Gregory Klimow. Berliner Kreml. Kapitel 01

Militärakademie

1.

“Kli-i-imow!” dringt eine Stimme wie aus weiter Ferne durch das grobe Tuch des Soldatenmantels in die bleierne Müdigkeit des Soldatenschlafs.

Nein, – es ist sicher nur ein Traum. So warm ist es unter dem bis über die Ohren gezogenen Mantel. Das Lager aus frischgebrochenen Zweigen unter dem Zeltdach ist so weich und gemütlich. Natürlich träume ich nur!

“Hauptmann Kli-i-imow!” schallt es wieder durch die nächtliche Stille. Irgend jemand spricht halblaut auf den Posten ein, der zwischen den schlafenden Zeltreihen auf und ab geht.

Man kann verhältnismäßig leicht ohne Nahrung auskommen, ohne Schlaf ist es bei weitem schwerer. Eines Morgens, als ich mich selig gähnend gereckt und die am Gürtel hängenden Handgranaten ge-ordnet hatte, warf ich einen interessierten Blick auf meine nächtliche Ruhestätte. Als ich in der vorhergehenden Nacht in das zerstörte Gebäude kroch, war ich in der Dunkelheit tastend auf einen Haufen harter Gegenstände gestoßen, hatte ihn etwas gleichmäßiger auseinandergeworfen und mich dann zum Schlafen hingehauen. Ich weiß nicht mehr, wovon ich damals träumte, am Morgen jedenfalls stellte ich fest, daß ich inmitten eines auseinandergerissenen Haufens Spreng-patronen geschlafen hatte. Während das Gebäude unter feindlichem Beschuß erzitterte, schnarchte ich friedlich auf einer ganzen Tonne Dynamit! Ja, es ist ein großartiges Ding, der Frontschlaf!

“...Befehl, unverzüglich im Stabe der Front zu erscheinen”, spricht die Stimme erneut auf den Posten ein, und dann ein lautes: “Hauptmann Kli-i-imow!”

Teufel! Der Frontstab versteht keinen Spaß. Der holt einen selbst unter der Erde hervor. Ich werfe den Mantel ab, der mir als Decke dient. Feuchte, vom Dunst des nahen Sumpfes geschwängerte Luft, vermischt mit dem allgegenwärtigen spezifischen Soldatengeruch, schlägt mir entgegen. Unsichtbare Mücken summen. Bemüht, die Schlafenden nicht zu stören, krieche ich rückwärts aus dem Zelt.

“Was ist?!” ächze ich, noch halb benommen vom Schlaf. “Wen ruft man hier eigentlich? Klimow etwa?”

“Genösse Hauptmann, eine Ordonnanz aus dem Frontstab”, meldet der Posten aus der Dunkelheit.

“Wo ist der Mann? Was ist los?”

“Genösse Hauptmann, ein Befehl für Sie”, ein Sergeant im Lederhelm reicht mir ein längliches Schriftstück.

"Hauptmann G. P. Klimow ist ab 17. Juli 1944, acht Uhr zur Kaderführung beim Stabe der Leningrad-Front abkommandiert", lese ich beim Schein der Taschenlampe. Darunter eine handschriftliche Notiz des Kommandeurs der KUKS (KUKS = Kursy usowerschienstwowanija kommandnogo sostawa Leningraoskogo Fronta = Fortbildungskurse für das Kommandopersonal der Leningrad-Front.) “Befehle sofortigen Abmarsch”.

“Hm, das kann interessant werden! Wenigstens nicht umsonst aus dem Schlaf gerissen”, denke ich und frage den Sergeanten: “Haben Sie noch etwas auszurichten?”

“Es ist mir befohlen, Sie unverzüglich zum Stab zu führen”, entgegnet er, indem er auf den Starter der Beiwagenmaschine tritt.

Im Beiwagen vergesse ich schnell meine Müdigkeit. Wir rütteln über die Schlaglöcher des verwahrlosten Waldweges, setzen vorsichtig über baufällige kleine Bohlenbrücken, passieren ein halbverbranntes, von allen Lebewesen verlassenes Dorf. Gegen den lichter werdenden Himmel dunkeln Schornsteine und von Artilleriebeschuß zersplitterte Dachbalken. Die Räder des Motorrads mahlen im Sand; gleichmäßiges Wiegen, Motorgeheul; dann überqueren wir schwankend einen grasüberwucherten Graben und spüren voller Erleichterung das glatte Band der asphaltierten Leningrader Chaussee unter uns.

In dem leichten Morgennebel, der sich in Schwaden über der dampfenden Erde ausbreitet, tauchen in Reih und Glied ausgerichtet die Häuschen der Vorstadt aus dem Grün der Bäume auf. In spiegelnder Glätte flimmern wie Pfützen kleine Seen und zahllose Sümpfe. Dazwischen die bleichgelben Flecke der sandigen Dünen. Am Horizont strecken sich die Schlote der Leningrader Fabriken und Werke gen Himmel. Schnurgerade fliegt uns das gleichmäßige, hellgraue Band der Chaussee entgegen.

Was mag es mit dieser nächtlichen Anforderung zum Stab auf sich haben? Umsonst wird mitten in der Nacht kein Kurier hinausgehetzt, um irgendeinen Mann im Sumpf aufzustöbern. Um diese Zeit werden meine Zeltnachbarn wach. Wenn sie meinen leeren Schlafplatz sehen, werden sie sich zunächst einmal freuen, daß man mich geholt und niemanden von ihnen. Dann aber erfahren sie, daß ich zum Frontstab berufen bin, kratzen sich nachdenklich hinter den Ohren und wechseln unsichere Blicke.

Die Fortbildungskurse des Kommandopersonals der Leningrad-Front – KUKS – bei denen ich heute dank der Fügung des Schicksals Dienst tue, sind eine ziemlich eigentümliche Militäreinheit, “Anti-quitätenladen”, wie die Kursusteilnehmer sie nennen.

Man kann hier verhältnismäßig junge Leute mit Barten und Schnurrbärten von reichlich seltsamen Formen antreffen. Diese finsteren Typen pflegen selbst in der heißesten Jahreszeit Pelzmützen zu tragen – die “Kubanka” mit der roten Seidenlitze, das Abzeichen der Partisanen, schief auf ein Ohr gerückt. Es sind die ehemaligen Offiziere und Kommandeure der Partisanenabteilungen, denen der Partisanengeist ausgetrieben und die Armeedisziplin eingeimpft werden soll.

Kurz nach der Befreiung Leningrads aus der Umklammerung der Blockade im Januar 1944 feierte die Stadt in feierlicher Parade den Einmarsch der Partisanen des Leningrader Gebiets. Bereits einen Monat darauf wurden in aller Eile einige Spezialbrigaden des NKWD zur Entwaffnung der übereifrigen Waldkrieger nach Leningrad beordert. Die Partisanen benahmen sich in der Stadt wie die Eroberer einer feindlichen Festung und gebrauchten gegenüber den Milizionären, die sie zur Ordnung zu bringen versuchten, mit Vorliebe Handgranaten und Maschinenpistolen. Sie betrachteten die Milizionäre als ihre Erbfeinde und prahlten in aller Öffentlichkeit, wie viele solcher “Ljagaschej (Die verächtliche Bezeichnung eines Polizisten in der Sowjetunion) sie geschnappt hätten.

Nach der Parade und der anschließenden Entwaffnung wurden die Partisanen ohne besonderes Aufsehen in Viehwagen verfrachtet und in Speziallager der NKWD gebracht. Die Zeitungen verherrlichen zwar die “wilden” Partisanen als patriotische Nationalhelden; wenn sie sich aber aus ihren Wäldern ans Licht der Öffentlichkeit wagen, werden sie zu allererst vor das durchdringend scharfe Auge der NKWD zitiert. Womit habt ihr euch eigentlich befaßt, Bürger Partisanen?

Die regulären, aus Teilen der Roten Armee gebildeten Partisanenabteilungen und die halbregulären, die über Vertreter aus den Kommandozentren und über zentrale Rundfunk- und Flugzeugverbindungen verfügen, sind eine Sache für sich. Wer sich aber in den Wäldern herumschlug und lediglich zu Beutezügen herauskam, wenn “Samogon” (Samogon = Selbstgebrannter Schnaps) und Speckvorräte zu Ende gingen... dem Gnade Gott! Dem hilft selbst kein rotes Band um die Stirn. Die fürsorgliche NKWD wusch die Partisanen in sieben Wassern, bevor sie sie der regulären Armee zuteilte, während sie die Kommandeure der Partisanenabteilungen zur Umschulung in die KUKS schickte, ähnlich den KUKS der Leningrad-Front.

In den KUKS treffen häufig rätselhafte Worte mein Ohr.

“Woher bist Du – aus der «Achten»?” fragt einer.

“Nein, – aus der «Neunten»” antwortet widerwillig ein anderer.

Es stellt sich heraus, daß die «Achten» und die «Neunten» Sturmbataillone der Leningrad-Front sind. So heißen die Offiziers-Straf-bataillone, in denen Offiziere als einfache Soldaten dienen und als solche in den Kampf geschickt werden. Wenn sie mit dem Leben davonkommen, erhalten sie ihren alten Offiziersrang wieder. Wenn sie mit dem Leben davonkommen... Die Verluste der Sturmbataillone betragen gewöhnlich bei jeder Kampfhandlung 90 bis 95 Prozent des Bestandes.

Als die Rote Armee zum Angriff überging und begann, die von den Deutschen besetzten Gebiete zu befreien, wurden alle in diesen Gebieten angetroffenen Sowjetoffiziere zusammengefaßt und, ähnlich den Partisanen, in Speziallager der NKWD abgeschoben. Diejenigen, die die NKWD nicht für würdig hielt, den Tod am Galgen fürs Vaterland zu erleiden, schickte sie nach einer solchen “Vorwäsche” in die nächste Abteilung der “Reinigungsanstalt” – die Sturmbataillone. Dort wurde ihnen Gelegenheit genug geboten, ihre Schuld gegen-über dem Vaterland mit ihrem Blut zu sühnen. Kämpft erst einmal! Nach dem Krieg wird man dann Zeit finden, sich näher mit euch zu befassen.

Die überlebenden der blutigen Feuertaufen wurden in der Regel direkt aus dem Lazarett – die Entlassung aus einem Sturmbataillon konnte man buchstäblich einzig und allein mit dem Preis vergossenen Blutes erkaufen – zur endgültigen Umerziehung in die KUKS geschickt. Ich habe bei meinen Kameraden in den KUKS häufig Soldbücher aus den Sturmbataillonen gesehen, in denen gleich hinter dem Vermerk “Soldat” oder “Infanterist” die Bezeichnung “Regimentskommissar” oder “Schwadronskommandeur” stand.

