Stärkere, dann presche vor.

Und doch ist es ganz angenehm – immerhin Achtung vor irgendwelchen höheren Gesetzmäßigkeiten, nicht nur vor roher Kraft. Die Kurve der Verkehrsopfer in den Krankenhäusern und auf den Friedhöfen steigt bedrohlich an. Marschall Shukow ist gezwungen, drakonische Maßnahmen gegen die Verkehrssünder zu ergreifen. Manche Provinz-Kommandanten verfallen auf den Ausweg, die Wagen ihrer Offiziere ganz einfach zu beschlagnahmen.

Nachdem der Mercedes des ersten Chefs des Stabes der SMA, Generalleutnant Kurassow, an einer Straßenkreuzung in Karlshorst zusammengedrückt wurde, entfaltete die Autoinspektion eine bis dahin unbekannte Regsamkeit. Am Tage darauf waren alle Straßenkreuzungen mit roten Verbotstafeln, Lichtsignalen, deutschen Verkehrsposten und motorisierten Patrouillen der WAI (Russische Abkürzung für Militär-Autoinspektion) versehen. Durch die Straßen Karlshorsts zu fahren, wurde zu einer verzwickteren

Angelegenheit, als durch den wildesten Urwald. Im besetzten Deutschland bereitet das Problem, wie die Sowjetmenschen vor dem zersetzenden Einfluß des kapitalistischen Westens zu bewahren sind, der Führung großes Kopfzerbrechen. Als Beispiel wieder die Autos. Die Dinge liegen so, daß ein Privatauto laut Sowjetdogma als bürgerlicher Luxus betrachtet wird. In der Regel soll es nur Dienstwagen geben, die der Staat denen zur Verfügung stellt, die er ihrer Dienststellung nach dessen für würdig erachtet. Die Ausnahmen, die hauptsächlich propagandistischen Zwecken dienen, sind selten und fallen nicht ins Gewicht. Die Zeit der vulgären Einheit und Brüderlichkeit – das ist eine längst überholte Etappe. Jetzt haben wir den wissenschaftlichen Sozialismus. Wer sich seine Lehren gut gemerkt hat, hat schon längst einen Dienstwagen.

Hier beginnt der Kampf zwischen den “kapitalistischen Überresten im kommunistischen Bewußtsein” und den sowjetischen Dogmen. Die “kapitalistischen Überreste” erwiesen sich trotz dreißigjähriger Umschmiedung als außerordentlich zählebig und kamen, in andere Verhältnisse verpflanzt, wieder zu voller Blüte.

Im Jahre 1945 konnte sich jeder sowjetische Offizier in Deutschland für eine Monatslöhnung ein Auto kaufen. Die Politik der “Kontrolle durch den Rubel” war im gegebenen Falle wirkungslos. Deshalb mußte die Führung zu anderen Mitteln greifen.

Auf Schritt und Tritt konnte man in Karlshorst etwa folgende Szenen erleben: Major Dernow reicht Hauptmann Terechow den Telefonhörer: “Bei Dir zu Hause ist irgend etwas geschehen. Deine Frau ruft an.”

Terechow nimmt den Hörer zerstreut ans Ohr. Sein Gesicht spiegelt eine ganze Serie aufeinanderfolgender Empfindungen, zuerst Ärger, dann Entrüstung, schließlich hemmungslose Wut. Ohne die Klagerufe seiner Frau zu Ende zu hören, schmettert er den Hörer auf den Tisch und zieht in größter Eile seinen Mantel über:

“Dernow, wir fahren schnell nach Hause.”

“Was ist los?”

“Jemand hat die Garage aufgebrochen und holt meinen Wagen.”

“Aber Deine Frau ist doch zu Hause?!”

“Was, Frau! Man drückt ihr eine Maschinenpistole in den Bauch und – keine Widerrede.”

“Wer untersteht sich denn...?” fragt Dernow verständnislos, im Hinausgehen in seinen Mantel fahrend.

“Autoinspektion. Wer soll sich denn sonst unterstehen! Na, ich werde es ihnen zeigen”, wütet Terechow.

Die Autoinspektion beschlagnahmte den Wagen trotz aller Proteste, während Hauptmann Terechow noch lange die Schwellen des Stabes abwetzte, in der vergeblichen Hoffnung, sein Recht auf den Besitz des eigenen Wagens durchzusetzen.

Solange sich die SMA-Angestellten im Dienst befinden, durchkämmen bis an die Zähne bewaffnete Patrouillen der Militär-Autoinspektion die Höfe von Karlshorst. Alle Garagen und Keller werden nach Autos durchsucht, deren Besitz nicht “genehmigt” ist. Papiere, die beweisen, daß der Wagen auf gesetzlichem Wege erworben wurde, spielen gar keine Rolle. Ein Auto kann man wohl kaufen, wer es aber fahren wird, das ist schon eine andere Frage. Die klassenlose Gesellschaft ist in streng gesonderte Klassen eingeteilt, so daß Karl Marx persönlich sich nicht darin auskennen würde, geschweige denn ein einfacher Sterblicher.

Durch diese radikale Methode werden den Offizieren die Wagen abgenommen, die sie offiziell und ordnungsgemäß gekauft haben, ohne aber nach der gleichen offiziellen Ordnung die Genehmigung zum Besitz eines Privatwagens zu erhalten. Sie haben daher ihre Wagen dem Staat abzuliefern, sofern diese ihnen nicht gewaltsam beschlagnahmt werden. Expropriation als Methode der sozialistischen Erziehung. Sammelt keine Reichtümer, Genossen Offiziere.

Im Jahre 1945 durften Offiziere vom Major an aufwärts Genehmigungen für den Besitz von Privatwagen beantragen. Vom Mai 1946 an nur noch Offiziere vom Oberst aufwärts. Praktisch bedeutete das ein Verbot zur Registrierung von Wagen für das gesamte Offizierskorps.

Die Deutschen kommen in Autos in Karlshorst vorgefahren. Die sowjetischen Offiziere dagegen müssen häufig die Straßenbahn benutzen, wenn sie die Deutschen zu besuchen haben. “Ich habe den Wagen an der nächsten Ecke geparkt”, heißt es in solchen Fällen.

Die goldenen Tage des Jahres 1945, in denen die sowjetische Grenze nach dem Westen praktisch nicht bestand, gehören sagenhafter Vergangenheit an. Die Mehrzahl der eingefleischten Verfechter des Privateigentums, die die Hoffnung gehegt haben, bei sich zu Hause irgendwo in Kaluga oder Arsamass schwungvoll im “Privaten” vorzufahren und mit eigenen Pferdestärken von Berlin aus durch Polen bis in die Sowjetunion hineingefahren sind, müssen ihre Wagen mitsamt ihren sehnlichsten Wunschträumen kurzerhand an der Grenze zurücklassen, um ihre Koffer fluchend in den Zug zu schleppen.

Der Zoll übersteigt beträchtlich den Kaufwert des Wagens. Wenn er 5.000 Reichsmark, das sind 2.500 Rubel, gekostet hat, so schätzt die Zollrevision ihn nach dem Kaufwert der entsprechenden sowjetischen Wagen, d. h. auf 10.000 bis 12.000 Rubel, und belegt ihn mit einem Zoll von 100 bis 120 Prozent dieses angenommenen Kaufwertes.

Praktisch beträgt also der Zoll das Fünf- bis Sechsfache des Kaufwertes des in Deutschland erworbenen Wagens. Solche Summen hat natürlich niemand in der Westentasche.

Im Zug wird der Sünder, der nun wieder zum sowjetischen Glauben zurückgeführt wird, von den Mitreisenden getröstet: “Gräm Dich nicht, Wanja! Es ist sogar besser so. Das bewahrt Dich nur vor weiteren Unannehmlichkeiten. Urteile doch selbst! Du kommst, angenommen, nach Moskau. Um einen Wagen registrieren zu dürfen, mußt Du erst eine aus Stein erbaute Garage nachweisen, dabei lebst Du selbst im Holzhaus, neun Quadratmeter pro Seele. Eine Genehmigung zum Bezug von Benzin kriegst Du auch nicht, es hintenherum besorgen bedeutet entweder Bankrott oder schwedische Gardinen.”

Aus der oberen Koje lugt ein sichtlich vielerfahrener Kopf hinunter und gießt Balsam in die gekränkte Seele des entkulakisierten (Ausdruck aus der Zeit der Kollektivisierung der Landwirtschaft, in der die Kulaken, d. h. die Großbauern, “entkulakisiert”, d. h. ihres gesamten Hab und Guts enteignet und oft liquidiert wurden) Autoliebhabers: “Freu Dich, daß Du so billig davongekommen bist. In meiner Stadt brachte ein demobilisierter Hauptmann einen wundervollen “Mercedes” mit nach Hause. Was ist daraus geworden? Der Hauptmann wird jetzt wahrscheinlich sein Leben lang nervenkrank sein. Er ist ein Mann gewesen wie andere auch – kein großer Versammlungsmensch und keiner von den Aktivisten. Und plötzlich fährt so ein gewöhnlicher Bursche in einem eleganten Wagen herum. Die ganze örtliche Führerschaft geriet aus dem Häuschen.

