Die “Douglas S-47” dreht eine Spirale. Unten breitet sich, soweit das Auge reicht, ein Ruinenfriedhof aus. Ich blicke auf die Uhr. Wir müssen schon über Berlin sein. Das Bild da unten gleicht eher einer Reliefkarte als einer Stadt. In den schrägen Strahlen der untergehenden Sonne werfen die ausgebrannten Skelette der Mauern scharf abgegrenzte Schatten.
Als wir uns in den Straßen Berlins schlugen, konnten wir das ganze Ausmaß der Zerstörungen nicht erkennen. Jetzt aber, aus der Höhe, sehe ich Berlin als tote Stadt daliegen. Ausgrabung assyrischer Vorzeit. Weder Menschen in den Straßen noch fahrende Autos. Nur ausgebrannte Steinkästen ohne Ende, die aus leeren Fensterhöhlen gähnen.
Ich habe Berlin aus Büchern kennengelernt. In meiner Vorstellung war es eine Stadt, in der die Züge pünktlicher sind als die Uhr und alle Menschen aufgezogenen Uhrwerken gleichen. Wenn Paris für mich die ewig Jubelnde war, Wien mir als das unbeschwert Singende erschien, so stellte ich mir Berlin als die ewig Finstere vor, eine Stadt ohne Lächeln, eine Stadt in der den Menschen der Begriff l'art de vivre unbekannt ist.
Persönlich kennen lernte ich Berlin im April 1945. Zu der Zeit, in der das Blut rascher durch die Adern strömte, wie die Dichter sagen. Damals strömte das Blut tatsächlich rascher durch die Adern. Aber es war keine Liebe, die es zum rascheren Strömen brachte, sondern Haß. Und es strömte nicht nur in den Adern, sondern auch über das Steinpflaster der Berliner Straßen.
Die erste Begegnung erinnerte in gewisser Weise an amerikanische Wildwestgeschichten. Alle Mittel waren recht, um einander totzuschlagen. Ein toter Soldat, der auf der Straße lag, flog bei der leisesten Berührung in die Luft und rächte sich so noch im Tode an den Siegern. Minenfallen! Auf einzelne Soldaten wurde mit Panzerfäusten geschossen, die an sich für die Bekämpfung von Panzern bestimmt waren. Und die russischen Panzer stürmten, ungeachtet der Verkehrsvorschriften, die Treppen in die Berliner Unterwelt der U-Bahnschächte hinab und tanzten in der Dunkelheit einen rasenden Tanz, nach allen Seiten Feuer sprühend. Krieg bis “fünf Minuten nach zwölf!”
Früher hatte ich nie auch nur davon geträumt, Deutschland oder Berlin jemals mit eigenen Augen zu sehen. Das lag für einen Sowjet-nienschen zu weit außer dem Bereich des Möglichen. Der Krieg hat die Grenzen verwischt. Der Krieg warf die Menschen in den Strudel des Lebens, der Zeit und des Raumes. Und dann stand ich, eines der Sandkörnchen in diesem gewaltigen Strudel der Geschichte, in Berlin, das so gewöhnlich und so alltäglich ist in seinen Trümmern, im dröhnenden Kampfgetümmel.
Heute kehre ich nach Berlin zurück, um, wie es in der Sprache der offiziellen Dokumente heißt, Deutschland in Übereinstimmung mit den Abmachungen zwischen den Siegermächten zu demilitarisieren. Ein Major des Sanitätsdienstes betrachtet durch das runde Nebenfensterchen das langsam heranschwimmende Bild Berlins. Sein Gesicht ist nachdenklich und drückt Bedauern aus. Er wendet sich zu pur und sagt: “Diese Menschen haben doch nicht schlecht gelebt. Was, fragt man sich, wollten sie denn noch?” Anscheinend bewegen ihn die gleichen Gedanken wie mich.
Flughafen Adlershof. Am Rande des Flugfeldes strecken wie riesige Heuschrecken die Junkers mit dem spinnenförmigen Hakenkreuz auf dem Rumpf ihre Schwänze in die Luft. Jetzt sind sie endgültig gelandet. Ober dem Gebäude der Flugplatzverwaltung reckt sich eine kahle Fahnenstange in den Himmel. Im Büro bringt der wachhabende Dispatcher, ein Fliegerhauptmann, es fertig, gleichzeitig drei Telefone zu bedienen und einen Artillerieoberst zu beruhigen, dessen Frontfrau irgendwo im Luftraum zwischen Moskau und Berlin verloren gegangen ist. “Ja, ja... Die Hälfte ist schon verladen... Die zweite kommt morgen mit zwei Douglas... Begleitpapiere sind dabei...” schreit er abwechselnd in die Hörer der Telefone und an den ungeduldigen Artilleristen gewendet.
Ein Mann in der Uniform eines Oberstleutnants kommt auf den neben mir stehenden Fliegerleutnant zu. Anscheinend hat er zu den niedrigeren Rängen mehr Vertrauen. Fünf Schritt eher als nötig legt er die Hand an den Mützenrand und erkundigt sich bescheiden mit ausgesucht höflichem Lächeln: “Seien Sie so freundlich, Genösse Leutnant, können Sie mir vielleicht sagen, wo sich hier die Wirtschaft Bugrow befindet?” (Zu jener Zeit wurden die meisten Truppenteile verabredungsgemäß als “Wirtschaft” in Verbindung mit dem Namen des Truppenkommandeurs bezeichnet).
Er spricht flüsternd, als verrate er ein Geheimnis.
Der Leutnant blickt verblüfft auf die Schulterstücke des Oberstleutnants, offensichtlich bemüht festzustellen, ob er einer akustischen oder optischen Täuschung zum Opfer gefallen ist. Dann betrachtet er den Oberstleutnant verständnislos vom Kopf bis zu den Füßen. Der Oberstleutnant gerät in noch größere Verlegenheit und fügt schuldbewußt, im Ton eines ratlosen Intellektuellen hinzu: “Sehen Sie, wir sind befehlsgemäß hergekommen, wissen aber nicht, wohin wir weiter zu fahren haben.”
Der Leutnant sperrt wie ein Fisch auf dem Trockenen den Mund auf, dann klappt er ihn wieder zu. Was ist das für eine Vogelscheuche? Am Ende ein verkleideter Diversant?