Ja, interessantes Menschenmaterial gibt es in unseren KUKS! Praktisch sind sie eine dauerhafte Reserve für die Leningrad-Front. Um die Offiziere nicht verfetten oder tatenlos herumlungern zu lassen, läßt man sie dort allen Ernstes Soldat spielen. Der ehemalige Kommandeur einer Maschinengewehr-Kompanie muß das Auseinandernehmen und Zusammensetzen eines Maschinengewehrs Marke “Maxim” üben, während dem Kommandeur eines Schützenbataillons der Gewehrverschluß an dem unübertrefflichen “Muster 1891” erklärt wird.

In den KUKS befindet sich ein großer Prozentsatz “neuer” Ukrainer. Als die Rote Armee sich aus der Ukraine zurückzog, warfen viele Soldaten, die aus diesen Gegenden stammten, wenn sie ihre Heimatdörfer passierten, einfach ihre Gewehre in den nächsten Straßengraben und gingen “nach Hause”. “Hol sie der Teufel, diese ganze Sowjetmacht!” fluchten sie noch hinter den zurückweichenden Verbänden her.

Als dann die Rote Armee die Deutschen aus der Ukraine zu vertreiben begann, wurden diese “Schollenverbundenen” eiligst wieder zusammengetrommelt – und zwar nicht einmal von den Militärkommandanten, sondern von den Kommandeuren der vordersten Fronttruppen – ihnen wurden erneut Gewehre in die Hand gedrückt und ab mit ihnen, wie sie gingen und standen, ohne sie auch nur in Uniformen zu stecken, in die vorderste Kampflinie! Die Ufer des Dnjepr waren übersät, wie im Frühling von bunten Blumen, von Leichen in verschiedenfarbigen Zivilkleidern.

Die gewöhnlichen Soldaten wurden, meist ohne vorherige Säuberung durch die Organe der NKWD, einfach der operierenden Armee ein-verleibt. Die persönlichen Rechnungen zwischen Staat und Individuum können später beglichen werden! Im gegenwärtigen Augenblick brauchte man mehr Soldaten für die Armee als Arbeitskräfte für die Konzentrationslager.

In den KUKS spürte man eine wenn auch nicht offen zutage tretende, so doch vorhandene Spannung zwischen Ukrainern und Russen. Die Ukrainer hielten meist ihren Mund, wie ein jüngerer Bruder, der ein schlechtes Gewissen hat. Die Russen ließen nur manchmal ein gutmütiges: “Ach, Ihr, Chochly” (Chochly = Spitzname für Ukrainer.) vernehmen.

“Ach, diese Deutschen...”, seufzten die Ukrainer zur Antwort.

“Unser Vertrauen haben sie mißbraucht, die Elenden!”

Eines Tages begannen in den Bataillonen der KUKS Listen zu kursieren. Man suchte die Krim-Tataren unter den Kursusteilnehmern zu erfassen. Ich erinnere mich an das verstörte Gesicht des Oberleutnants Chaifutinow, als er daranging, den Fragebogen dieser Liste auszufüllen, der sich gegen seine eigene Familie richtete. Wir hatten gerüchtweise gehört, daß ausnahmslos die gesamte tatarische Bevölkerung der Krim ASSR auf Befehl des Kreml umgesiedelt werden sollte. Wegen “unloyalen Verhaltens gegenüber der Sowjetmacht während der Zeit der deutschen Besetzung” werden mehrere Millionen Menschen nach Sibirien umgesiedelt, ihre Republiken liquidiert.

Unter den Kursusteilnehmern der KUKS führte dieser Befehl zu folgender Unterhaltung:

“Weißt Du noch, wie die Kalmücken bei Stalingrad gewütet haben?” sagte einer: “Die Deutschen stürmten vor und die bearbeiteten die Etappe. Ganzen Sowjetregimentern haben sie nachts die Kehlen durchgeschnitten!”

“Interessant, warum wohl die Don- und Kubankosaken tatenlos zugesehen haben?” fügt ein anderer hinzu.

“Was ist denn von den Kosaken übriggeblieben?, Hufe und Klaue', wie man so sagt”, läßt sich ein Dritter vernehmen. “Diese jetzigen Kosakenabteilungen – da ist doch kein einziger Kosak mehr zu finden! Die Biesen – das ist das einzige, was sie noch mit richtigen Kosaken gemein haben!”

Die Offiziere fanden nichts Aufregendes dabei, daß die Kalmücken ihre Regimenter ausrotteten. Sie wunderten sich nur darüber, daß die Kosaken tatenlos zusahen. Die Gebiete der Don- und Kubankosaken galten seit jeher als antisowjetische Widerstandsnester. Dort wurde die künstlich heraufbeschworene Hungerkatastrophe des Jahres 1933 mit ganz besonderer Grausamkeit durchgeführt. Bis 1936 wurden die Kosaken als einzige nationale Völkerschaft nicht zum regulären Dienst in der Armee eingezogen. Jetzt war es den Leuten unbegreiflich, daß die Kosaken, deren Freiheitsliebe seit altersher gerühmt wird, sich nicht gegen die Sowjetmacht erhoben.

Unter den Kursusteilnehmern befinden sich viele ehemalige politische Funktionäre der Armee. Die Mehrzahl der Männer dieser Kategorie wurde bereits in Speziallagern der NKWD einen Kopf kürzer geinacht. Dafür erwiesen sich diejenigen, die sowohl diese Lager als auch die Sturmbataillone glücklich überstanden hatten, tatsächlich als verteufelt zählebig. Kaum in den KUKS angekommen, krallten sie sich mit wahrhaft kommunistischer Wolfsgier mit Zähnen und Klauen an ihr ehemaliges einträgliches Handwerk – Hirten der menschlichen Herde zu sein.

Ungeachtet aller Siebungen und Säuberungen durch die NKWD brachten sie es selbst in den KUKS fertig, sich auf völlig unergründlichen Wegen die Posten von Kommandeuren unserer Kursus-Unterabteilungen zu ergattern. Die Kursusteilnehmer ließen sich keine Gelegenheit entgehen, sie scheinbar im Versehen spöttisch mit “Genösse Politruk” (Politruk = Polititscheskij rukowoditelj = politische Führungsoffiziere, die jeder Truppeneinheit zur politischen Überwachung offiziell zugeordnet, inoffiziell aber übergeordnet waren.) oder “Genösse Kommissar” anzureden, obwohl diese Bezeichnungen seit einiger Zeit aus der Armee verschwunden sind. Trotzdem – oder gerade deshalb, weil der “Antiquitätenladen” aus einer so bunt zusammengewürfelten Menge verschiedenartigster Elemente besteht, ist er doch ein ziemlich lebhafter Handelsplatz. Fast täglich tauchen in den KUKS geheimnisvolle Kommissionen auf, von den Kursusteilnehmern “Käufer” genannt.

Sie sind beispielsweise auf der Suche nach Partisanen für Jugoslawien. Die Bedingungen: 25.000 Rubel Handgeld, ein Monat Urlaub, dann Fallschirmabsprung über Jugoslawien. Besonderen Unterricht brauchen unsere Leute nicht mehr – sie sind ohnehin mit allen Wassern gewaschen. Die Bewerber stehen Schlange. Es sind vor allem ehemalige Partisanen, die sich mit der Armee-Disziplin nicht abfinden können.

Dann wieder erfolgt völlig überraschend eine Massensuche nach Männern mit polnischen Familiennamen – Auslese für die polnische “Nationalarmee”, wer weiß, die wievielte... Das nächste Mal braucht man Kandidaten für die Geheimdienst-Hochschule des RKKA. Bedingungen: nicht unter Majorsrang und abgeschlossene Hochschulbildung. Doch selbst diese hohen Ansprüche können – und zwar im Übermaß – erfüllt werden.

Dieser lebhafte Handel findet seine Erklärung in dem in der Armee besonders fühlbaren großen Mangel an Spezialkadern. Hier in den KUKS aber gibt es eine Menge frischen, noch nicht sortierten Menschenmaterials, das bis in die jüngste Zeit hinein im Partisanenoder im besetzten Gebiet der allgemeinen Nutzung entzogen war.

Die Mehrzahl meiner KUKS-Kameraden sind buchstäblich Menschen aus dem Jenseits. Der junge Mann mit den grauen Schläfen erzählt gelassen, ja mit einer gewissen Unlust, seine Geschichte. Wie er quer durch ganz Europa aus deutscher Kriegsgefangenschaft in Frankreich flüchtete, wie er im bereits besetzten Gebiet Rußlands zum zweiten Male gefangen, ins KZ gebracht wurde und wie ihm dann zum zweiten Male die Flucht gelang. Wie er zweimal an die Wand gestellt wurde und sich schwerverwundet unter den Leichen seiner Kameraden hervor aus dem Massengrab herausarbeitete, über zwei Jahre Partisanendasein in den Sümpfen und Wäldern Leningrads. Und als Belohnung für seine Vaterlandsliebe – Säuberung in NKWD-Lagern, blutige Feuertaufe im Sturmbataillon und zum Schluß der stille Hafen in den KUKS.

Fast jeder der KUKS-Teilnehmer hat ähnliches hinter sich. Sie waren die wenigen überlebenden. Die meisten blieben auf der Strecke. Bezeichnend, daß diese Männer es nicht liebten, ihre Geschichte zu erzählen.

Inmitten einer solchen Mannschaft war ich ein richtiger Grünschnabel, dazu unschuldig wie ein neugeborener Säugling. Ich wurde aus dem 96. Sonder-Reserveoffiziersregiment – OPROS 96 – nach einer Verwundung, die ich in den Kämpfen um Nowgorod erlitt, und einem dreimonatigen Lazarettaufenthalt zu den KUKS abgestellt.

Gerade während meines Aufenthalts im Lazarett, dem ehemaligen Palast der Ingenieure, oder wie es noch früher hieß, im Pawlowschen Schloß, erschütterte eine unerwartete Neuigkeit ganz Leningrad. Auf Anordnung des Leningrader Stadtsowjets mußten alle wichtigen historischen Straßen und Plätze Leningrads erneut umbenannt werden – sie erhielten ihre früheren, vorrevolutionären Benennungen wieder. Der “Newskij Prospekt” verwandelte sich aus dem “Prospekt des 25. Oktober” wieder in den Newskij. Das “Marsfeld” entledigte sich seiner ebenso zungenbrecherischen Benennung und wurde wieder zum Marsfeld. Wir vernahmen diese Wandlung und uns blieb der Mund vor Staunen offen. Am Ende schaffen sie auch die Kolchose wieder ab...