Sie dachten und rätselten, wie sie ihm den “Mercedes” abluchsen könnten. Dann hatten sie es. Irgendwo im Rayon wurde eine Kuh vom Zug überfahren – er wird zum Staatsanwalt bestellt: «Warum hast Du die Kuh totgefahren?» Irgendwo brach eine Brücke aus Altersschwäche zusammen – wieder muß er vor Gericht: «Wozu hast Du die Brücke kaputtgefahren?» Wo immer im Rayon ein Unglück passiert, sofort wird er zur Verantwortung gezogen: «Das warst Du, der mit seinem Wagen diese Dinge gedreht hat!»

Zum Halse heraus hing ihm schließlich diese Komödie; also beschloß er, den Wagen zu verkaufen. Aber auch das war nicht so einfach: niemand kaufte ihn. Mit Müh und Not machte er endlich mit dem Leiter der MTS (Maschinen- und Traktorenstation) aus, den Wagen gegen ein Kälbchen und einige Sack Getreide der kommenden Ernte einzutauschen. Zur gleichen Zeit kam eine Verordnung des ZK “über die Verschleuderung des Eigentums der Kolchose und MTS” heraus. Den Leiter der MTS setzte man wegen früherer Sünden fest, und der Hauptmann wagte wegen des Kälbchens und des Getreides auch nicht ein Sterbenswörtchen verlauten zu lassen. Siehst Du, womit dieses Spielchen endet? Natürlich wäre es vernünftiger gewesen, Deinen Wagen zu versaufen, als ihn diesen Schweinehunden vorzuwerfen. Man kann ja aber nicht alle Fälle voraussehen."

Der entkulakisierte Autoliebhaber fühlt sich nach diesen Erzählungen sehr erleichtert und beginnt zu glauben, daß er klug gehandelt hat, die Maschine an der Grenze stehen zu lassen. Er fängt nun seinerseits an hervorzuheben, daß unter den Verhältnissen des Sozialismus das Nichtvorhandensein eines Wagens die größeren Vorzüge habe: “Ja, tatsächlich, nur unnütze Scherereien. In Deutschland braucht man, wenn man mit dem Wagen eine Panne hat, in der verfluchtesten Einöde nur einmal zu pfeifen, und schon springt aus dem nächsten Busch ein Deutscher hervor und bringt alles in Ordnung. Bei uns aber ist es wie bei Robinson Crusoe, selbst wenn dir die Panne mitten in der Stadt zustößt.”

Zu Hause angekommen fühlt sich der Mann glücklich, daß er sich von der Last des Autos befreit hat und wird wieder zu einem vollberechtigten Mitglied der sowjetischen Gesellschaft.

* * *

“Mit diesem Tabak kann man bestenfalls Matratzen stopfen. Pfui Teufel!” Der Hauptmann mit sonnengebleichtem Rock und in den Nacken geschobenem Krätzchen schleudert die kaum angesteckte “Mischung sechs” auf die Erde und drückt sie zum Zeichen seiner Geringschätzung des deutschen Ersatzes heftig in den lockeren Sand. Eine Gruppe von Offizieren sitzt auf der Grasfläche vor dem Gebäude des Stabes der SMA, am Fuße des fünf Meter hohen Obelisken, der nachlässig aus Furnierholz zusammengehämmert und im Übermaß mit roter Farbe getüncht ist. Der Sockel des Obelisken, in Form eines fünfeckigen Sternes, ist mit roten Brettern abgestützt und innen mit Sand gefüllt. Die Offiziere wärmen sich in den schrägen Strahlen der Herbstsonne. Die Sonne in Deutschland ist höflich und anscheinend auch an Ordnung gewöhnt. Niemals zwingt sie, rettenden Schatten zu suchen, niemals macht sie die in Beton und Stein gehüllte Erde glühend. Sie wärmt nur, angenehm und höflich.

Die Offiziere, die darauf warten, in den Stab gerufen zu werden, haben es sich auf dem Furnierstern gemütlich gemacht. Die Jahre des Frontlebens haben sie gelehrt, keine unnötige Eile zu haben und die Wartezeit mit Hilfe von Zigaretten und philosophischen Gesprächen zu verkürzen.

“Es ist doch gut, daß der Krieg zu Ende ist”, sagt ein junger Leutnant mit Artillerieabzeichen auf den Schulterstücken träumerisch, ohne sich direkt an jemand zu wenden. “Damals hat man nicht viel nachgedacht – heute lebst du, morgen bist du unter der Erde oder im Lazarett, alles eins. Nur wenn von der Mutter ein Brief kam, dachte man daran, sich vorzusehen. Um der Alten keinen Kummer zu machen.”

Als suche er eine Bestätigung seiner Gedanken, wendet er den Kopf und überfliegt mit seinem Blick den Hof: die Reihen der ordentlich gestutzten Zwergtannen, die von Herbstgold überhauchten jungen Birken vor der Auffahrt zum Stab.

“Gestern saß ich hier auf dem kleinen Platz gegenüber dem, Capitol”, sagt der Leutnant. “Steht dort so ein steinernes Weib, zu ihren Füßen ein Hügelchen, darauf ein Stöckchen eingesteckt mit einem dreifarbigen Fähnchen. Ich fragte die Deutschen: «Was ist das?» Sie sagten, da sei ein Franzose begraben. Gerade wo er gefallen ist, der arme Kerl, haben sie ihn mitten auf der Straße auch begraben. Recht ungemütlich – irgendwo im Feld ist es doch ruhiger, Gras wächst da, und der Wind geht. Diesen Franzosen läßt man aber nicht einmal ruhig schlafen. Am 7. November veranstalteten unsere Pioniere ausgerechnet auf dem kleinen Platz über seinem Kopf ein Feuerwerk aus Anlaß der Revolutionsfeierlichkeiten. Vergruben sechszöllige Hülsen in die Erde und vollführten einen solchen Feuerzauber, daß halb Berlin auf dem Kopf stand. Die Deutschen dachten, es sei wieder Krieg – Karlshorst wird bombardiert.”

Der Leutnant begeistert sich an seinen eigenen Worten und fährt fort: “Ja, da kann man sagen, was man will. Hier oben ist es doch angenehmer als unter der Erde. Schade um die, die unten liegen müssen. Man erzählt, daß irgendwo hier in Berlin ein Grabmal des unbekannten Soldaten war. Dort brannte ein ewiges Feuer, und oben im Dach war ein rundes Loch, durch das der blaue Himmel schaute. Wer dort hineingeht, fühlt sich ungefähr so, wie auf dem halben Weg zwischen dem Diesseits und dem Jenseits. Da beruhigten die Deutschen ihr Gewissen über diejenigen, die in den Feldern und Wäldern faulten. Immerhin richtig, – niemand wird vergessen. Welche Mutter auch hineinkommt, denkt, die Kerze brennt für ihren Sohn. Man sagt, auch in Paris gibt es so ein Ding. Also hat man auch diesen kleinen Franzosen, der gegenüber vom «Capitol» liegt, nicht vergessen.”

Ein älterer Hauptmann, der bisher gleichgültig zugehört hatte, findet Interesse an dem Thema und sagt: “Hier fällt vieles auf. In l jedem kleinsten Dorf – unbedingt ein Denkmal für die gefallenen Soldaten. Und nicht irgend so eine Furnier-Schmiererei, sondern ein richtiges Denkmal, man sieht hin – und möchte die Mütze abnehmen. Ob Granit oder unbehauener Stein, die Namen der Soldaten | eingemeißelt, von Moos überwachsen, gleich daneben eine Quelle, das Wasser rauscht. Brave Kerle, diese Deutschen – selbst den Toten verschaffen sie Gemütlichkeit.”

“In dem Städtchen, in dem ich in der Kommandantur arbeite, war auch ein Denkmal”, fährt der Hauptmann fort. “Eine große Steinkugel, wahrscheinlich die Erdkugel, und auf ihr ein sterbender Soldat. Mit dem Gesicht zur Erde, die Arme ausgebreitet, die Hände in den Boden verkrallt, als wolle er die ganze Welt umschlingen. Unser Politkommissar machte dem Kommandanten einmal den Vorschlag, das Denkmal zu sprengen, sagte: «Militärische Propaganda». Der Kommandant schaute ihn an, schaute und sagte: “Hör mal, Kommissar, Du bearbeite die Lebendigen, die Toten aber laß in Ruhe. Verstanden?”

Der Leutnant pflichtet bei: “Die Deutschen verstehen, ihre Toten zu achten. Ich jagte einmal zufällig mit meinem Motorrad in einen Friedhof hinein, direkt geschämt habe ich mich. Solche Ordnung, es atmete richtig ewige Ruhe. In Rußland bin ich nur auf den Friedhof gegangen, um den Zink von den Särgen zu holen. Sowieso waren alle Grüften erbrochen und die Toten lagen... mit dem Gesicht nach unten. Damals zogen die Gauner die Toten aus, von den Toten konnte man mehr holen als von den Lebenden. Und ich ging dorthin, um Zink zu besorgen – für Akkumulatoren”, rechtfertigte sich der Leutnant.