Auch ich fange an, mich für den Oberstleutnant zu interessieren. Er trägt eine neue Soldatenuniform, neue Soldatenstiefel und ein Soldatenkoppel. Jeder richtige Offizier hätte eher ein deutsches Beutekoppel als ein Soldatenkoppel angelegt. Auf den Schultern des Oberstleutnants prunken funkelnagelneue grüne Prontschulterstücke. Üblicherweise zogen es richtige Offiziere selbst an der Front vor, goldene Schulterstücke zu tragen – seit Beendigung des Krieges war es vollends schwer, einen Frontoffizier aufzutreiben, der Frontschulterstücke trug. Auf dem Rücken des Oberstleutnants baumelte offensichtlich ungewohnt ein Tornister. Die Offiziere lieben gewöhnlich Tornister nicht und entledigen sich ihrer bei passender Gelegenheit. Das Koppel des Oberstleutnants hängt irgendwo unter den Hüften, eine Herausforderung für jeden Sergeanten der Sowjetarmee. Die ganze Uniform hängt an ihm wie ein Sack und paßt zu ihm wie ein Sattel zur Kuh. Unter dem linken Arm hat er einen neuen, steifen Soldatenmantel ungeschickt eingeklemmt, als fürchtete er, er könnte ihm gestohlen werden. An der Seite trägt er einen achtunggebietenden Nagan in einer Segeltuchtasche. Der Mensch beabsichtigt zweifellos in vollem Ernst zu kämpfen! Und dann – was ist das für ein Ton im Verkehr mit einem Leutnant? Ein echter Oberstleutnant wird vorschriftsgemäß niemals einen Leutnant zuerst grüßen. Wenn er ihn braucht, wird er den Leutnant kurzerhand zu sich befehlen. Ohne “Seien sie so freundlich...”
Nicht weit von uns steht eine Gruppe ebenso komischer Geschöpfe, behängt mit Tornister und Koffern, an die sie sich eifrig klammern, als befänden sie sich auf dem Bahnhof in Moskau. Ich wende mich an den Fliegeroffizier und frage, indem ich auf den Oberstleutnant und seine Begleiter weise: “Was sind das für Typen?”
Dieser lächelt und antwortet: “Demonteure. Sie sind dort so eingeschüchtert worden, daß sie hier Angst haben, sich zu rühren. Selbst auf die Toilette schleppen sie ihre Koffer mit. Wovor haben diese Narren Angst? Hier in Deutschland wird nicht gestohlen, hier wird einfach genommen. Dafür sind sie doch hierhergekommen. Als Obersten und Oberstleutnante hat man sie verkleidet, dabei sind sie im Leben nicht in der Armee gewesen. Versetzen mit ihren Schulterstücken die Soldaten in Panik und erschrecken selbst noch mehr dabei. Und bringen zu allem Überfluß auch uns noch durcheinander.”
“Im übrigen sind sie aber harmlose Kerle. Ziehen allerdings Deutschland die letzten Unterhosen aus”, fährt er fort. “Ihre Kollegen, die schon einige Zeit hier sind, haben sich so gut eingelebt, daß sie, zusammen mit demontierten Einrichtungen, sogar Kühe per Flugzeug nach Hause schicken. Von Gasherden und Klavieren ganz zu schweigen. Ich arbeite auf der Strecke Moskau—Berlin. Habe genug gesehen!”
Unser Gespräch wird durch ein sonderbares Motorengeräusch unterbrochen. In der Nähe stößt, am ganzen Leibe zitternd, ein kleiner offener Wagen blaue Auspuffgaswolken aus. über den Kotflügeln wehen dreieckige rote Wimpel. Am Steuer sitzt ein untersetzter Major und hantiert verwegen an den Schaltern und Pedalen herum. Sein Nacken ist rot von der ungewohnten Arbeit. Er gibt einige wilde Hupensignale – ob er damit nun Hilfe herbeirufen oder die Umstehenden auffordern will, sich zur Vermeidung übler Folgen weiter von der Maschine zu entfernen. Er versucht den Wagen in Gang zu bringen, indem er entweder sofort den vierten oder den Rückwärtsgang einschaltet. Der Wagen springt krampfhaft auf der Stelle, ohne zu begreifen, was man von ihm will. Arme Zahnräder! Gegen menschliche Dummheit wird euch auch kein Kruppstahl helfen! Schließlich reißt sich das unglückliche Opfer von der Stelle und verschwindet in Wolken von Rauch und Staub, wobei es unterwegs um ein Haar den Betonklotz umstößt, der vor dem Tor zum Flughafen in die Erde eingerammt ist.
Ich wende mich wieder an den Fliegerleutnant: “Was war denn das für ein Affe?”
Der Leutnant schweigt eine Weile, als sei der Gegenstand nicht der Rede wert. Dann entgegnet er widerwillig mit der Verachtung, die Menschen der Luft gegenüber Infanteristen an den Tag legen: “Gaunerbande – Kommandantur. Ausgerechnet die wollen hier Sauberkeit und Ordnung einführen”. Nachdem er überlegt hat, wie er seiner Geringschätzung Leuten gegenüber noch deutlicher Ausdruck geben könnte, die ihre Wagen mit roten Fähnchen schmücken, fügt er hinzu: “Vor dem Kriege hat er irgendwo in einem Kolchos Kartoffeln gebuddelt. Zehn solcher Tölpel haben ins Gras gebissen, ein Narr hat Glück gehabt – tut sich heute als Major groß. Und gibt an. Will sich für sein ganzes bisheriges Hundeleben entschädigen. Wenn ihm die Schulterstücke erst abgenommen sind, wird er wieder Kühe hüten”. Er verstummt, hält das Thema wohl für erschöpft.
Nach einiger Zeit gelingt es uns, mit dem Hauptstab der Sowjetischen Militär-Administration – SMA – telefonische Verbindung zu bekommen und ein Auto anzufordern. In der Dämmerung des Sommerabends fahren wir nach Karlshorst – der Residenz der SMA – hinaus.
Der Hauptstab der Sowjetischen Militär-Administration in Deutschland hat sich in den Gebäuden der ehemaligen Pionierschule in Karlshorst, einem Berliner Vorort, einquartiert. Einen Monat vorher fand hier die Unterzeichnung eines der bemerkenswertesten historischen Dokumente unserer Zeit statt. Am 8. Mai 1945 unterzeichneten die Vertreter des Alliierten Oberkommandos, Marschall Shukow und Luftmarschall Tedder einerseits und die Vertreter des deutschen Oberkommandos anderseits im Saal des Gebäudes, in dem sich heute die Abteilung des Politberaters befindet, die Urkunde über die bedingungslose Kapitulation der deutschen Streitkräfte zu Lande, zu Wasser und in der Luft. Hier schwang Feldmarschall Keitel zum letzten Mal in seinem sinnlosen preußischen Hochmut seinen Marschallstab, bevor er das ruhmlose Ende des hitlerischen Imperiums durch seine Unterschrift besiegelte.
Mehrere dreistöckige kasernenmäßige Gebäude, ungleichmäßig auf einem Hof verteilt, der von einem gußeisernen Gitter umgeben ist. Ein charakteristischer stiller Vorort des Berliner Ostens. Wie in der Mehrzahl der europäischen Hauptstädte ist es der proletarische Teil der Stadt. Von hier aus werden wir Deutschland umerziehen.