Der Stab der Leningrad-Front ist in dem riesigen hufeisenförmigen Gebäude des ehemaligen Generalstabs gegenüber dem Winterpalais untergebracht. Die Zufahrt zur Kaderführung befindet sich innerhalb der berühmten historischen Arkaden des Generalstabs. Durch diese Arkaden hindurch stürmten die revolutionären Matrosen und Rotgardisten Petrograds im Jahre 1917 das Winterpalais.

Auf den meterbreiten Fensterbänken des Empfangsraums sitzen einige Offiziere und baumeln mit den Beinen.

“Hauptmann, kommst Du auch hierher?” wendet sich einer von ihnen an mich. Ich nicke zustimmend, worauf er mich mit der unerwarteten Frage überrumpelt: “Kannst Du ausländisch schwatzen?”

“Was geht denn hier eigentlich vor?” frage ich nun meinerseits. “Vorläufig werden Prüfungen in Fremdsprachen abgehalten. Warum habe ich Dummkopf sie bloß nicht früher gelernt!” seufzt der Leutnant ärgerlich und blickt zur Tür hinüber.

“Es wird eine Auswahl getroffen für irgendeine Spezialschule oder sogar für eine Akademie”, erläutert ein anderer. “Erste Voraussetzung – Kenntnis irgendeiner Fremdsprache und abgeschlossene mittlere Schulbildung. Anscheinend etwas Solides. Man sagt sogar, in Moskau...” fügt er im Tone heimlicher Sehnsucht hinzu und schnalzt voller Hoffnungslosigkeit mit der Zunge.

Aus der Tür stürzt ein Offizier, knallrot und schwitzend.

“Ach, Teufel... Wie heißt auf deutsch. Wand'?. Fenster' wußte ich Tisch' wußte ich, und ausgerechnet. Wand' habe ich verschwitzt... Ach, verdammt noch mal..! Jetzt klappt's bestimmt nicht!” murmelt er enttäuscht und wischt sich den Schweiß von der Stirn. “Hört her, Burschen! Lernt schnell, was im Zimmer ist. Er zeigt mit dem Finger in die Runde und fragt, wie das alles heißt.

"Von den im Empfangsraum wartenden Offizieren können zwei Finnisch, einer Rumänisch, die übrigen haben Schulkenntnisse in Deutsch und Englisch. Wie diese Schulkenntnisse beschaffen sind, weiß ich genau. Aber je weniger Chancen ein Mensch hat, desto größer wird sein Wunsch, dorthin zu gelangen, wo man geheimnisvollerweise Sprachkenntnisse verlangt, die er nicht hat. Alles, was irgendwie mit dem Begriff “Ausland” zusammenhängt, regt automatisch die Einbildungskraft an und erweckt Neugier. Außerdem haben diese Leutchen irgend etwas gerochen und versuchen nun krampfhaft, es voreinander zu verbergen – auf daß nur ja kein anderer ihnen zuvorkommt. Kein Wunder, daß sie alle so aufgeregt sind.

Ich muß unwillkürlich schmunzeln. Hier geht es nicht mehr um die fünf Teile des Gewehrverschlusses Muster 1891! Ich räkle mich gemütlich auf einer Bank im entferntesten Winkel des Raumes, schiebe mir die Mütze ins Gesicht und versuche, den so jäh unterbrochenen Schlaf fortzusetzen. Der Kommiß stumpft die Gefühle ab und verwandelt die Menschen in Automaten. Mögen die anderen auch um ihr Glück raufen, mir wird es schon nicht untreu werden.

Als mein Name aufgerufen wird, gehe ich hinein, knalle nach allen Regeln der hitlerschen Armee die Hacken zusammen und melde mich in deutscher Sprache mit einer solchen Donnerstimme, daß der am Tisch sitzende Major erschreckt auffährt.

Er starrt mich verwundert an, vielleicht überlegt er, was er mich fragen soll, “Tisch” oder “Fenster”; dann stellt er irgendeine Frage in russischer Sprache.

Ich antworte deutsch. Der prüfende Major wieder russisch, ich wieder deutsch. Endlich kann er sich das Lachen nicht mehr verbeißen und fragt, während er mir einen Stuhl anbietet: “Wo haben Sie das nur her, Hauptmann?”

Ich hole meine Papiere aus der Zeit vor meiner Einberufung hervor, die ich durch irgendein Wunder gerettet habe, und lege sie auf den Tisch.

“Aha, das ist ja wunderbar”, sagt er; “und ich dachte zuerst, Sie seien ein Deutscher. Ich werde Sie gleich zum Obersten führen”.

Er führt mich durch eine zweite Tür in das nächste Zimmer und stellt mich dem Chef der Kaderführung vor: “Genösse Oberst, das ist einmal ein richtiger Kandidat. Wegen der Sprache brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen – er hat mir eben einen richtigen Schreck eingejagt. Ich dachte – ein Diversant!” Er legt die Mappe mit meinen Papieren auf den Tisch und entfernt sich.

Der Oberst hält sich tatsächlich nicht mit Sprachübungen auf. Er legt gleich mit der moralischen Bearbeitung los. Für einen Offizier ist nämlich die moralisch-politische Charakterfestigkeit von größter Wichtigkeit und wird strengstens überprüft.

“Also, Hauptmann Klimow”, beginnt der Oberst. “Wir wollen Sie in eine privilegierte höhere Lehranstalt der Roten Armee schicken, die äußerst verantwortungsvolle Aufgaben zu erfüllen hat.” Der Oberst spricht in betont feierlichem Ton.

“Damit Sie mich richtig verstehen können, will ich Ihnen die Situation schildern”, fährt er fort. “Moskau verlangt von uns allmonatlich ein bestimmtes Kontingent von Kandidaten. Wir schicken sie nach Moskau, worauf sie dort samt und sonders durchrasseln und mit Schimpf und Schande zurückgeschickt werden. Wir befördern diese Unglücksraben dann in die Strafkompanien”, bemerkt er beiläufig und wirft mir einen bedeutungsvollen Blick zu.

Der Oberst schlägt mit der Hand auf einen Packen mit einem grünen Doppelstrich versehener Papiere und fügt hinzu: “Moskau bombardiert uns jeden Monat mit der Forderung – schafft Leute her! Wir haben aber keine Leute. Das ist die eine Seite der Sache. Jetzt die zweite. Sie kommen aus den KUKS, da gibt es viele Menschen mit zweifelhafter Vergangenheit. Ich frage Sie nicht, was Sie auf dem Kerbholz haben.

Eines steht jedoch fest – Sie müssen eine untadelhaft saubere Weste haben. Sonst kommen Sie nicht dorthin, wohin wir Sie schicken wollen. Schicken müssen wir Sie aber! Verstanden?" Mir gefällt die originelle Offenherzigkeit des Obersten. Es ist viel wert, den richtigen Käufer zu finden! Bei ihm geht auch ruchbare Ware als prima Qualität durch. Ich beruhige ihn – bei mir ist alles in bester Ordnung.

“Mir ist es völlig wurscht, ob bei Ihnen alles in Ordnung ist oder nicht”, erwidert er. “In diesen KUKS gibt es allerhand sonderbare Käuze. Gestern schwor mir einer Ihrer ehemaligen Obersten, er sei Infanterieleutnant. Wir wollten ihn in die Geheimdienst-Schule schicken, er aber sperrte sich wie ein Esel und erklärte, er könne nicht schreiben.”

Mich wundert das keineswegs. Männer, die früher verantwortliche Posten bekleideten und Etappen hinter sich haben, die gewöhnlich den KUKS vorausgehen, verlieren allmählich den Geschmack an Rang und Würden und kennen nur noch eine Sehnsucht – in Ruhe gelassen zu werden.

“Vielleicht kriegen auch Sie eines Tages so einen Tick”, erklingt die Stimme des Chefs der Kaderführung. “Aber ich warne Sie – die Sache ist ernst. Wenn wir es für nötig halten, Sie zu schicken, dann tun wir es! Da helfen Ihnen keine Mätzchen. Gegebenenfalls können wir die Sache so drehen, daß Sie sich weigern, in der Armee Dienst zu tun. Wissen Sie, wonach das riecht? Nach Kriegsgericht!” erklärt der Oberst abschließend. Er weiß, daß man KUKS-Teilnehmer und Sturmbataillon-Männer mit Strafkompanien nicht mehr schrecken kann. In solchen Fällen kann nur das Kriegsgericht noch Eindruck machen, d. h. die sichere Erschießung.

Die Komik der Situation läßt mich unwillkürlich lächeln. Dort, hinter jener Tür, schwitzen und beben die Männer in ihrem sehnsüchtigen Wunsch, in das unbekannte, lockende Heiligtum zu gelangen. Hier aber droht mir der Oberst mit Erschießen, wenn ich mich aus irgendwelchen Gründen weigern sollte, dem Befehl Folge zu leisten, der mich in eben dieses Heiligtum versetzen will. Er gibt mir sogar zu verstehen, daß ich kompromittierende Tatsachen meiner Vergangenheit vergessen und sie im Fragebogen unterschlagen muß. Alles übrige soll ich ihm überlassen...

Der Oberst wirft mir einen kritischen Seitenblick zu und nimmt den Telefonhörer ab, um sich mit dem Stabe der KUKS verbinden zu lassen.

“Also, Ihren Klimow schicken wir los. Bereiten Sie seine Papiere laut Formular 12 a vor. Er muß mit dem Zwölf-Uhr-Zug nach Moskau abfahren”, erklärt er dem Chef des Stabes. “Im übrigen – warum lassen Sie Ihre Leute wie die Landstreicher herumlaufen? Kleiden Sie den Mann unverzüglich ein! Er soll unsere Front in Moskau nicht blamieren.”

Nach wenigen Minuten händigt man mir im Nebenzimmer ein mit Siegeln und Stempeln versehenes Paket aus, das meine Personalpapiere enthält sowie die Fahrtausweise nach Moskau. Im Vorzimmer umringt mich die aufgeregte Schar der Kandidaten. Von allen Seiten stürmen Fragen auf mich ein: “Nun, wie ist es? Durchgefallen? Scheußliche Fragen?”