Der Hauptmann läßt seine Gedanken laut werden: “Als Allelujewa starb, setzte Stalin ihr ein sehr schönes Denkmal auf dem Nowo-Dewitschjer Friedhof. Ich wollte sogar einmal hingehen, um es anzusehen, aber man sagte, daß man nicht hineingelassen wird.” Ein dritter Offizier, eine starke Brille mit dicken Gläsern auf der Nase und einen dichten Schöpf krausen Haares auf dem Kopf, greift in die Unterhaltung ein. Es gibt Menschen, die immer versuchen, jeden Gegenstand vom entgegengesetzten Standpunkt zu betrachten. Der Offizier mit dem Haarschopf lächelt: “Das ist alles Quatsch. Bei uns in Gorkij sorgt man für die Toten am besten, sogar eine Tanzfläche hat man eingerichtet.”

“Für wen?” fragt der Leutnant.

“Für alle – die Lebenden und die Toten.”

Die Offiziere wenden sich zweifelnd dem Sprechenden zu und blicken ihn erwartungsvoll an.

Der Offizier mit dem Schöpf erläutert: “Dort war inmitten der Stadt ein Friedhof. Der Stadtsowjet ordnete also an, stattdessen einen Park anzulegen. Das hat man auch getan, nach allen Regeln der Wissenschaft und Technik – der Friedhof wurde umgepflügt und ein Park der Kultur und Erholung namens «Swerdlow» eingerichtet. Mit einer Tanzfläche und sonstigen Belustigungen. Und die ganze Stadt nannte den Park «Klub der Lebenden und Toten». Die Lebenden haben Spaß und die Toten keine Langeweile. Die Töchter tanzen auf den Knochen ihrer Papas Foxtrott. Die alten Weiberchen bekreuzigen sich nur im Vorbeigehen: «Och, Du mein Heiland, Heiland...»”

“Bei uns in Rostow ist es ähnlich”, sagt der Artillerieleutnant. “Man baute ein neues Theater «Maxim Gorkij». Der Plan sah außen weiße Marmorverkleidung vor. Man beriet hin und her, woher man den Marmor nehmen sollte, und beschloß, den Toten die Steuer aufzuerlegen – riß im ganzen Gebiet Rostow alle Grabmäler aus weißem Marmor ab, zersägte sie und verkleidete das Theater mit weißen Marmorkacheln.”

“Ja, das Theater ist gut, nur die Akustik ist schlecht. Ich war einmal da”, gibt der Offizier mit dem Schöpf zu.

“Nachdem das Theater fertig war, wurden alle Bauleiter festgesetzt”, sagt der Artillerist. “Da war irgendeine Teufelei los, auf der Galerie konnte man besser hören als in der ersten Reihe. Man beschuldigte natürlich die Erbauer – Schädlingsarbeit. Aber die Leute munkelten, daß die Toten einen Streich gespielt hätten.”

Der Hauptmann sieht auf die Uhr, dann zu den Fenstern des Stabes hinüber: “Na, Utkin werden wir allem Anschein nach heute nicht zu Gesicht bekommen. Gehen wir Mittag essen.”

Der Hauptmann spuckt in den Sand. Der Leutnant drückt die nächste “Mischung sechs” mit dem Stiefelabsatz in die Erde und erhebt sich, reckt sich nach dem langen Sitzen ausgiebig und bringt den Riemen seines Portepees in Ordnung. Die Offiziere bemühen sich, ihre Zigarettenstummel und sonstigen Abfälle nicht auf die grüne Rasenfläche zu werfen, sondern in das Innere des sandgefüllten Sternes zu versenken.

Sie wären nicht wenig erschrocken gewesen, wenn sich vor ihren Augen die Erde aufgetan hätte und aus dem vollgespuckten Sand, unter dem absplitternden roten Furnier hervor der zornige Geist ihres ehemaligen obersten Kriegsherrn, des Helden des Sturmes auf Berlin und Berlins erstem Kommandanten, Garde-Generaloberst Bersarin, aus seinem Grabe aufgestanden wäre. Weder den sowjetischen Offizieren noch den deutschen Arbeitern, die hoffnungslos und verzagt auf dem Gebiet des Stabes umherschlendern, könnte der Gedanke kommen, daß der rote namenlose Aufbau, der den ganzen Hof des Stabes verunziert und durch seine Geschmacklosigkeit den Augen wehtut, ein Grabmal ist und bestimmt, das Andenken des sowjetischen Helden in Ehren zu halten, der in der Schlacht um Berlin die zweite Rolle nach Marschall Shukow gespielt hat.

Ein widersinniges Spiel des Zufalls. Den ganzen Krieg an den gefährdetsten Frontabschnitten an der Spitze einer Durchbruchsarmee heil und gesund zu überstehen, das siegreiche Ende zu überleben, als ruhmgekrönter Triumphator in der besiegten feindlichen Hauptstadt einzuziehen und dann buchstäblich am nächsten Tage das Opfer eines dummen Verkehrsunfalls zu werden.

Der General hatte die Gewohnheit, morgens eine Motorradfahrt zu unternehmen. Im Sporthemd mit kurzen Ärmeln, ohne Rock und ohne Mütze fuhr er auf der mächtigen erbeuteten BMW aus einer Seitenstraße auf die Hauptverkehrsstraße Treptower Allee hinaus, die nach Karlshorst führt. Die Treptower Allee entlang jagte auf vollen Touren eine schwerbeladene Kolonne von Armee-Studebakern heran. Ob es nun sportlicher Ehrgeiz war, der die meisten Motorradfahrer packt, oder ein Zufall, niemand weiß es. Auf jeden Fall wollte der General zwischen den dahinrasenden Lastwagen durchflitzen.

Infolge des unglücklichen Zusammenstoßes der Gedanken des Generals mit den unerbittlichen Gesetzen der Dynamik blieben von ihm nur die Generalshosen mit den roten Biesen übrig. Der Fahrer des Lastwagens fluchte zuerst über den Narren, der ihm direkt unter die Räder lief, dann aber, als er erkannte, wessen Hosen er so ungeschickt gebügelt hatte, nahm er seine Pistole heraus und erschoß sich. Wo der Soldat beerdigt wurde, ist unbekannt, wahrscheinlich ruht er aber friedlicher als General Bersarin.

In diesen Tagen nach dem Sieg werden wir auf Schritt und Tritt an die erinnert, die diesen Sieg erkämpften. Einmal spazieren Major Dubow und ich durch die Seitenstraßen in der Nähe des Kurfürstendammes im englischen Sektor Berlins. Es ist Sonntag, die Straßen leer und leblos. Wir wollen dort herumschlendern, wo nicht die internationale Geschäftigkeit des Berliner Picadilly herrscht, wir wollen einmal für einen Augenblick in das wirkliche Deutschland untertauchen, wie wir es uns vor dem Kriege vorgestellt hatten: ruhig, sauber und ordentlich.

Breite, von Bäumen umstandene Straßen. Wie Archäologen versuchen wir, inmitten der Ruinen das Vorkriegs-Berlin zu finden und zu rekonstruieren. Nicht die “Höhle des faschistischen Untiers”, die es in den letzten Jahren für uns war. Wir wollen die Stadt und die Menschen sehen, die für viele von uns das Symbol der Kultur waren, bevor sie der Größenwahn zu beherrschen begann.

Wir betreten die kleine, schattige Insel auf der Kreuzung dreier Straßen. Unter den breitästigen Kastanien haben inmitten des Steinmeeres der riesigen fremden Stadt zwei kleine Grabhügel in brüderlicher Gemeinschaft Zuflucht gefunden. Ein merkwürdiges Paradoxon des Berlins der Nachkriegszeit.

Betroffen von dem ungewöhnlichen Anblick treten wir näher. Zwei geflochtene Birkenkreuze am Kopfende. Auf dem einen ein deutscher Stahlhelm, auf dem zweiten – ein sowjetischer. Ein sowjetischer Helm! Rundherum toben die entfesselten Leidenschaften der Welt, hier aber... Die Lebenden sollten sich an den Toten ein Beispiel nehmen.

Offenbar fanden die Bewohner der Nachbarhäuser nach dem Ende der Straßenschlachten diese zwei Leichen auf der Straßenkreuzung und begruben sie, so gut sie konnten, im Schatten der Kastanienbäume. Die Achtung vor den Toten war stärker als irdischer Haß.

Ein schöner Platz. Im Frühjahr küssen sich hier verliebte Pärchen, während in den Zweigen der Kastanien Nachtigallen singen. Sie singen das ewige Lied der Liebe, des Lebens, des Todes. Schön hast du es hier, unbekannter russischer Soldat.

Plötzlich dringt etwas in mein Bewußtsein, was eine unerklärliche, beinahe schmerzhafte Woge von Gefühlen in meiner Brust emporsteigen läßt. Der Major hat es auch bemerkt. Frische Blumen! Auf beiden Grabhügeln liegen frische Blumen, niedergelegt von einer fremden sorglichen Hand.

Wir nehmen wie auf Befehl die Mützen ab und sehen uns an. Die Augen des Majors haben sich seltsam verändert, um seinen Mund liegt eine schwere Falte. Er holt sein Taschentuch heraus und wischt sich über die plötzlich feucht gewordene Stirn.

“Bei uns wurden in erster Linie die deutschen Friedhöfe dem Erdboden gleichgemacht”, sagt der Major mit dumpfer Stimme. “Verflucht sei dieser Krieg und wer ihn erfunden hat”, fügt er nach minutenlangem Schweigen noch stiller hinzu.