* * *
Am Tage nach meiner Ankunft in Karlshorst stelle ich mich dem Chef der Kaderabteilung der SMA, Oberst Utkin, vor. Im Arbeitszimmer des Obersten knalle ich nach allen Regeln der Dienstvorschrift zackig die Hacken zusammen, reiße die Hand an die Mütze und melde: “Major Klimow auf Befehl der Kader-Hauptverwaltung des RKKA meldet sich zur Stelle. Gestatten Sie, meine Papiere vorzulegen, Genösse Oberst?”
Zeigen Sie her, was Sie haben", winkt der Oberst mit der Hand. Ich hole aus der Feldtasche meine Papiere heraus und reiche sie dem Oberst. Nachdem er das sorgfältig versiegelte umfangreiche Paket geöffnet hat, beginnt er, meine zahlreichen Zeugnisse und Fragebogen durchzublättern.
“Sie waren auch in der Militär-Diplomatischen Akademie? Wir haben schon ein paar Mann von dort”, sagt der Oberst halblaut und fragt dann: “Welchen Kursus haben Sie besucht?”
“Ich habe die Akademie mit dem Staatsexamen absolviert”, antworte ich.
“Hm... hm... Wie haben Sie das so schnell gemacht?”
“Ich wurde sofort in den letzten Kursus aufgenommen, Genösse Oberst.”
“Ah, so... Unter Zuerkennung des Titels «Referent des diplomatischen Dienstes»”, liest der Oberst weiter. “Unter diesen Umständen haben wir genug Arbeit für Sie. Wo würden Sie gerne arbeiten?”
“Dort, wo ich am meisten Nutzen bringen kann”, antworte ich.
“Nun, zum Beispiel in der Rechtsabteilung – neue Gesetze für Deutschland herausgeben. Oder in der Abteilung des Politberaters? Übrigens wird das zu langweilig sein”, sagt der Oberst, ohne meine Antwort abzuwarten. “Und was würden Sie zur Verwaltung für Staatssicherheit sagen?”
Die Ablehnung eines so ehrenvollen Angebots wäre gleichbedeutend mit dem Eingeständnis der eigenen Unloyalität oder mit Selbstmord. Doch die Arbeit in der Geheimpolizei lockt mich wenig, ich bin schon aus dem Alter heraus, in dem man sich für Detektivgeschichten begeistert. Ich versuche den Boden für einen unauffälligen Rückzug zu sondieren: “Worin würde meine Arbeit dort bestehen, Genösse Oberst?”
“Im Grunde ist es die gleiche wie in der Sowjetunion. Ohne Arbeit werden Sie nicht sitzen. Eher umgekehrt.”
Ich weiß nicht, ob dem Oberst sein eigenes Wortspiel auffiel, oder ob es ein unfreiwilliges war. Auf jeden Fall ist das “umgekehrt sitzen” eine recht häufige Erscheinung unter den Mitarbeitern des MWD. Besser schon nicht zu “setzen” und nicht zu “sitzen”, denke ich und entgegne:
“Genösse Oberst, wenn Sie mich nach meinem Wunsche fragen, so glaube ich, daß es am zweckmäßigsten wäre, mich auf dem Gebiet der Industrie einzusetzen. Im Zivilberuf bin ich nämlich Ingenieur.”
“Auch das können wir brauchen. Wollen mal schauen, was wir für Sie finden können.”
Der Oberst wühlt in seinen Personallisten herum und nimmt dann den Telefonhörer ab: “Genösse General? Entschuldigen Sie die Störung”, der Oberst strafft seinen Rücken und zieht die Schultern zurück, als stehe er vor dem unsichtbaren General. Er liest ihm die Angaben aus meinen Personalpapieren vor und sagt abschließend: “Sie wünschen also, ihn sofort persönlich zu sehen? Jawohl!” Darauf wendet er sich an mich: “Na, also. Kommen Sie. Ich werde Sie dem Stellvertreter des Oberbefehlshabers für Wirtschaftsfragen vorstellen.”
So gelangte ich am zweiten Tage meiner Anwesenheit in Karlshorst in das Arbeitszimmer General Schabalins.
Ein riesiger, mit Teppichen ausgelegter Raum. Vor den Fenstern ein Schreibtisch von der Größe eines Fußballplatzes. An diesen T-förmig herangeschoben ein zweiter langer Tisch, bedeckt mit rotem Tuch – der Konferenztisch; untrennbarer Bestandteil der Arbeitszimmer hoher Funktionäre.
Hinter dem Schreibtisch ein ergrauter Kopf. Quadratisches energisches Gesicht. Tief eingefallene graue Augen. Der Typ eines willigen Vollstreckers, nicht aber eines Intellektuellen. Unter den Generalsschulterstücken auf dem dunkelgrünen Rock eine unbedeutende Anzahl von Ordensbändchen, dafür auf der rechten Brustseite ein rot-goldenes Abzeichen in der Form eines Fähnchens: “Mitglied des ZK der KPdSU (B)”. Also kein Frontgeneral, sondern alter Parteifunktionär.
Der General studiert in aller Ruhe meine Personalpapiere, reibt sich dann und wann die Nase, zieht an seiner Zigarette, als wäre ich gar nicht da.
“Wie ist es... Sind Sie zuverlässig?” fragt er unerwartet und schiebt die Brille auf die Stirn, um mich besser zu sehen.
“Wie die Frau Cäsars, Genösse General”, entgegne ich.
“Sprechen Sie russisch. Ich liebe keine Rätsel”, der General drückt die Brille wieder auf die Nase und macht sich an die weitere Durchsicht meiner Personalpapiere.
“So, und warum sind Sie immer noch nicht Parteigenosse?” fragt er, ohne die Augen von den Papieren zu erheben.
“Aha, das Abzeichen meldet sich”, denke ich und sage laut: “Ich fühle mich noch nicht beschlagen genug, Genösse General.”
“Die alte Intelligenzler-Ausrede. Wann werden Sie sich denn beschlagen genug fühlen?” ertönt die Stimme hinter dem Schreibtisch.
Ich antworte im typischen Parteijargon: “Ich bin parteiloser Bolschewik, Genösse General”. In allen heiklen Fällen ist immer der beste Ausweg, sich durch ein beliebiges geflügeltes Wort Stalins abzuschirmen. Solche Formulierungen sind undiskutabel und rufen keine weiteren Fragen hervor.
“Haben Sie eine Vorstellung von Ihrer künftigen Arbeit?” erfolgt die nächste Frage.
“Insofern sie die Industrie anbelangt, Genösse General.”
“Kenntnisse auf dem Gebiet der Industrie allein genügen hier nicht. Haben Sie die Zulassung zur Arbeit an Geheimsachen?”
“Alle Absolventen unserer Akademie erhalten diese Zulassung automatisch.”
“Wo wurde sie Ihnen ausgestellt?”
“Im GUK des RKKA (Russische Abkürzung für Kader-Hauptverwaltung der Roten Armee) und in der Auslandsabteilung des ZK der KPdSU (B).”