Ich zucke die Achseln und zeige meine Kommandierung nach Moskau. “Also wird tatsächlich für Moskau geworben?” klingen die Stimmen durcheinander. “Nun, herzlichen Glückwunsch! Ach, was manche Menschen doch für Glück haben! Na, dann – glückliche Reise!” Von allen Seiten schüttelt man mir die Hände.

Aus der kühlen Dämmerung der Arkaden des Generalstabsgebäudes trete ich auf den sonnenüberfluteten Schloßplatz hinaus. Ich kann noch gar nicht glauben, daß all das Wirklichkeit ist und kein Traum. Daß ich nach drei Stunden den Moskauer Zug besteigen werde, daß ich nicht mehr mit dem Maschinengewehr durch den Sand und die Sümpfe um Leningrad zu kriechen brauche. Ein solches Glück, ein so unwahrscheinliches Glück, läßt sich tatsächlich schwer fassen.

Wie viele Offiziere, Einwohner Leningrads, haben bis zu drei Jahren an der Leningrad-Front Dienst getan, ohne in der ganzen Zeit auch nur einen einzigen Urlaub nach Leningrad zu bekommen. Selbst in den KUKS wird den in Leningrad ansässigen Offizieren kein Heimaturlaub gegeben; zum Besuch der Badeanstalt oder zur Besichtigung der Stadt führt man sie nur in geschlossenen Abteilungen. Für die Moskauer bedeutet ein noch so kurzer dienstlicher Aufenthalt in Moskau einen unerfüllbaren Traum. Ist es denn wirklich möglich, daß ich nach Moskau zurückkehre?

Ich schaue mich um. Ja, das ist Leningrad, in meiner Tasche aber rascheln die Ausweise, die mir den Weg nach Moskau öffnen. Ich nehme sie heraus und lese sie, mitten auf dem leeren Schloßplatz stehenbleibend, noch einmal durch. Ja! Es ist kein Zweifel möglich. Moskau... Ich blinzle dem Bronzeengel zu, der sich auf seiner granitenen Höhe gegen den blauen Himmel abhebt und strahle über das ganze Gesicht. Du und ich – wir sind beinahe Brüder! Ich fühle richtig, wie mir Flügel wachsen. Wirklich, das Leben ist eine wundervolle Sache, eine verteufelt schöne Sache!

Absichtlich weiche ich den Patrouillen in den grünen Mützen nicht aus, die überall auf Brücken und Straßenübergängen herumlungern. Leningrad gilt als Grenzzone und die Patrouillen der NKWD-Grenzorgane sind hier besonders streng. Die grünen Mützen sind die ärgsten Feinde aller Menschen in Uniform. Es ist gar nicht so lange her, daß ich selbst zwei Tage und Nächte in einer kalten Wachstube der Kommandantur gesessen habe, ohne Nahrung und ohne Zigaretten, bis man schließlich aus den KUKS einen Offizier mit Maschinenpistole schickte, um mich abzuholen. In dieser Begleitung wurde ich ohne Schulterstücke und ohne Koppel durch ganz Leningrad in die KUKS zurückgeführt.

Mein Verbrechen hatte darin bestanden, daß ich aus der Badeanstalt auf die Straße hinausging. Während unser Kommando das Dampfbad genoß, trat ich, nach einem raschen Bad, aus dem heißen Dunst in die frische Frühlingsluft hinaus. Gleich vor dem Tor der Badeanstalt aber schnappten mich die grünen Mützen als Deserteur. Heute pfeif ich auf sie! Heute fahre ich nach Moskau. Alle Papiere in der Tasche, mit Siegel und Unterschrift!

Unglaublich, in welchen Rausch ein erwachsener Mensch durch eine unverhoffte Freude versetzt werden kann. Sonst schleppt sich das Kommißleben so unsagbar träge dahin; man freut sich schon, wenn nur die Sonne am Himmel höher steigt. Plötzlich aber, unerwartet, ungeahnt – Moskau. Das ist, als müsse die Sonne vom Himmel stürzen.

Im Stabsquartier der KUKS, im Gebäude der ehemaligen Elektrotechnischen Militär-Akademie “Budjennyj” in Lesnyj, bereitete man mir einen fürstlichen Empfang. Nach einer halben Stunde bin ich von Kopf bis Fuß eingekleidet – neue Stiefel, neue Uniform, sogar ein neuer Tornister, prall gefüllt mit Konserven und Zigaretten.

Genau um die Mittagsstunde stehe ich am Fahrkartenschalter des Oktjabrskij-Bahnhofs und lege meine Fahrtausweise vor.

“56 Rubel”, klingt es kurz hinter dem Schalterfenster hervor. Ich wühle eilig in meinen Taschen. Ach, zum Teufel – Geld! Das hat mir noch gefehlt. Während meiner Soldatenzeit habe ich ganz vergessen, was das ist. Meine gesamte Löhnung wurde automatisch nach Hause überwiesen. Glaubt ihr vielleicht, die Situation ist ausweglos? Keine Spur! Im sozialistischen Zeitalter ist alles sehr einfach, das Leben ist direkt lächerlich leicht.

Wie der Blitz sause ich auf den Bahnhofsplatz; daß ich dabei einige langweilige Nachtwandler, die mir im Wege stehen, umrenne, stört mich nicht im geringsten. Ich reiße den Tornister auf und pfeife durchdringend. Wie gut läßt es sich doch im Zeitalter des Sozialismus Geschäfte machen! Kaum ist der Futtersack offen, rennen die Käufer Hals über Kopf herbei. Fünf Minuten später bin ich, um einige Konservenbüchsen ärmer, dafür aber die Tasche voll Geld, wieder am Fahrkartenschalter. Weitere zehn Minuten später rattern unter mir die rollenden Räder. Ich fahre nach Moskau.

Hinter den Wagenfenstern erblicke ich von der Höhe der pfeilgeraden “Oktjabrskaja Doroga” die allmählich auftauchenden Strohdächer von Dörfern, magere Felder und blinkende Seen, bombenzerstörte Bahnhöfe, begraben unter Bergen verkohlter Ziegelsteine. Und doch ist es mir so leicht ums Herz. Allen Widerständen zum Trotz ist unsere Armee im Vormarsch begriffen. Die Waage der Geschichte neigt sich langsam aber sicher zu unseren Gunsten.

Vor kurzem erst war ich Augenzeuge unseres gewaltigen Durchbruchs an der Karelischen Landenge. Stundenlang erdröhnte die Erde unter dem unaufhörlichen Donner des Artilleriebeschusses. In un-unterbrochener Kette kreisten die Bomber und Kampfflugzeuge über unseren Köpfen. Sie warfen ihre Bomben ab, machten den Beton der Befestigungen dem Erdboden gleich und flogen dann zurück, um neue Bombenladungen aufzunehmen.

Erst vor ganz kurzer Zeit summten die KUKS wie ein aufgeregter Bienenschwarm durcheinander: die Verbündeten waren endlich an der Atlantischen Küste gelandet. Tagelang schwebten wir in Ängsten, die Landetruppen könnten ins Meer zurückgeworfen werden oder es handele sich wieder einmal nur um ein diplomatisches und kein militärisches Manöver. Ich habe keine Verbindung zu den Leuten im Kreml und weiß nicht, was sie denken. Wir aber lasen alle die Sowjetzeitungen und in ihren Spalten die immer wiederkehrende Bitte um Hilfe, manchmal sogar die Beschuldigung, die Verbündeten betlieben eine Politik absichtlicher Passivität.

Wir, die wir in unmittelbarer Nähe der Front unseren Dienst taten, wußten nur zu gut, welche Opfer ein Angriff forderte und wieviel Opfer sich hinter dem lakonischen Bericht des Informationsbüros: “An der Narwa-Front nichts Neues” verbergen. Zur selben Zeit werden ganze Divisionen bis zum letzten Mann aufgerieben in dem fruchtlosen Bemühen, die Narwa-Front zu durchbrechen.

Die estnischen Truppenteile der deutschen Armee stehen dort, an den Grenzen ihres Heimatbodens, bis zum letzten Atemzug, standhafter als selbst die Deutschen. Die Front um Leningrad erstickt in Strömen von Blut, während das Informationsbüro “nichts Neues” zu berichten hat. Wichtig sind einzig und allein sichtbare Resultate, nicht Menschenleben! Das ist überall so, wo Krieg geführt wird.

Wir sind nur Soldaten, aber Blut ist dicker als das Wasser in der Karaffe der Großen Drei. Die Diplomaten schwören einander ewige Freundschaft, während sie, einen Knüppel hinter dem Rücken, nur auf den Moment warten, diesen Knüppel ihrem “ewigen Freund” über den Schädel zu hauen. Dafür sind sie Diplomaten! Wir aber sind nur Soldaten...

Bis zur Landung in der Normandie waren die Sowjetsoldaten ihren Verbündeten äußerst dankbar allein für die Knöpfe, die sie bekamen. Ja, ganz gewöhnliche grüne Knöpfe. Zusammen mit Millionen Paar Schuhen, Wolle und Tuch für die Herstellung von Uniformen hatten die ordnungsliebenden Ausländer uns als kostenlose Beigabe Uniformknöpfe geschickt. Echt sowjetische Knöpfe mit Stern, Hammer und Sichel, allerdings ausländischer Herkunft. Es passiert nicht selten, daß die Soldaten sich nachts diese Knöpfe gegenseitig von den Uniformen schneiden. Diese Knöpfe sind nämlich aus Kunststoff hergestellt und brauchen nicht geputzt zu werden. Dieser Vorzug ist in den Ausbildungsabteilungen von ganz besonderem Wert, weil dort die Reinigung der Knöpfe sowjetischer Herkunft tägliche lästige Pflicht ist.

Mit gespannter Aufmerksamkeit beobachten wir jede Bewegung der verbündeten Armeen in der Normandie. Je mehr sie ihren Brückenkopf erweitern, um so größer wird unsere Gewißheit, daß der Erfolg und das siegreiche Ende in greifbare Nähe rücken. Die Kämpfe und Mühen des Soldatenalltags stumpfen zwar die Gefühle ab, lassen sie aber beim geringsten Anlaß mit um so größerer Heftigkeit wieder hervorbrechen. Bis zur Kapitulation Deutschlands gab es kein Ereignis, das die Armee mit so freudiger Erregung erfüllt hätte wie die Landung der Verbündeten in Frankreich. Zu jener Zeit kam es häufig vor, daß einfache Soldaten sich an ihre Offiziere mit der Bitte wandten, ihnen zu erzählen, “wie die Sache dort im Westen steht”.