Ein neugieriges altes Frauchen, das nicht weit von uns mit einem Kind spaziert, bleibt stehen, um die russischen Offiziere, seltene Gäste in diesem Teil der Stadt, zu betrachten. “Wer hat die Blumen auf die Gräber gelegt?” wendet sich der Major an sie. Seine Stimme ist scharf und kalt, als gäbe er einen Kampfbefehl.

Wir gehen die halbzerstörte Treppe des Hauses hinauf, das uns gewiesen wurde. Die ältere deutsche Frau, die uns die Tür öffnet, prallt entsetzt zurück, als sie die roten Ränder unserer Mützen sieht. Ein halbdunkler Korridor, verwahrloste Wohnung, in der nichts von der sonst üblichen Traulichkeit zu sehen ist, in der offensichtlich viele ihrer früheren Einwohner fehlen.

Der Major macht eine beruhigende Handbewegung: “Wir haben die Blumen auf den Gräbern gesehen. Haben Sie sie hingelegt?”

Die Frau, die sich noch nicht von ihrem Schreck erholt hat und nicht weiß, was das alles zu bedeuten hat sagt unentschlossen: “Ja... Ich dachte...” Ratlos drückt sie ihre Hände unter der Schürze zusammen.

Der Major holt seine Brieftasche hervor, nimmt ohne hinzusehen alles Geld heraus – mehrere tausend Mark – und legt es auf den Tisch.

“Legen Sie auch weiter Blumen nieder”, sagt er. Dann fügt er hinzu: “Auf beide Gräber.”

Auf einem Briefbogen der Sowjetischen Militär-Administration schreibt der Major: “Im Namen der Roten Armee befehle ich allen Soldaten und Offizieren, Frau... jegliche Hilfe und Unterstützung zuteil werden zu lassen”, unterschreibt und reicht das mit dem Sowjetwappen geschmückte Papier der erstaunten Frau: “Wenn Sie mit Russen zusammentreffen, wird dieses Papier Ihnen helfen.”

Er sieht sich im leeren Zimmer um und fragt dann, als besinne er sich auf etwas: “Sagen Sie, haben Sie einen Mann oder Söhne?”

“Mein Mann und ein Sohn sind an der Front gefallen. Der zweite Sohn ist in Gefangenschaft”, antwortet die Frau, wobei sie unwillkürlich einen Blick auf die an der Wand hängenden Fotografien wirft.

“Wo?” fragt der Major kurz.

Die Frau zaudert einen Augenblick, dann sagt sie still: “In Rußland...”

Der Major sieht die ihm entgegengestreckte Standard-Postkarte mit dem roten Kreuz an, notiert sich den Namen und die Feldpostnummer des Kriegsgefangenenlagers.

“Ich werde dem Lagerkommandanten und der vorgesetzten Stelle schreiben. Ich werde mich für eine vorzeitige Entlassung einsetzen”, sagt er, zu mir gewandt.

Auf der Straße strahlt nach wie vor die Sonne. Auf den Bürgersteigen stolzieren graubrüstige Tauben, nicken mit den Köpfchen und sehen mit rubinroten Augen um sich. Sie fliegen nicht davon, als wir vorbeigehen, machen nur höflich Platz.

Ich lernte Major Dubow noch an der Front kennen. Er war Chef der Aufklärungsabteilung des Divisionsstabes und hatte die Gefangenen zu sieben. Wenn er auf den Mützen das Todesemblem der SS sah und also wußte, daß jeder dieser Männer Dutzende von Menschen auf dem Gewissen hatte, zögerte er nie, sie in gesonderten Gruppen in das Hinterland abzuschicken, trotzdem er wußte, daß ihr Lebensweg hinter der nächsten Wegbiegung ein Ende finden würde.

Um uns her spazieren Tauben und machen uns höflich Platz. Wie Gleiche unter Gleichen. Überströmt von der hellen Septembersonne rauschen leise die Blätter der Linden und Kastanien Berlins. Das Leben läuft weiter. Das Leben ist stärker als der Tod. Und das Leben ist besonders schön, wenn es im Herzen keinen Haß gibt, wenn man allen Menschen etwas Gutes tun will – den Lebenden und den Toten.

* * *

In den ersten Monaten meines Aufenthaltes in Karlshorst interessierte ich mich nicht viel für die Umwelt. Ich mußte viel und angestrengt arbeiten und kam nur dann aus Karlshorst heraus, wenn es der Dienst erforderte. Ich vergaß das Vorhandensein des Kalenders auf meinem Tisch, und wenn ich mich seiner erinnerte, dann blätterte ich gleich eine Woche weiter.

Draußen herrscht ein wundervoller goldener Herbst. In den Straßen Karlshorsts rascheln die gelben Blätter weich unter den Füßen.

An einem Sonntag wache ich von dem Klingeln des Weckers auf und springe gewohnheitsgemäß wie aus der Pistole geschossen aus dem Bett. In das weit geöffnete Fenster leuchten die Blumen und Sträucher des Gartens, zwischen grünen Blättern schimmern in matter Reife blaue Pflaumen. Blendend grell strahlt die Morgensonne, spielt in lustigen Figuren auf den Wänden des Schlafzimmers. Stille, ungestörte Ruhe, des sonntäglichen Morgens erfüllt das kleine Häuschen. Der Klang der Glocke von dem nahen Kirchturm schallt herüber.

Klare Morgenluft streicht durch die Zimmer, kühlt die schlafheiße Haut und erfrischt den Körper. Ich möchte irgend etwas tun. Ziellos gehe ich durch die Zimmer. Heute bin ich voll und ganz mir selbst überlassen. Was soll ich mit diesem Tag nur anfangen?

Plötzlich ergreift mich ein sonderbares Gefühl. Warum habe ich keine Ruhe? So läuft man sein Leben lang in der Tretmühle herum, ohne nachzudenken. Wenn man aber einmal nachdenkt, dann überlegt man – warum eilt man eigentlich immerzu? Die meisten Menschen erkennen das erst, wenn es zu spät ist.

Vor kurzem kam mir eine deutsche Propagandabroschüre in die Hände “In Gottes eigenem Land”, in der die Deutschen Amerika und die Amerikaner verhöhnen. Besonders lustig machen sie sich über das amerikanische Lebenstempo und ihre ewige Jagd nach dem Dollar, nach Erfolg – “Your luck is just around the corner!” Der Amerikaner rennt, was er Kraft hat, bis zur Ecke, in der Hoffnung, sein Glück zu finden. Aber dort ist es leer. Dafür gibt es viele andere Ecken. Und so geht es das ganze Leben lang.

Darin stimme ich den Deutschen bei. Aber wie soll man die Kunst erlernen, das Leben zu genießen?

Ich entnehme dem bronzenen Etui eine Zigarette, lege mich auf die Couch und betrachte die Decke. Keine einzige Fliege an der Decke. Ein drolliges Land – nicht einmal Fliegen gibt es.

Ich gehe in die Küche. Mache das Gas an, mache es wieder aus. Schließe den elektrischen Herd an, schalte ihn wieder aus. Drehe an dem Gas-Warmwasserhahn, stecke den Stecker des Staubsaugers in den Kontakt, nehme die elektrische Kaffeemühle in Betrieb.

So – und womit kann ich mich nun beschäftigen? Ich gehe auf den Balkon hinaus und strecke mich auf dem Liegestuhl aus. Stecke mir die nächste Zigarette an, blase den Rauch einmal nach links, dann wieder nach rechts. Nach wenigen Minuten packt mich tödliche Langeweile.

Schließlich setze ich mich an den Schreibtisch, finde in einem Fach einen Packen Briefpapier und mache mich daran, Briefe zu schreiben. Mit Sehnsucht denke ich an Moskau, stelle mir vor, was die Leute dort gerade tun.

Da werden im Nebenzimmer hinter meinem Rücken Schritte laut. Wahrscheinlich ist es jemand, der das Haus für unbewohnt hält und hereinkommt, um zu sehen, was hier zu holen ist. Ohne mich umzudrehen frage ich: “Wer ist da?”

“Ha—ha—ha”, erschallt es hinter meinem Rücken. “Sieh doch mal einer an, wie sie hier leben!”

Ich kehre mich um. In der gläsernen Flügeltür steht Michail Beljawskij, hinter seiner Schulter lugt der blonde Kopf Walja Grintschuks hervor. Beide schütteln sich vor Lachen über den Anblick, den ich biete: ich sitze mit nichts als einer kurzen Hose bekleidet, die Schuhe an den bloßen Füßen, am Schreibtisch.

Nach ein paar Minuten kehre ich angezogen in das Arbeitszimmer zurück, in dem meine unerwarteten Gäste formlos meine angefangenen Briefe lesen.

“Sieh mal, Waljuscha”, sagt Beljawskij, “wir wissen nicht, wie wir uns aus Moskau losreißen können, er aber vergießt hier Tränen der Sehnsucht danach.”

“Mischa, wie kommt ihr her?” frage ich, immer noch verblüfft über den unerwarteten Besuch.

“Wir sind gestern angekommen. Eine ganze Gruppe aus der Akademie. Man hat uns zu Eurer Unterstützung hergeschickt.”

“Wie sieht es denn in Moskau aus? Was gibt es Neues?” frage ich. “Was kann es dort schon Neues geben. Jetzt ist Deutschland die große Mode. In der Akademie träumen alle nur davon, zum Arbeitseinsatz nach Deutschland zu kommen.”