Diese Worte machen Eindruck auf den General. Er vergleicht die Papiere, fragt nach meiner bisherigen Arbeit in der Industrie und nach meinem Dienst in der Roten Armee. Anschließend, anscheinend befriedigt von dem Ergebnis sagt er: “Sie werden mit mir im Kontrollrat arbeiten. Gut, daß Sie Sprachen kennen. Meine Fachleute haben keine Ahnung von Sprachen, und die Dolmetscher haben keine Ahnung von Fachdingen.”
Danach erhalte ich vom General die erste Instruktionsstunde.
“Sie haben noch niemals im Ausland gearbeitet?”
“Nein.”
“Sie müssen sich im voraus, ein für alle Mal, merken, daß alle Ihre künftigen Mitarbeiter im Kontrollrat Agenten der kapitalistischen Spionagedienste sind. Also – keinerlei persönliche Bekanntschaften, keine Privatgespräche. Ich nehme an, daß Sie das wissen, möchte Sie aber noch einmal daran erinnern. Reden Sie so wenig wie möglich. Hören Sie dafür um so mehr zu. Wer zuviel redet, dem reißen wir die Zunge mit der Wurzel aus. Bei uns haben alle Wände Ohren. Denken Sie daran.”
Er unterstreicht seine väterliche Belehrung durch einen vielsagenden Blick. Ich drücke mein volles Einverständnis aus. Dabei denke ich im stillen: “Immerhin, die Ausdrucksweise ist bezeichnend. Offenbar hat er reiche Erfahrung in MWD-Arbeit.”
“Sehr möglich, daß man versuchen wird, Sie für einen ausländischen Spionagedienst anzuwerben. Was werden Sie in einem solchen Falle tun?!” fragt der General.
“Ich werde darauf eingehen”, entgegne ich, “vorher natürlich tüchtig feilschen, um glaubwürdige Verhältnisse zu schaffen.”
“Nun, und dann?”
“Dann melde ich die Sache meiner vorgesetzten Behörde. In diesem Falle – Ihnen.”
“Spielen Sie?” fragt der General weiter. “Nein.”
“Trinken Sie?”
“In den Grenzen des Erlaubten.”
“Na, das ist ein dehnbarer Begriff. Und wie steht es mit Frauen?”
“Ich bin Junggeselle.”
“Wenn man Sie anschaut, Major, – der reinste Jesus Christus.” Der General zieht den blauen Rauch seiner Zigarette tief ein, bläst ihn dann nachdenklich zur Seite. “Schlimm, daß Sie unverheiratet sind.”
Ich verstehe seine Worte besser als er denkt. In der Akademie herrschte ein strenges Gesetz. Junggesellen wurden niemals zur Arbeit im Ausland zugelassen. Die besetzten Länder bildeten allerdings eine Ausnahme. Sehr häufig wurden einzelne Offiziere mitten im Schuljahr zum Chef der Akademie gerufen und erhielten gleichzeitig mit ihrer Abkommandierung ins Ausland den Befehl – die Ehe einzugehen. Das war eine übliche Erscheinung, so daß Leute, die eine Abkommandierung ins Ausland voraussahen, sich zeitig nach passenden Ehekandidaten und – Geiseln umsahen.
“Nun also, Major”, sagt der General abschließend. “Seien Sie vorsichtig mit diesen Burschen im Kontrollrat. Sie befinden sich hier in vorderster Linie der Nachkriegsfront. Jetzt gehen Sie und machen Sie sich mit meinem Chefadjutanten bekannt.”
Als ich den Griff der mit Filz und Wachstuch bespannten Tür in die Hand nehme, fragt der General: “Wie sind Sie in diese Akademie geraten?” Er genehmigt sich zum ersten Mal ein leichtes Lächeln, um damit anzudeuten, daß diese Frage rein privaten Charakter trägt.
Ich fühle, daß sie den General mehr interessiert, als er zu zeigen bemüht ist. “Am Ende im Sonderauftrag”, denkt der General. “Dann kann man sich in die Nesseln setzen.”
Ich berichte, daß ich auf Grund meiner Frontbewährung ausgewählt wurde. Das befriedigt General Schabalin und er entläßt mich. Ich gehe aus dem Arbeitszimmer in das Vorzimmer des Generals hinaus, in dem hinter dem Schreibtisch ein Mann in der Uniform eines Majors sitzt.
Der Chefadjutant des Generals erkennt wohl an meinem Gesicht, daß die Audienz erfolgreich zu Ende gegangen ist und streckt mir die Hand entgegen: “Major Kusnezow.”
Nach kurzer Unterhaltung frage ich ihn, worin die Arbeit im Apparat des Generals eigentlich besteht.
“Meine Arbeit besteht darin, bis drei Uhr nachts zusammen mit dem Hausherrn den Stuhl zu drücken. Ihre Arbeit – Sie werden schon selbst sehen”, erwidert Major Kusnezow mit einem Lächeln. Bald hatte ich Gelegenheit, die Arbeit der Dienststelle des Stellvertretenden SMA-Oberbefehlshabers kennenzulernen. Dabei fielen mir unwillkürlich seine Anweisungen ein, im Verkehr mit den Alliierten größte Wachsamkeit walten zu lassen.
Eines Morgens flog die Tür zum Arbeitszimmer des Generals ungestüm auf; heraus stürzte ein flinker kleiner Mann in der Uniform eines Majors: “Genösse Klimow? Der General läßt Sie für einen Augenblick zu sich bitten.” In der Art des kleinen Majors lag etwas, was gewöhnlich Menschen eigen ist, die an peinlich ordentliche Arbeit gewöhnt sind.
Der General nahm aus den Händen des unbekannten Majors einen Aktendeckel mit Schriftstücken entgegen und reichte ihn mir: “Untersuchen Sie die Papiere. Holen Sie sich eine Stenotypistin, die die Zulassung für Geheimsachen hat und diktieren Sie ihr den Inhalt des vorliegenden Materials. Die Arbeit muß im Raum der Geheimabteilung gemacht werden. Die Kopie dürfen Sie nicht fortwerfen, sondern nach Abschluß der Arbeit abliefern. Sobald Sie fertig sind, machen Sie mir Meldung.”
Im Vorzimmer fragte ich den Adjutanten im Vorbeigehen: “Was ist das für ein Major?”
“Major Filin. Arbeitet in der «Täglichen Rundschau»”, antwortet dieser.