Jetzt sind wir unseren Verbündeten nicht nur für die Berge von Konserven, Soldatenmänteln und Knöpfen dankbar, sondern auch für das im gemeinsamen Interesse vergossene Blut. Eiserne Klammern haben sich um Hitler-Deutschland geschlossen. Wenn das Leben auch schwer ist, wenn sich auf jedem Bahnhof bittend erhobene Hände hungriger Frauen und Kinder den Reisenden entgegenstrecken, – wir gehen trotz allem dem Sieg entgegen. Wir glauben an unseren Sieg und in noch stärkerem Maße an irgend etwas anderes, strahlend Helles, das nach dem Siege auf uns wartet.

Man erzählt sich, Stalin hätte im Kreml in rasender Wut mit den Füßen gestampft, als er von der Landung der Verbündeten hörte. Ich weiß nicht, was daran wahr ist – ich habe mit Stalin keinen Schnaps getrunken. Wir Soldaten waren jedenfalls voller Freude. Die Politiker teilen Europa, wir Soldaten – unser Brot und unser Blut.

Und heute kehre ich nach Moskau zurück. Meine Gedanken wandern zurück zu dem Tag, an dem ich es verließ.

Unendlich lange ist das her. An einem kühlen Herbstabend saß ich mit Shenja (Abkürzung des Namens Eugenia.) in der elektrischen Vorortbahn. Wir fuhren nach einem schönen Tag in der “Datscha” (Datscha = Sommerhaus außerhalb der Stadt ) in die Stadt zurück. Ich holte die Vorladung des Militärkommandanten zur Umregistrierung aus der Tasche und sagte: “Morgen früh gehe ich mal hin, lasse mir den Stempel geben und komme dann zu Dir. Dann unternehmen wir irgend etwas...”

“Ach, Grischa, ich habe Angst, sie könnten Dich am Ende gleich dabehalten.” Shenjas Stimme zitterte vor Erregung, ihre rehbraunen Augen blickten mich voller Unruhe an. Ich war ihr für diese Worte und den kurzen Blick unendlich dankbar.

“Unsinn! Es ist ja nicht das erste Mal”, antwortete ich.

Am nächsten Morgen schritt ich in einer wattierten Soldatenjacke, blauen in die Soldatenstiefel hineingesteckten Hosen und mein unvergleichliches Krätzchen auf dem Kopf zur Militärkommandantur. Nach den Begriffen der Kriegszeit war ich wie ein Gentleman gekleidet. Es gehört im Moskau der Kriegszeit zum guten Ton, so angezogen zu sein, außerdem blieb man von feindseligen Seitenblicken verschont. In meiner Tasche steckte Conan Doyie's fesselndes Buch “The Sign of Four”, das ich zu Übungszwecken in der Untergrundbahn las.

Nachdem ich meine Papiere in der Abteilung II der Militärkommandantur abgegeben hatte, verkroch ich mich in eine Ecke und nahm den spannenden Roman vor, der mir die sinnlose Wartezeit verkürzen half. Das Zimmer war von einer sonderbaren Menge bevölkert – kalkweiße Gesichter, unrasierte Wangen, zerknitterte, für die kalte Jahreszeit viel zu leichte Kleidung. An der Tür lehnten gelangweilt zwei Milizionäre. Die vergifteten Pfeile geheimnisvoller Pygmäen, ein krummbeiniger Bösewicht und andere Gestalten meines Romans halfen mir, geduldig auszuharren, bis ich meinen Wehrpaß mit dem Stempel: “Umregistriert” zurückbekommen würde.

Nach geraumer Zeit erscheint der Chef der Abteilung II mit einer Liste in der Hand. Er verliest einige Namen, darunter auch meinen. Ich habe keine Ahnung, was das für eine Liste ist. Als der Chef den Raum verläßt, ertönt das Kommando der Milizionäre: “Auf der Straße angetreten, marsch!”

Wir werden alle, bis auf den letzten Mann – darunter auch ich, mit dem Zeigefinger zwischen den Seiten meines Buches – in den Hof hinausgetrieben. Was ist denn los? Das kommt doch für mich nicht in Frage – für einen Mann mit einem so allmächtigen “Panzer” (So nannte man die UK-Scheine)! Ich versuche links auszuweichen – und blicke in die Mündung eines Nagan (Revolver). Rechts – wieder ein Nagan.

“Keine Widerrede!” schreit der Milizionär. “Solange wir hier sind, seid Ihr Gefangene. Sobald wir Euch am Sammelpunkt abliefern, seid Ihr wieder frei...”

So marschierte ich durch Moskau, bewacht von Milizionären mit dem Nagan im Anschlag. Gesungen haben wir dabei freilich nicht.

Ein Versehen, meint ihr? Keine Spur. Vielmehr eine Form der Dialektik! Der Mangel an Reserven für die Front war unermeßlich. Die Bedürfnisse der Etappe nicht minder. Die Etappe “panzert” die Menschen vor der Mobilisierung. Die Front aber stiehlt diese Leute mitsamt ihren “Panzern”. Dahinter steht der “Plan”.

Die Militärkommandantur muß am heutigen Tage laut Plan 50 Mann an den Sammelpunkt abstellen. Was bleibt ihr anders übrig, als sämtliche Ecken auszufegen – so holt sie sich die Häftlinge aus den Gefängnissen, die in der Hauptsache wegen Zuspätkommens und Drückebergerei vor der Arbeit zu kurzen Strafen verurteilt sind, bringt sie unter Bewachung zur Kommandantur und dann gleich weiter zum Sammelpunkt. Ist dann der Plan immer noch nicht erfüllt, steckt man noch ein paar “Gepanzerte” dazu. Aus diesem Geleitzug gibt es kein Entrinnen! Am Eingang hängt das Transparent “Herzlich willkommen”.

So geriet der “gepanzerte” wissenschaftliche Mitarbeiter des mit dem Leninorden ausgezeichneten Energetischen Institutes “Molotow” unter die Soldaten. Da half kein Lenin und kein Molotow. Das war aufregender als Conan Doyie! Schade nur, daß ich mich von Shenja nicht verabschieden konnte.

Es dauerte nicht lange, bis ich brav mitmarschieren lernte. Es ging an die Front, und ich sang aus voller Kehle mit. “Nachtigall, Nachtigall, Vö-ö-ögelein, sing mir wieder ein fröhliches Lied...”

Wie vom allmächtigen Atem eines Zauberers fortgeblasen waren in der Armee alle Lieder der Vorkriegszeit über “Führer”, “Proletarier” und ähnliches Gewäsch. Dafür eroberten sich in märchenhaftem Sturmschritt echt russische Marschlieder die Herzen der Soldaten; sie schienen fast aus den Zeiten Ismails und Schipkas zu stammen. Selbst völlig unmusikalische Soldaten brüllten sie hingebungsvoll mit. Aus dem einfachen Grunde, weil es endlich wieder erlaubt war, von wiehernden Rößlein, alten Mütterchen und jungen Schönen zu singen. Der Zauberer im Kreml hatte eingesehen, daß den Herzen der Soldaten wiehernde Rosse, alte Mütterchen und junge Schöne näher standen, als Karl Marx mit seinem Bart.

An die Front gelangt, verspürte ich keinerlei Verlangen nach der Etappe. Hier an der Front waren echte Menschen zu finden, – der ganze im Kern gesunde Teil der Nation. Wir kauten trockenes Brot und spülten es mit abgekochtem Schneewasser hinunter, kämpften am Tage für den Sieg und träumten nachts, wenn wir endlich einmal zur Ruhe kamen, von der fernen Liebsten. Das war ein Leben, wert, dafür zu sterben.

Heute nun kehre ich nach Moskau zurück. Gestern noch hatte ich nicht davon zu träumen gewagt. Vor meinem geistigen Auge ersteht das Bild des Tages, an dem ich zum letzten Male an Moskau dachte. An einem strahlend sonnigen Frühlingstag stieß ich auf einer verlassenen Lichtung in den tiefen Wäldern der Karelischen Landenge auf einen tiefen, von jungem Grün umstandenen Granattrichter.

Auf seinem Grunde schimmerte grünliches Moorwasser wie durchsichtiges Glas. Waldwasser, klar wie Kristall, das wir oft – vorsichtig, um den Schlamm nicht aufzurühren – mit dem Krätzchen schöpften und tranken. Auf dem Boden des Trichters schillerte unter den Strahlen der Sonne in smaragdenem Farbenspiel die eigene Welt eines Waldsees. Mit dem Kopf im Wasser, die Arme in einer letzten Zuckung ausgebreitet, lag die Leiche eines feindlichen Soldaten.

Als ich im Hinabsteigen mit den Absätzen meiner Stiefel im steilen Hang Halt suchend den Boden aufwühlte, rollten Erdklumpen aufspritzend ins Wasser. Kleine Wellen kräuselten die Oberfläche und brachten in todestrauriger Liebkosung das Haar des Toten in sanfte Bewegung. Ich kauerte mich nieder, bedrückt von diesem nahen Beisammensein von Leben und Tod. Schließlich aber siegte doch die Wißbegier über die Achtung vor dem Toten. Ich öffnete vorsichtig die Brusttasche der graugrünen Uniform und nahm einen Packen zerknitterter Papiere heraus.

Die üblichen Militärausweise mit dem Adler rittlings auf dem Eichenkranz, Briefe von zu Hause und endlich die Fotografie eines reizenden blonden Mädchens im hellen Sommerkleid. Die Fotografie war sorgsam in ein Papier gehüllt. Auf der Rückseite stand in leicht dahinfliegenden Buchstaben: “Dem Liebsten von der Liebsten”, das Datum und der Name einer fernen deutschen Stadt im Süden des Reiches.

Ich blickte auf die von grünem Moorwasser umspielten Haare des Toten und dann wieder auf die Züge des unbekannten Mädchens an den Ufern des Rheins. Dort stehen jetzt die Obstgärten in voller Blüte und an den Hängen grünt der Wein. Einst in warmer Prühlingsnacht warst du es, die die Haare des Geliebten zärtlich streichelte, jetzt ist es das kalte Moorwasser eines Waldes irgendwo in den Weiten des russischen Landes.

Ja, sonderbar kreuzen sich die Wege der Menschen. Ich sehe die Sonne am blaßblauen Himmel, sehe die von weißem Wiesenklee übersäte Lichtung, lausche der unendlichen Stille des Waldes ringsum. Das Leben nimmt seinen Lauf, auch wenn das Herz eines deutschen Soldaten aufhört zu schlagen.