Beljawskij sieht sich im Zimmer um: “Ja, hier kann man leben. Ihr habt Euch schon daran gewöhnt, bemerkt den Unterschied nicht mehr.”

“Erzähl etwas von Moskau”, bitte ich.

“Ach was, lies die Zeitungen”, wehrt Beljawskij ab. “Ich bin froh daß ich von dort fort bin. Erzähl Du lieber, wie es hier ist.”

“Du wirst schon selbst sehen. Sollen wir heute nach Berlin fahren?” schlage ich vor. “Stürzen wir uns in das dichteste Getümmel.” “Walja und ich waren gerade dabei. Deshalb holen wir Dich auch ab.” “Dann ist alles in Ordnung”, entscheide ich.

Gegen Mittag verlassen wir Karlshorst und setzen uns in die Straßenbahn, die zum Stadtzentrum fährt.

Der Reichstag. Einstmals war dieses massive Gebäude auf dem Hintergrund des Brandenburger Tores für uns das Symbol des Hitlerreiches. “Dem deutschen Volke” glänzen vergoldete mächtige Lettern über dem Eingang des grauen Kolosses. Heute scheinen diese Worte den Deutschen eine bösartige Verhöhnung.

Die Fenster sind mit Ziegeln vermauert, dazwischen Schießscharten! schwarze Rauchspuren von Feuerbränden züngeln an den Mauern hoch. Innen Haufen angesengter Ziegelsteine, Pfützen stinkenden glünlichen Wassers; durch die zerstörte Kuppel scheint blauer Himmel. Der Wind fegt raschelndes Papier, mit schwarzen Adlern geschmückt, zu Haufen zusammen. Halbverschossene Maschinengewehrmagazine, Geschoßhülsen, Gasmasken.

An den Wänden zahllose Inschriften: “Iwan Sidortschuk, aus Kuschtschewka. 14. 5. 1945.” “Simon Vaillant, Paris. 5. 7. 1945.” “John D. Willis, Chicago. 23. 7. 1945.” überall Inschriften, an den Wänden. an der Decke. Manchmal kann man beim besten Willen nicht begreifen, wie der Betreffende an die offensichtlich unzugängliche Stelle gelangt ist, um sich in der Geschichte zu verewigen. Die Inschriften sind mit Kohle, Asche, Bleistift, Kalk geschrieben.

Wie der letzte Schrei eines Ertrinkenden wirkt die Inschrift, die von dem Bajonett eines der Verteidiger des Reichstages eingeritzt ist: “Heil Hitler!” An der gegenüberliegenden Wand ist mit Ölfarbe sorgfältig gemalt: “Hier sch... Sergeant Kostja aus Odessa.”

Tatsächlich, die Luft erinnert an Strophen von Heinrich Heine. Offenbar dient heute der Reichstag vielen Schwarzhändlern als Abtritt. Ja, ein belehrendes historisches Denkmal!

Zwischen dem Reichstagsgebäude und dem Brandenburger Tor, inmitten der Trümmer vergangener Größe brodelt neues Leben. Hier befindet sich der internationale schwarze Markt. Deutsche verkaufen mit ängstlichen Seitenblicken Schirme, Schuhe, alte Kleider. Die Russen interessieren sich hauptsächlich für Uhren, strecken als Gegenwert Zigaretten, Brot, grelle Besatzungsbanknoten entgegen. Nicht weit von uns hält ein amerikanischer Jeep. Die darinsitzenden Soldaten, Neger, eröffnen, ohne auszusteigen, einen munteren Handel. Schokolade, Zigaretten, Seife. Sie leeren ihre Säcke, lachen über das ganze Gesicht und sehen sich um. Einer von den Negern erblickt uns, flüstert seinem Nachbarn etwas zu. Dann wendet er sich mit lebhaften Gebärden an mich, offensichtlich um mir etwas zum Kauf anzubieten.

“What?” frage ich.

Der Neger zieht einen riesigen Armee-Colt unter dem Sitz hervor und hebt zwei Finger hoch – zweitausend. Ich winke ab. Daraufhin weist der Soldat mit dem Finger auf die an meinem Koppel hängende Pistole und erkundigt sich nach dem Preis. Zur augenscheinlichen Verwunderung des Alliierten erkläre ich, daß die Pistole unverkäuflich ist. Jetzt ist die Reihe an der “Leica”, die Beljawskij über der Schulter trägt.

“Was verkauft Ihr denn?” fragt der Neger sachlich. “Nichts”, antworte ich.

“Und was kauft Ihr? Wollt Ihr einen Jeep?” er klatscht mit der Handfläche auf den Sitz seiner Equipage.

Ich lache nur.

Nachdem er seine Neugierde in bezug auf die östlichen Verbündeten auf diese Weise befriedigt hat, wechselt der Soldat mit seinen Kameraden einen kurzen Blick und drückt dann so heftig auf das Gaspedal, daß der Jeep sich wie ein Rennpferd, dem man die Sporen gibt, von der Stelle reißt.

Eine sowjetische Kommandanturpatrouille geht vorüber, zwei Soldaten mit Maschinenpistolen und roten Armbinden. In der Nähe verkauft ein gebrechlicher alter Mann Zeitungen. Er trägt riesige Schuhe an den Füßen. Mit Mühe bewegt er sie, aus Schwäche oder wegen der unverhältnismäßigen Schuhe. Als sich die Patrouille ihm nähert, macht er eine bittende Handbewegung und schmatzt mit runzligen Lippen: “Kamerad, Papyros?” Einer der Soldaten, dem die Bettelei offenbar lästig ist, packt den Alten bedächtig am Kragen und stößt ihn zur Seite. Die rohe junge Kraft hat den Widerstand überschätzt. Der Alte fliegt wie ein hilfloser Lumpensack der Länge nach auf die Fahrbahn, die gigantischen Schuhe bleiben irgendwo hinter ihm, die Zeitungen verteilen sich fächerförmig auf den Steinen. Ein trauriges Bild greisenhafter Kraftlosigkeit.

Beljawskij hat kaum den Mund geöffnet, um den Soldaten zur Ordnung zu rufen, als dieser den Alten erneut am Wickel packt und hochzieht, diesmal in dem Bemühen, ihn wieder auf die Beine zu stellen. Er tut es grob, aber ohne Bosheit. Aus seinen Bewegungen spricht eine Mischung von Ekel und Ärger. Er hat nicht erwartet, daß sein Stoß solche Folgen haben wird. Der Alte hängt wie ein lebloser Sack in den Armen des Soldaten, ohne die Kraft zu haben, sich auf den Füßen zu halten.

“Laß ihn! Komm”, sagt der zweite Soldat.

“Wart... Verdammter Fritz”, schimpft der erste grob, um seine Verlegenheit zu verbergen. “Du Fritz, Hunger?” stößt er den Alten, der sich kraftlos auf einem Haufen Steine niedergelassen hat, mit der Stiefelspitze an. Dieser schweigt und schaut blicklos zu Boden. “Am Ende geht er noch ein”, schimpft der Soldat und sieht sich um, als suche er etwas.

Ein russisches Mädchen in der Uniform eines Sergeanten kommt vorüber, mit einer Tasche in der Hand. In der Tasche sind mehrere Dutzend Päckchen Zigaretten mitten zwischen irgendwelchen Stofffetzen. Unter dem Arm steckt ein Laib Brot – Tauschartikel.

Der Patrouillensoldat reckt die Hand nach dem Brot aus: “Weißt Du nicht, daß es verboten ist, hier zu handeln?”

Das Mädchen in Sergeantenuniform verschwindet erschrocken in der Menge, der Laib bleibt in der Hand des Soldaten. Er kehrt zu dem Alten zurück, der immer noch wie leblos auf den Steinen sitzt. Umstehende haben die Zeitungen aufgelesen und in einem Packen neben ihm hingelegt.

“Du, Fritz!” der Soldat hält dem Alten das Brot hin. Der blinzelt wie ein Blinder verständnislos mit den Augen.

“Ech, daß Dich...” flucht der Soldat von neuem, steckt das Brot in die Zeitungstasche, die der Alte um den Leib gebunden hat, und wendet sich zum Gehen.

Uns verblüfft die Menge alter Frauen und Männer in den Straßenbahnen und auf den Straßen. Die alten Leute sind ordentlich gekleidet, die Passanten behandeln sie achtungsvoll, bieten ihnen ihren Platz in der Straßenbahn an, helfen ihnen über die Straße.

“Ach, diese Gottesmütterchen”, seufzt Beljawskij, als er zwei alte Frauchen in ordentlichen schwarzen Kleidern mit weißen Kragen sieht, die, sich gegenseitig stützend, aus der Straßenbahn steigen. “Bei uns hätten sie schon alle ihre Seele Gott gegeben. Im Zuge der natürlichen Auslese.”

Das, was wir hier sehen, ist für uns nicht neu. Wir wissen, daß man den Alten Achtung entgegenbringen muß. Wir wissen das nicht nur, sondern haben selbst das Bedürfnis, so zu handeln. Und trotzdem müssen wir zugeben, daß wir grob geworden sind, daß wir Höflichkeit und Zuvorkommenheit im Verkehr mit anderen verlernt haben. Das Leben formt das Bewußtsein —so lautet das Dogma des dialektischen Materialismus. Das Sowjetleben verwandelt die Alten in eine Last und führt entsprechende dialektische Richtigstellungen in unser Bewußtsein ein.