Ich schloß mich im Zimmer der Geheimabteilung ein und begann, den Inhalt des Aktendeckels zu studieren. Ein Teil der Papiere war englisch, ein Teil deutsch. Irgendwelche Tabellen, Zahlenkolonnen. Vorne lag ein Blatt in russischer Sprache bei. In der Ecke der rote Stempel “Geheim”. Der unbekannte Berichterstatter meldete:
“Der Nachrichtendienst stellte folgende Umstände der Entführung der ehemaligen Mitarbeiter des Reichsinstituts für Wirtschaftsstatistik, Professor D. und Dr. N., durch Agenten des amerikanischen Spionagedienstes fest. Bei den obenerwähnten deutschen Wissenschaftlern erschienen Agenten des amerikanischen Spionagedienstes und forderten diese auf, ihnen einige Angaben für die amerikanischen Behörden zu machen. Die Deutschen, die im Sowjetsektor Berlins leben, weigerten sich, der Aufforderung nachzukommen. Daraufhin wurden sie gewaltsam entführt und kehrten erst nach mehreren Tagen nach Hause zurück.
Nach ihrer Rückkehr wurden Prof. D. und Dr. N. von unserem Nachrichtendienst verhört und machten folgende Angaben:
“In der Nacht zum... Juli wurden wir durch Offiziere des amerikanischen Spionagedienstes gewaltsam entführt und mit einem Flugzeug in das Stabsquartier der amerikanischen Wirtschaftsspionage in Wiesbaden gebracht. Dort wurden wir drei Tage lang von Offizieren des Spionagedienstes verhört... (Es folgt eine Namensaufzählung). Die Tatsachen, für die sich die amerikanischen Nachrichtenoffiziere interessierten, sind in der Anlage beigefügt.”
Beigefügt waren ferner Tabellen von Materialien des Reichsinstituts für Wirtschaftsstatistik. Dieses Material war in vielen Exemplaren vervielfältigt und enthielt keine großen Geheimnisse. Es diente offenbar vor der Kapitulation dem innerdeutschen Gebrauch. Ungeachtet dessen, daß sie “gewaltsam entführt” wurden, nahmen die Deutschen dieses Material vorsorglich aus den Archiven des Instituts mit und übergaben je eine Kopie den Amerikanern, später mit der gleichen Vorsorglichkeit je eine zweite Kopie den Russen. Interessanter waren die Schriftstücke in englischer Sprache. Oder richtiger nicht die Schriftstücke als solche, sondern die Tatsache ihres Vorhandenseins. Es waren Kopien der Protokolle über die Verhöre der deutschen Professoren in Wiesbaden und Kopien des gleichen Materials des Instituts, das schon in deutscher Sprache vorlag, jetzt allerdings in englischer Sprache.
Unser Nachrichtendienst traute den Angaben der Deutschen nicht übermäßig und 'befolgte die übliche Methode der über-Kreuz-Kontrolle. Die amerikanischen Dokumente waren weder mit Stempel, noch mit Nummern oder Begleitadressen versehen. Diese Dokumente kamen von Amerikanern, jedoch nicht auf offiziellem Wege. Folglich hat unser Nachrichtendienst seine unsichtbaren Fäden zum amerikanischen Zentrum der Economical-Intelligence. Major Filin ist tatsächlich an peinlich ordentliche Arbeit gewöhnt. Die “Tägliche Rundschau” befaßt sich mit einer merkwürdigen Art Journalistik. Wenige Tage später traf aus dem amerikanischen Hauptquartier in Berlin-Zehlendorf ein an General Schabalin adressiertes umfangreiches Paket ein. Zu dieser Zeit war der Kontrollrat praktisch noch nicht in Funktion und die Verbündeten begannen gerade, Fühlung miteinander aufzunehmen.
In dem beigefügten Begleitschreiben teilten die Amerikaner höflich mit, daß sie auf Grund des vorgesehenen Austausches von Wirtschaftsinformationen der Sowjetseite einiges Material über die deutsche Wirtschaft zur Kenntnis bringen wollten. Ich fand hier die gleichen Tabellen, die Major Filin unter Anwendung größter Vorsicht und “gewaltsamer Entführung” beigebracht hatte. Dieses Mal mit allen notwendigen Stempeln, Adressen und einer Liste der Empfänger versehen.
Das Material war viel vollständiger als die Akten Major Filins. Dort, wo bei uns der Stempel “Geheim” verwendet wurde, sahen die Amerikaner offenbar keinerlei Geheimnisse und teilten ihr Wissen freundschaftlich mit der Sowjetseite.
Ich betrat das Arbeitszimmer des Generals und zeigte ihm die Schriftstücke mit dem Absender: “Economical Intelligence Division.” Der General sah das bekannte Material durch, kratzte sich nachdenklich mit dem Bleistift hinter dem Ohr und sagte: “Wollen die
uns etwa ihre Freundschaft aufdrängen? Tatsächlich, dasselbe Material." Dann murmelte er durch die Zähne: “Das ist bestimmt ein Trick. Sie sind sowieso alle Spione.”
* * *
Die Verwaltung für Wirtschaft des Stabes der SMA hat sich im Gebäude des ehemaligen deutschen Krankenhauses “St. Antonius” niedergelassen. Das Krankenhaus ist nach den modernsten technischen Erfordernissen gebaut; es liegt eingebettet in dem Grün eines kleinen Parkes, der es vor neugierigen Blicken und Straßenlärm schützt. Der Park erweckt den Eindruck ungebändigter Natur. Unter den Füßen raschelt vorjähriges Laub. Gegenüber dem Eingang zur Verwaltung neigen sich die von Früchten schweren Zweige wilder Zwergapfelbäume zu Boden.
Mischa, der Fahrer des Generals, wälzt sich in Erwartung seines Herrn neben seinem Wagen faul im Grase herum. Er streckt die Hand aus und pflückt aus Langeweile einen der knallroten kleinen Äpfel.
“Genösse Major, kommen Sie doch einmal her, ich zeige Ihnen was!” ruft er, als ich vorbeigehe.
“Schauen Sie mal dorthin”, er weist mit dem Finger in die Krone eines hohen Baumes. “Sehen Sie, es sitzt direkt am Stamm.”
Ich versuche, etwas zu entdecken, sehe aber nichts als die Strahlen der Sonne, die durch die Zweige des Baumes scheinen.
“Sie werden gleich sehen”, flüstert Mischa. Er erhebt sich vorsichtig, hebt einen kleinen Stein vom Boden und schleudert ihn in die dunkelgrüne Baumkrone. Aus dem Dickicht der Blätter erhebt sich ein großer Vogel und fliegt, in aller Ruhe die Flügel schwingend, auf den nächsten Baum.
“Haben Sie gesehen, Genösse Major?” schüttelt Mischa den Kopf.
“Hat keine Angst, das Teufelsvieh. Ist wohl nicht gewohnt, daß man es mit Steinen schmeißt.”
“Was ist denn das?” frage ich.
“Eine wilde Taube”, sagt Mischa. “Der delikateste Vogel. Er wundert sich sicher, wenn man Steine nach ihm wirft. Bei den Deutschen herrscht Ordnung. Wenn du einen Stein nach einem Vogel schmeißt, gleich hat dich der Polizist am Wickel. Bei sich zu Hause verstehen sie es, für Ordnung zu sorgen...”