Ich hole mein Notizbuch heraus und schreibe, auf dem Trichterrand sitzend, einen melancholischen Brief an Shenja: “Vielleicht werde morgen auch ich irgendwo liegen, das Gesicht nach oben gekehrt, und niemand wird mich zärtlich streicheln... nicht einmal das grüne Moorwasser eines Bombentrichters...” Frauen lieben die Romantik. Und ich selbst bin auch nicht von Eisen.

Damals hatte ich gar keine Hoffnung, Shenja bald wiederzusehen. Ich schrieb bloß so, wie eben alle Soldaten an ihre Liebsten schreiben. Briefe sind beinahe die einzige Freude und der einzige Seelentrost des Soldaten. Viele, denen niemand Briefe schreibt, sind darüber voller Trauer und beneiden im stillen ihre glücklicheren Kameraden.

Nachdem ich den Moskauer Komsomolskij-Bahnhof verlassen habe, stürze ich mich, ein Soldatenliedchen fröhlich vor mich hinpfeifend, kopfüber in das Gewühl des U-Bahnschachtes. Eine ganze Ewigkeit habe ich dem Staat geschenkt. Da ist die Sünde verzeihlich, daß ich jetzt ein paar Minuten mir selbst schenken will. überdies würde mir Shenja niemals verzeihen, wenn ich irgendeine Militäreinheit ihr vorziehen würde!

Ich fand die Tür zu Shenjas Wohnung verschlossen, schob ein Zettelchen durch den Türspalt, warf den Tornister wieder über die Schulter und kommandierte mir selbst: “Linksum kehrt, ma-a-arsch!”

2.

Eine halbe Stunde später war ich an meinem dienstlichen Bestimmungsort angelangt. Ich gehe einen langen Korridor entlang und staune. Es sind zwar Männer in Uniform, die hier wie ein aufgescheuchter Ameisenhaufen durcheinanderlaufen, aber die ganze Atmosphäre macht eher den Eindruck einer Universität in der Hochspannung der Prüfungszeit als den einer Armee-Einheit.

Auf den Fensterbrettern aufgeschlagene Bücher, erregt diskutierende Menschen, die in aller Eile ihre Lektionen wiederholen, Spickzettel schreiben und hastig irgendwohin fortbringen. Niemand gibt auf Rangabzeichen oder Schulterstücke acht, niemand denkt an Ehrenbezeugung. Sie haben andere Sorgen. Die meisten von ihnen haben einen ganz anderen Gesichtsausdruck, als man es sonst bei Armeeoffizieren gewohnt ist, denen der Kasernendrill innerlich und äußerlich seinen Stempel aufgedrückt hat.

In meiner Nähe stehen zwei Offiziere, die sich in irgendeiner unverständlichen Affensprache unterhalten und dabei fast die Zunge verrenken. Man sieht die verschiedenartigsten Schulterstücke – angefangen von der Luftwaffe bis zur Infanterie. Daneben die schwarzen Röcke der Kriegsflotte. Am erstaunlichsten ist aber die große Anzahl von Frauen und Mädchen in Uniform. Bisher wurden lediglich vereinzelt Frauen zu Propagandazwecken in einige Militärschulen aufgenommen. Hier sieht die Sache aber anders aus. Wohin bin ich geraten?

Ich fühle mich reichlich unsicher und beschließe, mich nach passender Gesellschaft umzusehen. Da erspähe ich an einem der Fenster einen Oberleutnant in sandfarbenem Feldrock und ebensolchen Reithosen. Aha, das ist einer von uns! Ich trage genau die gleiche Uniform. Außer in Leningrad ist mir diese Uniform noch nirgends begegnet. Als die vorsorglichen Amerikaner sich auf die Landung in Nordafrika vorbereiteten, legten sie einen riesigen Vorrat an leichten seidenartigen, sandfarbenen Uniformstücken zur Einkleidung ihrer Soldaten an. Später stellte sich heraus, daß ein solcher Überfluß an diesen “afrikanischen” Kleidungsstücken vorhanden war, daß sie ihn aus Freundschaft ihrem russischen Verbündeten überließen.

Unser findiges Oberkommando beglückte daraufhin den kältesten – nämlich den Leningrader – Abschnitt der Front mit diesen tropischen Kleidungsstücken, und diese exotische Kleidung macht es uns leicht, unsere Freunde von der Leningrad-Front jederzeit herauszufinden. “Hör mal, Oberleutnant”, wende ich mich an die sandfarbene Uniform. “Du bist von Leningrad?”

“Ja, von der Karelischen”, antwortet der Oberleutnant bereitwillig. Anscheinend fühlt er sich in dieser lärmvollen Umgebung ebenso verloren wie ich und ist froh, einem Gleichgesinnten zu begegnen.

“Nun, wie geht's?”

“Soweit nicht schlecht. Mir scheint, ich hab's richtig getroffen”, sagt er, während trotz dieser zuversichtlichen Antwort eine leichte Enttäuschung in seiner Stimme mitschwingt.

“Wohin kommst Du?” frage ich teilnehmend. “Was ist das hier übrigens für eine Pension ehrwürdiger Jungfrauen? Ich bin erst heute angekommen und finde alles ziemlich unbegreiflich.”

“Da kennt sich kein Teufel aus. Mich zum Beispiel hat man zum Ungarn gestempelt. Der Teufel hole dieses ganze Ungarn”, die Enttäuschung in der Stimme des Sandfarbenen wird offensichtlicher. Ich staune immer mehr.

“Ach, wenn man doch in die englische Abteilung hineinkommen könnte!” seufzt der Oberleutnant. “Ohne Beziehungen ist es nichts damit. Da muß man mindestens Generalssöhnchen sein. Siehst Du, wie sie sich herumdrücken? Von denen hat jeder das notwendige Briefchen in der Tasche.”

Er weist nach der Tür mit dem Schild “Chef der Ausbildungsabteilung”, vor der sich eine Gruppe von Offizieren in eleganten Stiefeln aus feinstem Leder und Extrauniform drängt. Sie sehen in der Tat nicht aus wie Frontoffiziere.

“So, so... Was muß man denn nun eigentlich tun, um nicht hereinzufallen?” frage ich.

“Welche Sprachen kannst Du?”

“Ein wenig deutsch, ein wenig englisch. Einigermaßen russisch...”

“Sei nicht blöd' und sag, Du könntest nur englisch. Die englische Abteilung ist die beste”, belehrt mich der künftige Ungar.

Aus den Gesprächen beginnt mir klar zu werden, daß diese geheimnisvolle Lehranstalt Kader für die Arbeit im Ausland ausbildet. Keiner der Neulinge kennt den Namen der Lehranstalt genau. Nachdem ich mich eine Zeitlang mit einem Fliegeroffizier unterhalten habe, einem Hörer der Luftwaffen-Akademie “Shukowskij”, der – anscheinend mit Hilfe einflußreicher Beziehungen – versucht, seine Versetzung aus dem dritten Kursus der Akademie in den ersten Kursus dieser rätselhaften Schule zu erreichen, glaube ich immer mehr daran, daß sie tatsächlich große Vorteile bieten muß.

Im Laufe der folgenden Tage fülle ich eine Unmenge von Fragebogen aus, die meine Vergangenheit bis ins Letzte zu ergründen suchen; ob ich Verwandte oder Bekannte im Ausland habe, ob ich Verwandte in “Gebieten habe, die vorübergehend von den hitlerschen Landräubern besetzt waren”, ob ich parteifeindlichen Gruppierungen angehört oder mit ihnen sympathisiert habe, ob ich jemals an der Richtigkeit der Parteilinie gezweifelt habe.

Die Fragen, die sich für meine eventuellen negativen Seiten interessieren, überwiegen bei weitem gegenüber denen, die sich mit den positiven Eigenschaften eines Menschen befassen. Ich habe alle diese Fragebogen bereits in einem versiegelten Umschlag aus Leningrad mitgebracht, hier gibt man sie mir erneut zum Ausfüllen.

Ich erinnere mich an einen Skandal um einen Fragebogen, den einer meiner ehemaligen Kameraden, ein Student, für die Spezialabteilung seines Instituts auszufüllen hatte. Das Geburtsjahr gab er wahrheitsgemäß mit 1918 an. Die folgende Frage: “Womit beschäftigten Sie sich während der Revolutionszeit des Jahres 1917?” beantwortete er mit der klaren Auskunft: “Befand mich in der Untergrundbewegung.” Aus diesem Anlaß wurde er mehrfach zur Vernehmung bei der NKWD vorgeladen.

Mehrere Tage lang legte ich Prüfungen in deutscher und englischer Sprache ab. Diejenigen, die bei den Sprachprüfungen durchfielen, wurden von weiteren Prüfungen ausgeschlossen und an ihren bisherigen Dienstort zurückversetzt. Eine Ausnahme bildeten allerdings die eleganten Günstlinge wirksamer Protektion. Sie wurden alle dem ersten Kursus zugeteilt, wobei die sonst üblichen Anforderungen stark zurückgeschraubt wurden. Alle übrigen wurden streng gesiebt, im Falle solider Kenntnisse den höheren Kursen zugeteilt, sonst aber zurückgeschickt.

Anschließend an die Fragebogenaktion in Form von “Mandatskommissionen” (Kommissionen, die die Fragebogenangaben und Dokumente prüften) und sprachlichen Überprüfungen folgten die Examen in Marxismus-Leninismus. In meinem 26 jährigen Leben hatte ich an die halbdutzend normale und drei Staatsexamen in diesem Fach bestanden. In den zivilen Lehranstalten, in denen die Studenten ziemlich liberal zu sein pflegten, konnte man statt “Marxismus-Leninismus” häufig den Ausdruck “Marxismus-Onanismus” hören.

Später fanden dann, vom klassenmäßigen Standpunkt aus betrachtet, völlig unwichtige Prüfungen in Philosophie und Dialektischem Materialismus, in allgemeiner Geschichte und Geschichte der Kriegskunst, in russischer Sprache und Wirtschaftsgeographie statt.

Mich ließen alle diese Prozeduren ziemlich gleichgültig. Man kann zwar vorläufig nicht wissen, wann der Krieg enden wird; eins ist aber gewiß: er hat seinen kritischen Höhepunkt bereits überschritten und nähert sich seinem Ende. Mein höchstes Ziel ist, gleich nach Beendigung des Krieges so rasch wie möglich die Uniform loszuwerden. Demgegenüber konnte diese Lehranstalt meine Dienstzeit in der Armee verlängern, wenn nicht gar überhaupt ins Unendliche ausdehnen. Für den überwiegenden Teil der Jugend war die Militärschule ein Mittel zu dem Zweck, einen Beruf zu erlernen, der sie nach dem Krieg ernähren könnte. Mich interessierte diese Frage wenig. Aber Armee ist Armee, hier ist der Befehl Trumpf, und man kann nichts anderes tun, als sich ihm beugen.