Wie ein Hohn klingen die Worte des sowjetischen Liedes: “Bei uns findet die Jugend überall ihren Weg und das Alter Achtung und Ehrfurcht.” Es ist beschämend, ausführlicher darüber zu reden.

Um so beschämender, als man gleich anfangs bei den besiegten Feinden – die man begreiflicherweise als Geschöpfe betrachtet, die, wenn nicht Haß, so doch auch keine Achtung verdienen – plötzlich etwas entdeckt, was jedem kultivierten Menschen Selbstverständlichkeit ist, wozu man sich selbst gedrängt fühlt – und was man doch nicht hat. Einerseits zwingt es, den besiegten Feind höher einzuschätzen, andererseits löst es unangenehme Empfindungen aus, die man keinerlei Lust hat zu analysieren. Letzten Endes sind wir doch die Sieger.

Später, als wir die Verhältnisse in Deutschland näher kennenlernten überzeugten wir uns, daß die Sozialversicherung in Deutschland, wenn sie auch noch so unzureichend erscheinen mag, den Menschen immerhin in Form von Pensionen und Renten ein Lebensminimum sichert, das ihnen ermöglicht, ihren Lebensabend in menschenwürdigen Verhältnissen zu beschließen. Alterspensionen sind in der Sowjetunion ein völlig fiktiver Begriff. Ein Mensch kann praktisch nur dann leben, wenn er bis zu seinem Tode arbeitet oder wenn ihn seine Kinder unterstützen. Wie kann auf der anderen Seite die Hilfe der Kinder aussehen, wenn sie selbst nichts haben? Es gibt schwerlich ein bedrückenderes Gefühl als das der Hilflosigkeit und des Unvermögens, denen zu helfen, die einem das Leben gegeben haben.

Ringsumher schlendern genesende Sowjetsoldaten der Berliner Lazarette. Sie tragen wie Häftlinge gestreifte Hosen und Kittel. Viele von ihnen befassen sich mit Geschäftemacherei, manche scheuen nicht einmal vor einem Raub am hellichten Tage zurück. Einer reißt irgend etwas an sich und flüchtet in die Ruinen, seine Kumpanen decken, mit Krücken und Stöcken fuchtelnd, den Rückzug. Die Invaliden sind bis zum Äußersten erbittert, trinken oft über den Durst und suchen dann Händel. Die Deutschen fürchten sie wie die Pest, selbst die Russen halten sich nach Möglichkeit von ihnen fern.

Mit den Invalidenrenten ist es die gleiche Geschichte wie mit den Alterspensionen. Zum Sterben zu viel, zum Leben zu wenig. Und dafür muß man noch danken: “Unser Glück ist so unermeßlich, daß man es nicht beschreiben kann...” (Worte aus einem sowjetischen Lied). Im besiegten Deutschland bekommen die Kriegsversehrten nach dem verlorenen Krieg höhere Renten, als die Kriegsversehrten des Siegerlandes. Widersinnig, aber Tatsache.

Da beginnt man zu verstehen, weshalb die Krüppel wie Schwärme aufgestörter erbitterter Wespen den Alexanderplatz unsicher machen. Mit Schnaps wollen sie ihrem ausweglosen Elend und ihrem Zorn zu Leibe gehen, durch Streit und Schlägereien ihrem Herzen Luft machen. Und so handeln die Helden des Krieges, deren Brust von Orden funkelt, auf den Märkten in Rußland mit Machorka oder betteln um Almosen. Ach du, teures Vaterland, ihr geliebten Führer...

In den Straßen Berlins sieht man viele Kinder. Schon im ersten Weltkrieg, besonders aber im letzten, maßen die Deutschen der Geburtenziffer große Bedeutung bei. Ludendorff und nach ihm Hitler versuchten seinerzeit mit allen Mitteln, einen möglichen Geburtenrückgang während des Krieges zu bekämpfen. Hauptsächlich dadurch – nicht aus Gründen der Humanität – erklären sich die regelmäßigen Heimaturlaube der deutschen Soldaten. Das Ergebnis haben wir vor Augen.

Uns erscheint das Bild sonderbar, da in der Sowjetunion der Kriegsjahre Säuglinge ein ungewohnter Anblick waren. Während des Krieges gab es in der Roten Armee keinen Urlaub. Nach einer Reihe von Jahren werden sich die sowjetischen Führer einem schwierigen Problem gegenübersehen – die Kurve der Geburtenziffern erreichte in den Jahren 1941-1945 fast den Nullpunkt. Das wird sich dann bemerkbar machen, wenn die Zeit der Einberufung dieser Jahrgänge zum Militärdienst kommen wird.

Berlin liegt in Trümmern. Aber aus den Trümmern strebt neues Leben ans Licht. Gerade auf dem Hintergrund der toten Ruinen springt dieses neue Leben besonders auffallend in die Augen. Der Lebenswille des Menschen ist stärker als die Kräfte der Zerstörung. Uns überrascht die Menge der Blumenläden in den toten Straßen Berlins. An der Ecke ragt das ausgebrannte Gerippe eines Gebäudes in den Himmel, rundum ein Meer von Ruinen. Und inmitten dieser freudlosen Umwelt lächeln uns plötzlich aus den Fenstern eines Hauses die strahlenden Farben unschuldiger Blütenblätter entgegen.

Die Menschen der anderen Welt werden sich vielleicht wundern – was ist das für ein Wilder, hat er noch niemals Blumen gesehen? Daran ist nichts Erstaunliches. Blumen sind in der Sowjetunion eine Art sozial fremden Elements. Welchen Nutzen bringen sie für den Aufbau des Kommunismus? Gar keinen. Also fort mit ihnen auf den Müllhaufen der Geschichte, als Überbleibsel bürgerlicher Mentalität. Eine Ausnahme bilden allerdings die Begräbnisse hoher Sowjetführer und sonstige Sonderfälle wie Empfänge ausländischer Diplomaten und Fotomontagen über das glückliche sowjetische Leben. Manchmal wird einem weh und ärgerlich ums Herz, wenn man solche Kleinigkeiten beachtet und über sie nachdenkt. Wir sind doch die Sieger!

Müde und staubig kehrten wir spät abends nach Karlshorst zurück. Von da an traf ich oft mit Beljawskij und Walja zusammen. Beljawskij hatte eine Stellung im Luftwaffendirektorat des Kontrollrats angewiesen bekommen. Walja arbeitete in der Privatkanzlei des SMA-Oberbefehlshabers Marschall Shukow. Beide waren sehr zufrieden, daß sie beim Hauptstab bleiben konnten und nicht in die Provinz versetzt wurden.

In Moskau hatte ich Walja nur als Studienkameraden gekannt. Hier aber, weit von dem vertrauten Freundeskreis, wurde sie mir plötzlich lieb und teuer als ein Teil dessen, wonach ich mich unbewußt sehnte, ein Teil von Moskau und alledem, was damit zusammenhing. Ich entdeckte an Walja eine seltene Eigenschaft, die mich zwang, ihre Freundschaft noch höher zu schätzen. Walja war ein echtes Naturkind, unberührt von dem Schmutz des Lebens – sie sagt, was sie denkt, und tut, was sie sagt.

An einem der nächsten Sonntage kamen Beljawskij und Walja wieder einmal zu mir.

Als ich Beljawskij erblickte, war ich nicht wenig verblüfft. Vor mir stand ein hocheleganter junger Mann in tadellosem Zivilanzug von hell-kaffeebrauner Farbe. Eine grelle Krawatte und ein heller Filzhut vervollständigten das Bild. Bis dahin hatte ich Beljawskij nur in Uniform gesehen.

“S-s-s! Was hast Du denn vor?” pfiff Ich und betrachtete den Freund von allen Seiten.

“Ich will in die Oper, Walja hat keine Lust. Ich habe also beschlossen, sie Deiner Obhut anzuvertrauen.”

“Bei Gott, Mischa, je näher ich Dich kennenlerne, desto mehr gewinne ich die Überzeugung, daß Du ein prächtiger Bursche bist”, ich kann das Lob nicht zurückhalten, “bringst Walja her und machst Dich selbst aus dem Staube. Schau Walja, hast Du schon jemals einen so uneigennützigen Freund gesehen?”

Wie sehr ich Beljawskij auch zu überreden suche, mit uns durch die Stadt zu fahren, er bleibt unerschütterlich wie ein Fels. “Mir tun noch vom letzten Sonntag die Beine weh”, erklärt er.

Der Tag ist ganz besonders sonnig und warm. Wir setzen Beljawskij an der Friedrichstraße ab und beschließen, aus der Stadt herauszufahren.

Rechts und links ziehen historische Begriffe der Vergangenheit wie Museumsstücke an uns vorüber. Unter den Linden – ein großer Name, umgeben von Ruinen, ohne eine Spur von Grün. Von Geschossen und Bomben zersplittert die Bäume des Tiergartens, in dem die zerstörten Rümpfe abgeschossener Flugzeuge rosten. Die Siegessäule mit dem matt gewordenen goldenen Engel, dem Symbol vergangenen Sieges und Ruhmes des Jahres 1871. Vor uns die breite und pfeilgerade Verkehrsader Ost-West-Achse, die Berlin von Osten nach Westen durchschneidet.