Dann, als wäre ihm gerade etwas Interessantes eingefallen, zieht er mich mit sich: “Kommen Sie, Genösse Major. Ich zeige Ihnen noch was!” Wir gehen um das Haus herum. Mischa führt mich zu einem mit dichtem Gebüsch bestandenen Hügel. Knirschender Kies auf dem Weg zwischen den Sträuchern. Der Pfad erweitert sich plötzlich zu einem kleinen Platz. Die Äste über unseren Köpfen verflechten sich und bilden eine Laube. Die durch das dichte Blätterwerk fallenden Sonnenstrahlen schaffen ein eigenartiges Spiel von Licht und Schatten.
Es erinnert an eine Kapelle in der Einsamkeit eines weltverlassenen Waldes. Zwischen moosbewachsenen Steinen rieselt Wasser. Die Rinnsale vereinigen sich zu einem winzigen Bächlein. Es plätschert gehorsam und verschwindet irgendwo zwischen den Sträuchern. Ich suche nach der Quelle und finde eine Wasserleitung, getarnt zwischen Steinen und Moos.
Der Hügel ist künstlich angelegt, macht aber den Eindruck eines Spieles der Natur, einer Natur, die das Herz mit Stille und Ruhe labt. Hier wähnt man sich weit entfernt von irdischer Geschäftigkeit und Sorge.
Im Mittelpunkt dieses Naturaltars ist eine ovale Nische aus Stein gemeißelt. Aus der Tiefe leuchtet, den Kopf in stillem Gram über die sündige Welt zur Seite geneigt, die helle Gestalt einer Madonna mit dem Kind. Ich entziffere auf dem Sockel eine halbverwischte lateinische Inschrift. Ein Schwerkranker, der einstmals in diesem Krankenhaus lag, hinterließ aus Dankbarkeit für seine Genesung zur Erbauung der einen und zum Trost der anderen den Ausdruck jener Gefühle und Gedanken, die ihn beherrschten, als er auf der Grenze zwischen Leben und Tod stand.
“Was ist das, Genösse Major? Beten die Deutschen hier?” fragt Mischa. Er spricht mit leiser Stimme, wie man in der Kirche oder auf dem Friedhof spricht.
“Ja, sie beten”, sage ich. “Wenn der Tod kommt, erinnert sich jeder an Gott.”
Ich erkläre ihm die Bedeutung der Inschrift auf der Madonnenstatue.
“Wissen Sie was, Genösse Major?! Wie soll ich es Ihnen sagen. Ich weiß nicht warum, aber es ist schön hier. Schön, daß ein Mensch nicht vergaß – daß er Gutes mit Gutem vergalt. Offenbar haben auch die Deutschen eine Seele.”
In diesem Augenblick wird Mischa gerufen und läuft eilig zu seinem Wagen. Ich wende mich dem Hause zu.
In dem Gebäude der Verwaltung für Wirtschaft, deren Chef General Schabalin ist, sind die der Verwaltung angehörenden Abteilungen untergebracht – die Abteilung Industrie, Handel und Versorgung, Wirtschaftsplanung, Landwirtschaft, Transport und Wissenschaft und Technik. Außerdem befinden sich in zwei anderen nahegelegenen Gebäuden die Abteilung Reparation unter der Leitung General Sorins und die Verwaltungsabteilung des Generals Demidow. Auch diese beiden gehören zur Wirtschaftsverwaltung und unterstehen General Schabalin. Die Verwaltungsabteilung befaßt sich nur mit den inneren Angelegenheiten der SMA in ganz Deutschland. Die Abteilung Reparation, die größte von allen Abteilungen der Verwaltung für Wirtschaft, erfreut sich einer gewissen Autonomie und unterhält über General Schabalin hinaus direkte Verbindung mit Moskau. General Sorin ist ein Wirtschaftsgeneral, der vor dem Kriege in Moskau einen hohen Posten in der Wirtschaft innehatte.
Die Verwaltung für Wirtschaft des Stabes der SMA ist das eigentliche Wirtschaftsministerium der deutschen Sowjetzone, das höchste Organ, das das gesamte wirtschaftliche Leben der Sowjetzone leitet. Seit die Kampfhandlungen abgeschlossen sind, besteht die Hauptarbeit in der wirtschaftlichen “Besitzergreifung” Deutschlands. Wenn man das gelbe Gebäude der Wirtschaftsverwaltung betrachtet, das unter den Strahlen der Sommersonne friedlich zu träumen scheint, kann man sich nur schwer die großen Aufgaben vorstellen, die dieser Behörde zu lösen aufgetragen sind. Es gilt, die Wirtschaft Deutschlands, die hochentwickeltste Europas, vollständig auf den Kopf zu stellen.
Als ich in Karlshorst eintraf, bestand der persönliche Stab General Schabalins im ganzen aus zwei Menschen – dem Adjutanten Major Kusnezow und dem Chef der Privatkanzlei, Winogradow. Vorgesehen war ein Stab von annähernd fünfzig Personen.
Im Personalverzeichnis des Stabes wurde ich als Experte für Wirtschaftsfragen geführt. Da der Stab erst im Entstehen begriffen war, hatte ich ganz andere Aufgaben zu erfüllen, als meiner Dienststellung entsprachen. Ich begleitete den General auf allen seinen Reisen als Adjutant, während der eigentliche Adjutant Kusnezow den General in der Verwaltung vertrat, da er durch jahrelange gemeinsame Arbeit mit den Dienstgeschäften des Generals gut vertraut war. Er war mit dieser Regelung sehr unzufrieden und brummte: “Sie fahren mit dem General durch die Gegend und trinken Schnaps, und ich kann für Sie die Arbeit machen!” Viele Abteilungschefs zogen es vor, ihre Dienstgeschäfte mit Kusnezow zu entscheiden und warteten daher mit der Erledigung, bis der General wieder auf Reisen ging. Kusnezows Unterschrift genügte, um einen Befehlsentwurf Marschall Shukow zur Unterschrift vorzulegen.
Als ich Kusnezow einmal fragte, was Winogradow eigentlich für ein Mensch sei, antwortete er kurz: “Gewerkschaftler”.
“Nun, aber sonst?” bohrte ich weiter.
“Gewerkschaftler und sonst nichts. Weißt Du am Ende nicht, was ein Gewerkschaftler ist?” sagte Kusnezow mit scheelem Seitenblick. Bald konnte ich mich selbst davon überzeugen, was ein “Gewerkschaftler” ist. Erstens ist Winogradow Zivilist. Er läuft ständig mit geschäftiger Miene durch die Korridore und fuchtelt dabei mit irgendwelchen Papieren in der Luft herum. Als ich mir solche Blätter einmal betrachtete, stellte ich fest, daß es Listen von Leuten waren, denen eine spezielle zivile Ausstattung für ihre Arbeit im Kontrollrat zustand. An erster Stelle prunkte der Name Winogradows selbst, obwohl er mit dem Kontrollrat nichts zu tun hatte.