Ein strahlend heißer Sommer ist angebrochen. Auf dem Moskwa-Fluß liegen ganze Karawanen holzbeladener Schleppkähne – seit Beginn des Krieges wird in Moskau ausschließlich mit Holz geheizt, selbst die Lokomotiven feuern Holz statt Kohle. Ringsumher ist es ungewöhnlich still und ruhig. Die einzige Abwechslung bilden die Patrouillen der Kommandantur, die auf Schritt und Tritt Ausweise kontrollieren. Mich betrachten sie mit ganz besonderem Mißtrauen – auf den Schultern die Achselstücke des Frontoffiziers schlendre ich wie ein Nichtstuer durch die Gegend.

Eines Tages besuchte ich meine alte Wohnung und zog meine alten Zivilkleider an. Doch schon nach einigen Schritten empfand ich ein sonderbar peinliches Gefühl, kehrte um und schlüpfte wieder in die gewohnte Uniform. Ein Land in Waffen, ein Land in Uniform. Da fühlt man sich im Soldatenrock irgendwie wohler.

Als ich Moskau verlassen und in die Armee eintreten mußte, stürzten alle meine privaten Pläne wie ein Kartenhaus zusammen. Bei der Rückkehr nach Moskau hatte ich unbewußt das Gefühl, das Leben werde wieder in seine alten Bahnen einmünden. Doch das Leben ist nicht stehengeblieben, und auch ich habe mich nach den Erlebnissen des Frontlebens gewandelt. Und heute, bei meiner ziellosen Wanderung entlang der zinnengekrönten Mauern des Kreml, der in lebloser Ruhe im Glast der Sommersonne liegt, fühle ich nichts als unbestimmte Sehnsucht und eine öde Leere im Herzen. Klar scheint nur eines zu sein – es muß Schluß gemacht werden mit dem Krieg. Denn solange dieser Krieg dauert, ist weder Raum für ein Privatleben noch für persönliche Interessen vorhanden.

Nachdem ich die Prüfungen abgelegt und auch die “Mandatskommission” glücklich hinter mir hatte, wurde ich zum Chef der Aus-bildungsabteilung, Oberst Gorochow, befohlen. Hinter dem großen Schreibtisch saß ein kleiner Mann mit den blauen Schulterstücken der Kavallerie und einem wie eine Billardkugel glänzenden, kahlrasierten Schädel. Aus dem schlauen Fuchsgesicht zwinkerten farblos wässerige Äuglein.

“Nehmen Sie Platz, Genösse Hauptmann”, sagt er zuvorkommend, nachdem ich meine Meldung erstattet habe und zeigt auf einen Stuhl gegenüber seinem Schreibtisch.

Dieser Empfang ist weit entfernt von der sonst üblichen Armeedisziplin. Er täuscht vielmehr die Atmosphäre von Universitätshörsälen und zerstreuten Professoren vor. Der Oberst blättert mit dünnen, hageren Fingern in meinen zahlreichen moralisch-politischen Gutachten, Bescheinigungen über Teilnahme an Kämpfen, Fragebogen und Prüfungsergebnissen.

“Sie sind Ingenieur? Sehr angenehm”, hebt er freundlich an; “Ingenieure haben wir allerdings, ganz allgemein gesprochen, nicht allzu gern. Wir haben hier einige. Zu viel Selbstbewußtsein und zu wenig Disziplin. Wie stellen Sie sich ihre zukünftige Karriere vor?”

“Wie es das Interesse des Staates verlangt”, entgegne ich vorsichtig, jedoch ohne das geringste Zögern. Mit solchen Fragen kann man mich nicht fangen.

“Ist Ihnen bekannt, um was für eine Lehranstalt es sich handelt?” fragt der Oberst.

Auf meine unbestimmte Antwort fängt er langsam, von Pausen unterbrochen, zu sprechen an: “Es handelt sich um die Militär-Diplomatische Akademie des Generalstabes der Roten Arbeiter und Bauernarmee. Sie müssen wissen, daß laut Statut Leute mit militärischer Hochschulbildung, d. h. Absolventen der Militärakademien, verpflichtet sind, auf Lebenszeit Dienst in der Armee zu tun.

Der Staat gibt für ihre Ausbildung eine Unmenge Geld aus und kann deshalb nicht zulassen, daß die Leute hinterher tun, was ihnen beliebt. Auch für Sie persönlich hat der Staat bereits einen ganz anständigen Haufen Geld hinausgeworfen." Bei diesen Worten blickt er auf mein Diplom, aus dem hervorgeht, daß ich Absolvent des Industrie-Instituts bin.

“Mir täte es direkt leid, für Sie weiterhin Zeit und Geld zu opfern”, fährt der Oberst mit dem Ausdruck eines sparsamen Hausherrn fort. “Und nun, worauf ich hinaus will – wenn Sie in die Akademie aufgenommen werden, dann werfen Sie gefälligst all den zivilistischen Quatsch über Bord und vergessen Sie, daß es eine Demobilisierung für Sie geben könnte.”

Der Oberst scheint ein guter Psychologe zu sein und im voraus zu wissen, wovon sein Gegenüber träumt. Ich sitze mit leidenschafts-losem Gesicht sehr aufrecht auf meinem Stuhl.

“Dieser und jener mag vielleicht gleich Ihnen denken – ist der Krieg erst zu Ende, schlagen wir uns seitwärts in die Büsche: Glauben Sie das ja nicht! Wir haben auch solche schon kleingekriegt! Sie interessieren uns nur insofern, als Sie – nach Ihren Papieren und Prüfungsergebnissen zu urteilen – eine solide Grundlage von Kenntnissen haben, die wir brauchen. Sie werden uns weniger Scherereien machen als die anderen. Deshalb und nur deshalb befassen wir uns mit Ihrem Fall.”

Nach diesem Vorwort geht der Oberst zu Einzelheiten über: “Wozu haben Sie sich nach Absolvierung des Industrie-Instituts mit Fremdsprachen beschäftigt?”

“Ich hielt die Kenntnis von Fremdsprachen für einen Ingenieur erforderlich.”

“Gut, aber welcher Teufel hat Sie dann geritten, das...” er warf wieder einen Blick in meine Papiere, “Erste Moskauer Institut für Fremdsprachen zu besuchen, und noch dazu ausgerechnet die pädagogische Abteilung? Ihnen hat wohl die Stellung eines Ingenieurs nicht mehr gepaßt?”

Der Oberst kannte sich gut aus in den Feinheiten der in der heutigen Sowjetgesellschaft so häufig anzutreffenden Fluktuation der Interessen und Berufe. Infolge der verhältnismäßig einfachen Erlangung der höheren technischen Ausbildung während der Zeit meines Studiums befand sich an den technischen Hochschulen ein ziemlich hoher Prozentsatz völlig ungeeigneter Studenten. Nach den ersten Erfahrungen mit der praktischen Arbeit, die in vielen Fällen sowohl moralisch als auch wirtschaftlich unbefriedigend waren, steckten sie ihre Diplome hinter den Spiegel und machten sich auf die Suche nach einem einträglicheren oder weniger verantwortungs-vollen Beruf.

Das erklärt sich zum Teil auch aus den außergewöhnlich häufigen Verhaftungen von Ingenieuren wegen geringfügigster technischer Versehen und der verhältnismäßig schlechten Entlohnung der gewöhnlichen Ingenieure. Viele Frauen mit Hochschulbildung zogen es vor, zu heiraten und am Herd zu stehen, als ihrem akademischen Beruf nachzugehen. Natürlich nur, wenn der Arbeitslohn des Mannes das zuließ. Wenn nicht, machten auch sie sich wieder auf die Suche nach einem neuen Beruf. So zogen diese Leute mit ihren Diplomen von einem Ende des Riesenreiches zum ändern.

Der Staat versuchte diesen Erscheinungen durch entsprechende Maßnahmen entgegenzutreten – er verpflichtete die jungen Spezialisten für fünf Jahre an einen bestimmten Betrieb, wobei eigenwilliges Verlassen des Arbeitsplatzes mit Gefängnisstrafen bedroht war.

“Woher kannten Sie die Fremdsprachen überhaupt?” fährt der Oberst fort, “Sie haben wohl Erzieherinnen und Gouvernanten gehabt?”

Ein Verhör wie bei der NKWD! In den Jahren meiner Kindheit eine Gouvernante gehabt zu haben, hätte bedeutet, zu den “Ehemaligen” zu gehören. Gegenwärtig hat das Wort “Gouvernante” nicht mehr diesen ominösen Klang – in den Moskauer Parks kann man eine Menge Kinder der haute volee aus dem Kreml in Begleitung ihrer Gouvernanten sehen, die mit den Kleinen französisch oder englisch sprechen. Diese neue haute volee war, nachdem sie die alte Oberschicht gestürzt und beschimpft hatte, schnell in dieselben Geleise eingelaufen.

"Ich erlernte die Sprachen parallel zu meinem sonstigen Studium. Anschließend legte ich die Abschlußprüfung des letzten Kursus und das Staatsexamen als Externer am Moskauer Institut ab", antwortete ich.

“Aha, also Sie studierten gleichzeitig an zwei Instituten. Sie sind demnach ein strebsamer Mensch...” setzt der Oberst abschließend hinzu und reibt nachdenklich seinen kahlen Schädel, als wäre ihm irgendeine neue Idee eingefallen.

Ich weiß gar nicht mehr, warum ich angefangen hatte, mich mit Sprachen zu beschäftigen. Jeder Student hatte irgendein Steckenpferd – der eine befaßte sich mit der Erfindung des perpetuum mobile oder sägte auf der Geige, ein anderer glänzte auf dem Fußballplatz und saß dafür in jedem Kurs zwei Jahre ab, wieder andere begeisterten sich für Foto, Radio oder sonst was.

Fremdsprachen waren für einen Studenten das allerheikelste Fach. Manche von ihnen hinkten bei Ablegung ihrer Abschlußprüfungen um ganze fünf Jahre hinter dem vorgeschriebenen Pensum zurück. Ich selbst wagte – um mich nicht dem Spott der anderen auszusetzen – nur im geheimen, mich mit Fremdsprachen zu befassen.