Berlin hat sein eigenes Gesicht. Das Gesicht der Reichshauptstadt. Die Steine Berlins atmen Geschichte. Deutschland hat der Welt Dutzende von Menschen geschenkt, deren Namen jedem zivilisierten Menschen wert sind. Anschaulich zeugen davon die von Kugeln zerrissenen und von Geschoßsplittem zerfetzten Straßenschilder – Mozartstraße, Humboldtstraße, Kantstraße.

Wir biegen auf die Avus ein. Hinter uns bleiben Funkturm, Deutschlandhalle, Rennstadion. Vor uns breitet sich der Grunewald aus.

Walja schaut in die Runde. Den Kopf an das Lederpolster des Sitzes gelehnt blickt sie dann in den Himmel, der wie eine blaue Kuppel über uns hängt, und sagt: “Grischa?” “Ja?”

“Hier scheint die Sonne irgendwie anders...”

“Wie denn?”

“Ich kann es selbst nicht erklären. Man fühlt sich hier sonderbar anders. Sag – spürst Du das nicht?”

“Es ist das Gefühl des Siegers, Waljuscha. Darum scheint Dir die Sonne auch anders.”

“Schön ist es hier”, sagt Walja träumerisch. “Ich hatte solche Sehnsucht nach einem friedlichen Leben. Manchmal möchte ich diese Uniform abwerfen und einfach leben – um des Lebens willen...”

“Was bedrückt Dich?”

“Manchmal bedauere ich, daß ich die Uniform trage. Während des Krieges mußte es sein, aber jetzt... möchte man frei sein... Wie soll ich es Dir erklären...”

“Das erklär Du mal jemand anderem”, lächle ich. “Und dann gebe ich Dir einen guten Rat – vergiß nicht, daß es hier einen Stab der SMA gibt. Dieser Wald ist dunkler und gefährlicher als Deine Partisanenwälder. Sonst fressen Dich noch die grauen Wölfe. Verstehst Du?”

Walja sieht mich prüfend an, schweigt eine Weile und sagt dann mit leiser, ernster Stimme: “Siehst Du, Grischa, manchmal fühle ich mich so einsam, ich habe niemanden, mit dem ich sprechen könnte. Ich liebe alles Gute, und es gibt so wenig davon in unserer Welt.”

Unter den Rädern des Wagens rauscht der Beton der Autobahn. Der graue Pfeil der Avus zerschneidet die herbstliche Pracht des Grunewaldes. Ich nehme den Fuß vom Gaspedal, der Wagen rollt langsam weiter. Um uns breitet sich in lässiger Mattigkeit der goldene Herbst. Unter den Strahlen der Sonne flimmert verschwimmend die Ferne. Die Ferne kommt uns entgegen.

“Sag, woran denkst Du?” flüstert Walja.

“Ich denke daran, wohin wir fahren sollen – nach rechts oder nach links. Irgendwo hier muß der Wannsee sein.”

Der Wannsee ist einer der größten Seen in der Umgebung Berlins. An seinen Ufern liegen schöne, reiche Villen – früher lebten darin die vermögenden Einwohner der Reichshauptstadt. Hier befindet sich auch der größte und modernste Badestrand Berlins.

Wir umfahren den See. Es ist still, fast einsam. Die Straße ist mit Feldsteinen gepflastert, von weitausladenden alten Ahornbäumen bestanden. Man sieht die Steine fast nicht unter dem dicken farbenprächtigen Teppich herabgefallener Herbstblätter.

Links und rechts von Grün umrankte Zäune, alle Tore sind weit geöffnet, die Villen leer, von ihren Besitzern verlassen. Die einen flohen beim Anmarsch der Roten Armee nach Westen, die anderen wurden in neue Wohnungen gleich in der Nähe umgesiedelt – in ehemalige Holzbaracken für Fremdarbeiter.

Ich lenke den Wagen durch das offene Tor einer besonders schönen Villa. Auf dem Kiesweg liegen Hirschgeweihe umher, die einstmals das Herrenzimmer des Hausherrn schmückten, auf den Stufen des Haupteingangs fegt der Wind vom letzten Regen aufgeweichte Papiere zusammen.

Unten am Wasser ist eine kleine, mit quadratischen Kacheln ausgelegte Plattform, Brücken zum Angeln und Anlegestellen für Boote. Gleich daneben rostet das Wellblech einer Motorboot-Garage.

Wir steigen aus und schlendern durch den Park. Hoch über den Köpfen rauschen hundertjährige Bäume. Dazwischen sieht man im Einsturz begriffene Schützengräben, verwickelte Rollen Stadieldraht, Geschoßhülsen. Weiter oben liegt, gekleidet in den farbenfrohen herbstlichen Schmuck wilden Weinlaubes, die Villa unter rotem Ziegeldach.

“Komm, sehen wir uns das Haus an”, schlage ich vor.

Durch die Räume streicht der Wind. Die Dielen knarren unter den Füßen. Gasmasken, Möbelreste, Konservenbüchsen liegen verstreut umher. Im zweiten Stock befand sich einst das Arbeitszimmer des Hausherrn. Auf dem Fußboden rascheln Haufen verblichener Fotogranen, darunter Gesichter schnurrbärtiger Männer in hohen Stehkragen. Diese Leute konnten nicht ahnen, daß über ihre Bilder einmal russische Offiziersstiefel schreiten werden.

“Komm, laß uns fortgehen, Grischa”, zieht Walja mich am Ärmel.

“Es ist nicht schön, in fremde Häuser einzudringen.”

Nach dem Halbdunkel des Hauses scheint die Sonne auf dem Balkon in besonders blendender Helle zu strahlen. Unten dehnt sich die leicht gekräuselte Fläche des riesigen Sees. Unter dem Hauch einer leichten Brise schwankt das Schilfrohr, neigt sich ins Wasser. Der Luftzug geht durch die Kronen der Bäume. Das tote Bild des Zusammenbruchs menschlicher Hoffnungen hinter unserem Rücken – und das ewige unauslöschliche Leben zu unseren Füßen.

Man muß die herbstliche Natur lieben. In ihr ist viel Verwandtes mit unserem Leben. Die Blätter fallen, wie unsere Lebenstage. Die Wolken ziehen vorüber, wie unsere Träume. Schwebende Spinngewebe berühren prickelnd das Gesicht, wie unsere Hoffnungen. Die Luft wird durchsichtig und klar, wie unser Verstand.

Schweigend stehen Walja und ich auf dem Balkon. Wellen herben, berauschenden Duftes entströmen der erhitzten Erde. Mit roten Fingern kriecht der wilde Wein über die Steinbalustrade. Uns streicheln die Strahlen der Sonne, einer so grellen Sonne, wie sie nur der Herbst kennt.

Nach dem Steinchaos Berlins übt die Ruhe und Stille des Grunewaldes auf Walja einen starken Eindruck aus. Ihr Gesicht ist finster, als hätte sie Kopfschmerzen. Ihre Brust hebt und senkt sich krampfhaft, als bekäme sie keine Luft.

“Sag Grischa – was ist Glück?” fragt sie, ohne sich umzuwenden. “Glück? Glück ist die Fähigkeit des Menschen, sich damit zufriedenzugeben, was er hat.”

“Und wenn er gar nichts hat?”

Walja dreht mir ihr Gesicht zu. Ihre Augen sind ernst und sehen mich forschend an, sie fordern eine Antwort. Zwischen ihren Augenbrauen liegt eine Falte.

Ich schweige; ich weiß nicht, was ich antworten soll.

* * *

Ein Mensch, der nach langer Kerkerhaft aus dem Gefängnis herauskommt, kann sich anfangs nicht an die Freiheit gewöhnen, er hat Angst vor der Weite des Raumes. Es gibt dafür einen besonderen Terminus, man nennt es Ärophobie. Das gleiche eigenartige Empfinden hatten auch wir in der ersten Zeit unseres Aufenthaltes im besetzten Deutschland.

Wir erfreuten uns in Berlin ungebundener Freiheit, konnten offen die Sektoren der westlichen Verbündeten aufsuchen. Ein Jahr später hatte man nur noch die Erinnerung an diese Zeit. Uns waren die Türen der alliierten Soldaten- und Offiziersklubs in den westlichen Sektoren geöffnet, jederzeit wurden wir als willkommene Gäste begrüßt. Zu unserer Schande muß zugegeben werden, daß die Gäste sich häufig so benahmen, daß die Hausherren sich gezwungen sahen, vorsichtiger zu werden.

In Karlshorst wurde folgende Geschichte gern gehört und erzählt: Eines Tages verirrte sich ein sowjetischer Soldat, der sich auf der Durchreise in Berlin befand, und geriet irrtümlicherweise in eine amerikanische Kaserne. Die Amerikaner freuten sich riesig über den seltenen Besuch und zogen den zu Tode erschrockenen Iwan herein und nahmen ihm den Tornister ab. Was kann ein sowjetischer Soldat schon in seinem Tornister haben – ein Laib Schwarzbrot und ein Paar Fußlappen. Die Amerikaner setzten den Iwan an einen Tisch, gaben ihm so viel und so gut zu essen und zu trinken, wie er es nie auch nur im Traum erlebt hatte, und behielten ihn am Abend zum übernachten in der Kaserne. Am Morgen stopften sie seinen Tornister voll mit allerhand überseeischen Wunderdingen und brachten ihn ans Kasernenhoftor.