Winogradows Gruß gleicht nicht dem normaler Menschen. Für einfache Sterbliche hat er stets die Stachanow-Begrüßungsformel “Sdorowo” auf Lager. Für Kusnezow und mich, im Verein mit einem Händeschütteln – “Grüß Euch! Was gibts Neues am Horizont?”, für den General ein kriecherisches “Sdrawja shelaju!”, obwohl diese Grußformel nur unter Militärs üblich ist.
Äußerlich ist Winogradow kein Mensch, sondern ein Vulkan. Bei näherem Zusehen erkennt man aber, daß die ganze übersprudelnde Geschäftigkeit des “Chefs der Privatkanzlei” sich in der Verteilung von Stoffen, Rationen, alkoholischen Getränken, Wohnungen und ahnlichem Kleinkram erschöpft. Bei der Verteilung aller dieser Herrlichkeiten geht Winogradow von der Überlegung aus, welcher Gegenwert von dem Beglückten herauszulocken ist. Der “Gewerkschaftler” führt die Personalakten, befaßt sich mit der Partei- und Verwaltungsarbeit, und steckt überdies seine Nase in jeden Winkel. Nicht Winogradow, sondern Ministerrat. Tödliche Angst hat er nur vor einem – vor jedweder wirklicher Arbeit.
Winogradow ist über vierzig Jahre alt. Einmal kamen mir seine Personalpapiere in die Hände. Kuszenow hat recht – “Gewerkschaftler” und sonst nichts. Sein Leben lang hat er organisiert – einmal irgendwelche Brigaden, dann Artele, Enthusiasmus oder auch Stacha-now-Rummel. Bildung hat er überhaupt keine, dafür aber Energie, Frechheit und Einbildung im Überfluß. In anderen Ländern pflegen solche Leute gewöhnlich beim Beruf eines Handlungsreisenden, Impresario oder Zirkusausrufers zu landen. In der Sowjetunion spielen sie keine geringe Rolle im Staatsapparat, wo sie als eine Art Schmieröl der schwerfälligen Maschine dienen, indem sie um fiktive Begriffe wie Gewerkschaften, Stoßarbeit, sozialistischer Wettbewerb und Enthusiasmus einen Tanz ums goldene Kalb arrangieren. So ein hohlköpfiger Schwätzer rennt wie ein Hund um eine Herde Schafe und jagt die Herde durch sein schallendes Gebell in die gewünschte Richtung.
Wenig später wurde Hauptmann Bystrow als Leiter der Geheimabteilung eingestellt. Die ersten Tage nach seinem Dienstantritt schlief Bystrow auf dem Tisch im Raum der Geheimabteilung, wobei er seinen Mantel als Decke benutzte.
Später bekamen wir den Grund dieser sonderbaren Art des Schlafens heraus. In der Geheimabteilung gab es keinen Safe und der General zwang den Hauptmann, um den Ränken der internationalen Spione einen Strich durch die Rechnung zu machen, die seinem Schutz anvertrauten Geheimdokumente als Kopfkissen zu benutzen. Hauptmann Bystrow behandelte Winogradow mit unverhüllter Geringschätzung, obwohl dieser eine höhere Dienststellung hatte.
Eines Abends traf mich der Hauptmann auf der Straße.
“Gehen wir zu Winogradow!” schlug er mir vor.
“Was sollen wir da?” fragte ich erstaunt über den ungewöhnlichen Vorschlag.
“Komm, komm... Da gibts was zu lachen! Nicht mal im Theater kriegst Du ähnliches zu sehen”, zwinkerte der Hauptmann mir zu.
“Hast Du ihn noch nie nachts getroffen?”
“Nein.”
“Er stöbert alle Nächte hindurch wie ein Schakal in Karlshorst herum, sucht in den leeren Wohnungen allerhand Plunder zusammen. Gestern erwischte ich ihn gerade im Morgengrauen – schleppt da irgendwelche Fetzen über den Hof, ganz voller Staub und Spinnweben, alles zu sich in die Wohnung. Es ist das reinste Museum.” Um den neuen Kollegen nicht durch eine Absage zu kränken, ging ich mit.
Winogradow machte die Tür einen Spaltbreit auf, runzelte die Stirn als er Bystrow sah und fragte: “Na, was hoffst Du hier Neues zu sehen?”
“Mach auf, mach auf”, stemmte sich Bystrow gegen die Tür. “Prunk ein bißchen mit Deinen eingesammelten Schätzen!”
“Hol Dich der Teufel”, protestierte Winogradow. “Ich bin schon dabei, ins Bett zu gehen.”
“Du – und plötzlich schlafen?” sagte Bystrow mit offenem Hohn.
“Nicht möglich – solltest Du wirklich schon ganz Karlshorst durchgestöbert haben?”
Schließlich ließ Winogradow uns ein. Seine Wohnung bot wirklich einen bemerkenswerten Anblick. Eher ein Warenhaus als eine Wohnstatt. Möbel gab es hier mindestens für drei Wohnungen.
Der Hauptmann suchte mit den Blicken nach Dingen, die er noch nicht gesehen hatte. Ein abgeschlossenes Büffet erregte seine Aufmerksamkeit: “Was hast Du hier?”
“Ach, nichts! Es ist leer”, sagte Winogradow.
“Mach mal auf!”
“Ich sage Dir doch, es ist leer!”
“Mach auf, sonst breche ich es auf”, Bystrow zielte mit dem Stiefel gegen die polierte Tür des Büffets.
Winogradow weiß genau, daß es dem Hauptmann nicht darauf ankommt, seine Worte wahr zu machen. Widerwillig holt er einen Schlüssel und schließt auf. Das Büffet ist voller Geschirr. Geschirr aller Art, offensichtlich aus verschiedenen leeren Wohnungen zusammengeholt.
“Soll ich es zusammenschlagen?” bot der Hauptmann an. “Du kannst ja immerhin klagen gehen! Soll ich?”
“Was bist Du für ein verrückter Kerl! So etwas Wertvolles – und zusammenschlagen? Geh lieber schlafen!” versuchte Winogradow seinen übermütigen Gast zu besänftigen.
Ich sah schweigend zu. Dieses Gewerkschaftssprachrohr schreit am lautesten von Kultur, von Fürsorge für den Menschen, von unseren hohen Aufgaben. Und gleichzeitig ist er der gewinnsüchtigste Marodeur, dessen ganzes Denken und Trachten auf persönliche Bereicherung beschränkt ist. Solche Leute hat das Sowjetsystem erzeugt und erzogen.
“Nun, zeig noch mehr von Deinen Reichtümern!” forderte Bystrow. “Was denn für Reichtümer”, zierte sich Winogradow. “Aber wenn Du Lust hast, sieh Dir diesen Kronleuchter an.”