Manche Erzähler berichten, daß der Iwan sich um Aufnahme in die amerikanische Armee bewarb. Aber jeder der Erzähler versicherte bei Gott und allen Heiligen unter Eid, daß sie diesen Iwan unmittelbar vor den Toren der amerikanischen Kaserne getroffen hätten.

Einem jeden von uns ist es aufgefallen, daß die alliierten Soldaten unverhältnismäßig viel besser ausgerüstet sind als die Sowjetsoldaten, daß sie eine viel größere persönliche Freiheit genießen. Nicht ohne Lächeln erzählten sich die im Kontrollrat tätigen Offiziere, daß die amerikanischen Soldaten die gleichen Zigaretten rauchen wie die amerikanischen Generale. In der Roten Armee bekommen Soldaten, Unteroffiziere, Offiziere und Generale – entsprechend ihrem Rang verschiedene Tabak- oder Zigarettensorten zugeteilt. Und das unter dem Zeichen allgemeiner Gleichheit und Brüderlichkeit.

Anfangs lebten wir wie auf einer vergessenen Insel. Da wir als “im Ausland befindlich” galten, wurden uns keinerlei sowjetische Steuern auferlegt, man belästigte uns nicht einmal mit den in der Sowjetunion unumgänglichen freiwilligen Staatsanleihen. Und was schon ganz und gar unbegreiflich ist – wir waren sogar vom Politunterricht befreit und... von dem Studium des größten, weisesten, des jedem Sowjetmenschen am meisten zum Halse heraushängenden Buches, dem “Kurzen Lehrgang der Geschichte der KPdSU (B)”! Stalin beging den größten Fehler, als er den Sowjetmenschen Europa und andererseits Europa die sowjetischen Verhältnisse zeigte. Die Sowjetmenschen begannen das, was sich hinter ihrem Rücken in der Sowjetunion abspielt, viel kritischer zu betrachten. Der Westen verlor, als er das wahre Gesicht des stalinschen Kommunismus erblickte, einen bedeutenden Teil seiner Illusionen und wurde von einigen rosaroten Bestrebungen geheilt. Für beide Seiten war diese Begegnung von Nutzen.

Die ersten Monate der Okkupation waren sehr bezeichnend.

Inmitten des Chaos des zusammengebrochenen Deutschland, inmitten der Trümmer Berlins, im Leben der Menschen, die für uns gestern noch Feinde waren, erblickten wir Dinge, die uns anfangs nur in Erstaunen setzten. Später fingen wir allmählich an, sie richtig einzuschätzen und unsere Ansichten über die Dinge dementsprechend zu ändern.

Man mußte die aus der Zeit des Krieges stammende innere Feindseligkeit gegenüber allem, was mit dem Namen Deutschland zusammenhing, überwinden. Man mußte neue Maßstäbe suchen. Darüber hinaus konnte man aus dem Staub langer Jahre des Hitlerregimes, des totalen Krieges und der bedingungslosen Kapitulation das normale Leben der Deutschen, ja Deutschlands und Europas – all dessen, was den sowjetischen Lebensformen gegenübersteht – nur schwer rekonstruieren.

Den Sowjetmenschen setzte der für ihn unfaßbar hohe Lebensstandard der Durchschnittsmenschen des Westens in Erstaunen. Die Worte des sowjetischen Soldaten, der beim Anblick der Wohnung eines europäischen Arbeiters ausrief: “Du – Kapitalist?!” sind schon Legende geworden. Im Laufe der Besatzungszeit begann der Soldat diese Worte bei der Betrachtung seines eigenen Lebens umgekehrt zu interpretieren. Ein jeder Sowjetmensch, der Europa mit eigenen Augen gesehen hat, ist ein für die Sowjetmacht verlorener Bürger. Er fährt wie ein aufgezogenes Uhrwerk fort, seine Funktionen zu erfüllen, aber das Gift der Erkenntnis der Wahrheit geht nicht spurlos an ihm vorüber.

Mit den Jahren werden sich die Eindrücke der ersten Tage der Begegnung verwischen. Alles wird alltäglicher erscheinen, die Gegensätze an Schärfe verlieren, die Menschen sich an sie gewöhnen. Die Frontsoldaten und -offiziere, die heute das Rückgrat der Besatzungstruppen bilden, werden mit der Zeit von anderen abgelöst werden. Denen, die in die Heimat zurückkehren werden, wird es schwer fallen, ihre Eindrücke von Deutschland mit anderen zu teilen. Wer möchte gern zehn Jahre bekommen – wegen “sowjetfeindlicher Agitation”.

Eines Abends saß ich mit drei anderen Offizieren im halbleeren Speisesaal. Es war neun Uhr abends, das Abendessen war zu Ende, da aber niemand von uns Lust hatte, nach Hause zu gehen, blieben wir am Tisch sitzen, saugten an unseren Biergläsern und führten ziellose Gespräche.

“Ich habe mir die Deutschen ganz anders vorgestellt”, sagt Hauptmann Katz. “Ich dachte, sie seien keine Menschen, sondern...” er schnippt mit den Fingern, ohne einen passenden Ausdruck finden zu können.

“Gestern war ich in Treptow”, fährt er fort. “Ein Karussell gab es da, verschiedene Schiffsschaukeln. Und wissen Sie, ich geriet in Erstaunen – die Deutschen sind doch tatsächlich ein fröhliches Volk. Alt und jung belustigte sich auf dem Karussell. Steckten mich an – ich stieg auch drauf.”

Bezeichnend, daß jedem von uns ein und dieselben Dinge auffallen.

In der Tat entspricht das, was wir in Berlin sehen, in keiner Weise unserer früheren Vorstellung von den Deutschen. Das einfache deutsche Volk benimmt sich viel ungezwungener und sorgloser, sagen wir ruhig fröhlicher, als die entsprechenden Bevölkerungsschichten in der Sowjetunion. Man könnte annehmen, daß die Deutschen heute wirklich nichts zu Lachen haben. Und trotzdem sehen wir, daß sie sorgloser sind als wir – die Sieger. Das sowjetische Leben hat unseren Seelen seinen Stempel aufgedrückt.

“In Treptow ist es noch nicht mal so lustig”, nickt Major Shdanow mit dem Kopf. “Ich geriet dieser Tage einmal in den französischen Sektor. Interessant und doch irgendwie ängstlich war mir, immerhin als einziger allein unter Fremden. Dort war auch ein Jahrmarkt mit allerlei Belustigungen. Franzosen mit ihren Mädchen. Es war so lustig, daß mir ganz sonderbar zumut wurde, irgendwie wehmütig und sehnsüchtig.”

Der Major gießt Bier aus der Flasche ein und fährt dann fort: “Einen von uns habe ich dort auch getroffen – total betrunken, ohne Mütze, die Pistole irgendwo und zwei Weiber unterm Arm. Auch eine Belustigung. Nutzt die endlich gewonnene Freiheit auf seine Weise.”

“Der Wodka ist eine großartige Sache!” lächelt Leutnant Berens. “Laß einen halben Liter durch die Kehle rinnen – und du fühlst dich wie ein König. Du hast im französischen Sektor vor irgend etwas Angst gehabt, der aber hatte vor nichts Angst.”

“Der Wodka macht den Menschen frei”, spinnt er weiter. “Wenn ein Mensch sich im Leben als Sklave fühlt, versucht er in der Betrunkenheit die ihm sonst vorenthaltene Freiheit nachzuholen – er prügelt, zerschlägt Geschirr, benimmt sich wie ein Rowdy – fühlt sich dabei stärker als die anderen, glaubt, er wäre frei.”

“Du hast wohl selbst schon mehr intus, als nötig”, bemerkt Katz. “Heil den Siegern!” erhebt Berens sein Glas. “Gott sei Dank, daß wenigstens der Wodka frei ist.”

Die erste Begegnung mit dem besiegten Feind hat uns in vieler Hinsicht die Augen geöffnet – wir begannen unseren Platz in der Welt zu erkennen. Wir fühlten unsere Stärke und unsere Schwäche. Die Eindrücke der ersten Nachkriegsmonate stellen im Lichte der nachfolgenden Ereignisse eine eigene Etappe im Leben der sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland dar. Es war eine Art vorüberfliegender Periode einer Nachkriegs-Demokratie.

Niemand von den Sowjetmenschen empfand den Sieg so, wie wir – die Menschen der Besatzungstruppen. Wir blickten dem Sieg ins Gesicht, wir sonnten uns in seinem Licht.

Gleichzeitig erweckten der Sieg und die Begegnung mit dem Westen in uns alte Zweifel wieder und erzeugten neue. Diese Zweifel verstärkten ihrerseits den Wunsch, das Verlangen und die Hoffnung nach etwas anderem, nach etwas, das wir auch vor dem Kriege nicht kannten. Unter den Strahlen des Sieges lebten wir von der Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Die kurze Periode der Nachkriegs-Demokratie ließ noch Hoffnungen zu. Das kann man nur rückblickend verstehen.


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