“Wieviel Nächte hast Du nicht geschlafen, bis Du ihn ausfindig gemacht hast?” fragte der Hauptmann. Dann ging er in den Flur und betrachtete einen über einem Kleiderbügel hängenden Mantel mit Samtkragen, der, nach der Machart zu urteilen, aus Bismarcks Zeiten stammen mußte.
“Was ist denn das?” Der Hauptmann zupfte das Museumsstück am Ärmel.
“Langsam, langsam!” zischte Winogradow. “Zerreiß ihn nicht!” “A-a-ach! Ist auch was!” Der Hauptmann zog mit aller Kraft. Der Ärmel riß mit lautem Krach. Der Hauptmann griff nach dem Samtkragen.
“Was tust Du?” jammerte Winogradow mit weinerlicher Stimme.
“Ich wollte ihn meinem Bruder schicken.”
“Wenn Dein Bruder auch so ein Lumpensammler ist wie Du”, der Hauptmann setzte sein Zerstörungswerk fort und riß den Kragen ab, “dann braucht er so einen Dreck nicht”.
“Aber nein... Er ist arm...”
“Bei uns gibt es keine Armen”, belehrte ihn Bystrow. “Bei uns sind alle reich. Hast Du das am Ende vergessen? Und das will ein Gewerkschaftler sein?”
Der Hauptmann versenkte seine Hand in eine in der Ecke stehende Kiste und zog daraus mehrere blaue Pappkartons heraus. Er zerriß die Umhüllung und brach in lautes Lachen aus. Auch ich konnte mich vor Lachen nicht halten.
“Wozu brauchst Du denn das?” Der Hauptmann steckte Winogradow ein rosa Bündel hygienischer Damenartikel unter die Nase, “für alle Fälle?”
Erst nach langen überredungsversuchen gelang es mir, den außer Rand und Band geratenen Hauptmann aus Winogradows Wohnung herauszubringen.
In den ersten Tagen meines Aufenthaltes in Karlshorst hatte ich keine Zeit, nach rechts und links zu blicken. Je weiter die Wochen aber verstreichen, desto mehr lerne ich die Verhältnisse kennen.
Karlshorst lebt aus Gründen der Wachsamkeit in einem halben Belagerungszustand. Das ganze Gebiet ist von einer dichten Kette von Wachposten umzingelt. Nach neun Uhr abends ist jeglicher Verkehr auf den Straßen, selbst für Militärs, verboten. Nur in dringenden Fällen wird die entsprechende Parole bekanntgegeben, die der Stab jeden Abend neu erläßt. Ich muß mich oft mit dem General bis zwei, drei Uhr morgens im Dienst aufhalten. Wenn wir uns nach Hause begeben, erschallt aus der Dunkelheit alle fünfzig Meter die Stimme eines unsichtbaren Postens: “Stoj! Parole?”
Der General lebt in einem kleinen Einfamilienhaus gegenüber dem Hauptstab. Hier befinden sich die Wohnungen der meisten SMA-Generale. Die Bewachung ist hier noch strenger, man braucht besondere Propuske.
Später, als wir mit den Zuständen in Karlshorst vertrauter geworden waren, mußten wir häufig lachen über die Mischung von unvorstellbarer Strenge und Wachsamkeit und einer ebenso unvorstellbaren Sorglosigkeit und Lässigkeit. Die Vorderfront des Stabes der SMA, in dem sich das Arbeitszimmer Marschall Shukows befand, war vorschriftsmäßig bewacht. Dafür begannen an der Hinterfront Sandwüsten, die in der Nähe an einen dichten Wald grenzten. Hier war überhaupt keine Wache. Ein Mensch, der die Zustände in Karlshorst kannte, konnte eine ganze feindliche Division ohne jeden Propusk und ohne Parole direkt bis vor die Tür des Marschalls bringen.
Major Kusnezow und Fahrer Mischa haben sich im Häuschen neben dem General einquartiert. Unter einem Dach mit dem General lebt der ewig finstere Sergeant Nikolai. Er erfüllt die Pflichten eines Burschen, obwohl es in der Sowjetarmee keine Burschen gibt. Außer Nikolai lebt noch das Dienstmädchen Dusja beim General, eine zwanzigjährige ehemalige Ostarbeiterin.
Einmal frage ich Dusja, wie es ihr bei den Deutschen ergangen sei. Sie antwortet seltsam zurückhaltend: “Natürlich schlecht, Genösse Major.” Sie sagt es zwar aufrichtig, aber aus ihren Worten klingt etwas Unausgesprochenes. Zweifellos ist sie genau wie alle übrigen Repatrianten froh über unseren Sieg, aber es ist da irgend etwas, was ihre Freude verdüstert.
Manchmal marschieren Gruppen junger Burschen unter Bewachung bewaffneter Soldaten durch Karlshorst. Sie tragen schwarz gefärbte sowjetische Soldatenuniformen. Es sind Arbeitsbataillone aus ehemaligen Ostarbeitern, die hier Bauarbeiten ausführen. Sie sehen freudlos aus. Sie wissen, daß sie nach ihrer Rückkehr in die Sowjetunion nichts Gutes erwartet.
Abgesehen von der Treskow-Allee, durch die eine Straßenbahnlinie führt, und einigen großen Gebäuden, die von den verschiedenen Abteilungen des Stabes der SMA besetzt sind, besteht Karlshorst in der Hauptsache aus kleinen Einfamilienhäusern, die in dem Grün der Bäume hinter den Gitterzäunen versinken. Hier lebte vorwiegend die Mittelschicht der deutschen Bevölkerung. Äußerlich sind diese Häuser schlicht und kunstlos—glatte betonierte Würfel unter roten Ziegelhauben. Dafür übertrifft die Innenausstattung, die Dinge, die man als Wohnkultur bezeichnet, bei weitem alles, woran die Sowjetmenschen gewöhnt sind. Wir haben in Karlshorst das Empfinden, daß alle Dinge ungewöhnlich neu sind. Die Türen tragen zwar häufig die Spuren von Bajonetten und Gewehrkolben, aber die Griffe baumeln nicht, die Angeln kreischen nicht, die Schlösser schließen. Selbst die Stufen und das Geländer blitzen von frischer Farbe, als wären sie für unseren Empfang neu gestrichen.
Kein Wunder, daß uns die deutschen Häuser durch ihre scheinbare Neuheit auffallen. Denn die meisten Häuser in der Sowjetunion sind seit dem Jahre 1917 kein einziges Mal renoviert worden.
Meine ersten Tage in Karlshorst verbrachte ich in dem Gasthaus für neuankommende SMA-Angehörige. Dann, nachdem ich die Verhältnisse kennengelernt hatte, ging ich einfach in ein leeres Haus, das versteckt im Grün der Bäume und blühender Sträucher lag. Im Häuschen war alles noch so, wie seine Bewohner es verlassen hatten. Winogradow war hier anscheinend noch nicht gewesen. Hier quartierte ich mich ein.