In der Stadtbibliothek gab es ein riesiges ungeordnetes Archiv von Werken in fremden Sprachen. Es fand sich niemand, der dieses Archiv ordnen und kritisch überprüfen konnte, andererseits durfte es aber ohne vorherige Zensur nicht benutzt werden. Bald schon erhielt ich Zutritt zu diesem Archiv und mir eröffnete sich eine völlig neue, allen übrigen verschlossene Welt.

Meine Sprachkenntnisse waren bei weitem nicht glänzend, unter den sowjetischen Verhältnissen jedoch gehörten selbst begrenzte Sprachkenntnisse zu Ausnahmeerscheinungen. Für einen Sowjetmenschen sind die Möglichkeiten ihrer praktischen Anwendung derart gering, daß es niemandem auch nur in den Kopf kommt, auf ihre Erlernung Zeit zu verschwenden. “Da kommt man am Ende gar auf die Listen der NKWD”, überlegten sich die Menschen.

“So, so...”, der Oberst klopft mit dem Bleistift rhythmisch auf meine Papiere. “Nun zur Sache, Genösse Hauptmann. Mit deutschen Sprachkennern können wir ganze Straßenzüge pflastern. Englische gibt's auch mehr als nötig. Da ich aber sehe, daß Sie ein strebsamer Mensch und überdies kein dummer Junge mehr sind, will ich Ihnen einen weitaus besseren Vorschlag machen.” Er macht eine bedeutungsvolle Pause und beobachtet dabei sorgfältig, wie ich auf seine Reden reagiere. “Ich werde Sie einer ausnehmend verantwortungs-vollen Abteilung zuweisen. Dorthin gelangt man nur ausnahmsweise. Zudem gebe ich Ihnen die Garantie, daß Sie nach der Absolvierung in San Franzisko oder Washington arbeiten werden. Was sagen Sie dazu?”

Ohne mit der Wimper zu zucken, blicke ich ihn ruhig an. Wo will er hinaus? Weder englisch noch deutsch, Arbeit in Washington... Will er, mich am Ende als Liftboy an irgendeine Gesandtschaft schicken? Ich habe mal mit halbem Ohr gehört, daß es hier auch solche Sachen gibt.

“So. Ich werde Sie der Fakultät Ost zuteilen”, erklärt der Oberst in herablassendem Ton.

Mechanisch schnalze ich unhörbar mit der Zunge. Mir wird heiß und kalt.

“...der japanischen Abteilung!” sagt der Oberst abschließend und verleiht diesen Worten pathetischen Klang. “Dort werden übrigens mehr englische Sprachkenntnisse verlangt als irgendwo sonst.” Ich ziehe fröstelnd die Schultern hoch und fühle mich restlos ungemütlich.

“Genösse Oberst, gibt es nichts Unkomplizierteres...?” bringe ich mit schwacher Stimme hervor. “Ich war vor kurzem verwundet...” “Wir haben hier kein Warenhaus. Die Auswahl ist begrenzt”, urplötzlich ist das Gesicht des Obersten völlig verändert, kalt und hart. Er bedauert die Zeit, die er an mich verschwenden muß.

“Zwei Möglichkeiten: entweder die japanische Abteilung oder wir schicken Sie zurück, woher Sie gekommen sind. Die Sache ist erledigt! Ich gebe Ihnen zwei Stunden Bedenkzeit...”

“Der Oberst in Leningrad drohte mir, wenn ich zurückgeschickt werde, mit dem Kriegsgericht. Und hier lebenslängliche Zwangsarbeit japanischer Prägung! Mir scheint, mein lieber Klimow, Du sitzt in der Tinte?!” blitzen Gedankenfetzen durch mein Hirn. Beim Heraustreten aus dem Arbeitszimmer des Chefs der Ausbildungsabteilung umringt mich eine aufgeregte Gruppe meiner neuen Bekannten. Alle sind gespannt auf das Ergebnis einer so ausgedehnten Audienz:

“Nun, wie ist's? Wohin kommst Du? In die westliche?” schallt es von allen Seiten.

“Samurai!” erwidere ich niedergeschlagen.

Für einen Augenblick erstarren sie in Schweigen, dann bricht ein wildes Gelächter los. Für sie ist es ein guter Witz, für mich – ein Trauerspiel.

“Weißt Du, aus wieviel Zeichen ihr Alphabet besteht?” fragt einer teilnahmsvoll. “Vierundsechzigtausend! Ein gebildeter Japaner kennt davon ungefähr die Hälfte... Darum tragen sie alle Brillen.” “Im letzten Jahr kamen hier drei Fälle von Selbstmord vor”, informiert mich ein zweiter liebenswürdig. “Alle drei in der japanischen Abteilung. Ganz vor kurzem erst hat sich einer unter die Straßenbahn geworfen.”

Ja, der Oberst scheint sich nicht umsonst für meine Ausdauer interessiert zu haben. Meine Stirn ist schweißbedeckt. Der Sand und die Sümpfe der Leningrader Front scheinen mir plötzlich so lieb und vertraut. Lieber wieder Frontdienst, als Vierundsechzigtausend Hieroglyphen.

Den mich umringenden Offizieren bereitet meine Verstörtheit offensichtlich das größte Vergnügen. Einer von ihnen zieht mich am Ärmel:

“Komm! Ich zeig Dir die Japaner.”

Bevor wir eintreten, klopft mein Begleiter an die Tür und schreit laut und fragend: “Männer?”

Hinter der Tür läßt sich ein heiserer Baß vernehmen: “Herein”.

Auf dem der Tür zunächst stehenden Bett sitzt mit untergeschlagenen Beinen ein zerzaustes Wesen in Unterhosen, eine Hornbrille auf der Nase. Das Wesen beachtet uns nicht im geringsten, sondern fährt in seiner Beschäftigung fort, irgendwelche Beschwörungsformeln zu murmeln und gleichzeitig mit dem Finger rätselhafte Zeichen in die Luft zu malen. In dem Raum sehe ich noch mehrere solcher Gestalten. Sie alle befinden sich in verschiedenen Stadien des gleichen buddhistischen Trancezustandes; durch ihre Unterwäsche schimmert nackte Haut. Die vorsorglictie Frage meines Begleiters an der Tür war durchaus berechtigt.

“Da hast Du Deine künftigen Kollegen”, meldet freudig mein Begleiter. “Der Weisheit Born! übrigens sind sie alle fallsüchtig. Nimm Dich in acht!”

Ein dunkelhäutiger, hagerer Leutnant an einem Fenstertisch – der einzige, der noch Schulterstücke trägt – bringt, den Ellbogen abgespreizt, mit einer Breitfeder kunstreiche Zeichen aufs Papier. Er beginnt in der rechten unteren Ecke und führt sie von unten nach oben, von rechts nach links weiter. Vor den Fenstern brodelt der heiße Moskauer Sommer, in den Korridoren lärmt hoffnungsvolle Jugend, hier aber hocken gleich den müden Fliegen an der Wand diese Armen und quälen sich bis zur Bewußtlosigkeit damit ab, den Granit östlicher Weisheit zu zerbeißen.

In den nächsten Tagen geistere ich durch die Akademie wie ein betrogener Liebhaber. Versprochen hat man mir eine märchenhafte Schönheit, hinter dem Schleier aber verbarg sich eine Kröte. Und was für eine!

An einem dieser Tage kommt einer meiner glücklicheren Freunde auf mich zu und drückt mir einen kleinen dunkelgrünen Gegenstand in die Hand.

“Da hast Du ein garantiert echtes japanisches Amulett. Vor kurzem ist einer dieser Samurais”, er zwinkert in Richtung der “japanischen Zimmer” – “an die Front desertiert.” Erst spuckte er kurz durchs Fenster, dann machte er Anstalten, dieses Ding da hinterherzufeuern. “Mit Müh und Not habe ich es ihm abgeluchst. Und jetzt will ich es Dir als Glücksbringer schenken”, fährt er fort. “Der Japaner hat allerdings eine Bedingung gestellt: Hör! sagte er – wer die Hieroglyphen auf der Rückseite entziffern kann, kann mit ruhigem Gewissen der japanischen Abteilung den Rücken kehren. Das Amulett hat sogar ein kleines Loch – man kann es an einer Schnur um den Hals tragen.”

Auf meinem Handteller dunkelt patinaüberzogene Bronze – ein längliches Viereck, nicht größer als eine Briefmarke. Die Vorderseite trägt die Darstellung einer fetten verschlafenen Gottheit mit unter-geschlagenen Beinen. Auf der Rückseite sind durch die grüne Patinaschicht schimmernd etwa ein halbes Dutzend Hieroglyphen sichtbar. Am oberen Rande tatsächlich ein kleines Loch zum Durchziehen einer Schnur.

Ich feuchte mit der Zunge einen Finger an und reibe den verschlafenen Gott ganz vorsichtig. Der Finger wird grün, aber der Gott regt sich nicht. Da beginne ich, ihn ganz formlos mit Sand zu bearbeiten. Bald schon strahlt die Bronze in goldenem Glanz, der kleine Gott wird sympathischer, die geheimnisvollen Zeichen jedoch noch unverständlicher.

Das Amulett mit den geheimnisvollen Hieroglyphen ließ mir keine Ruhe. Ich beschloß, die “Japaner” des ersten Kursus um Beistand zu bitten. Der junge Mann, an den ich mich mit der Bitte wandte, die Schriftzeichen zu entziffern, holte, ohne einen Blick auf das Amulett zu werfen, erst einmal seine Wörterbücher hervor. Es gab nur japanisch-englische Wörterbücher. Nachdem er einige Zeit in ihnen herumgewühlt hatte, mußte er bekennen, daß dieses Werk über seine Kräfte ging.

Ich gab mich nicht zufrieden. Der Hörer des zweiten Kursus machte sich nicht einmal die Mühe, seine Wörterbücher hervorzukramen. Anscheinend hatte er bereits Gelegenheit, sich von der Zwecklosigkeit eines solchen Bemühens zu überzeugen. Er machte sich daran, die Hieroglyphen auf intuitivem Wege zu dechiffrieren und murmelte sich Worte wie “Sonne”, “Baum”, “Vogel” in den Bart. Daraufhin erklärte er: “Da steht erst einmal ein Baum... unter dem Baum sitzt ein Vogel... und unter dem Vogel scheint die Sonne... Das beste wird sein, du gehst und fragst irgend jemand, was das bedeutet.”

Nun war mir wenigstens ein kleines Licht aufgegangen, und so begab ich mich weiter, bis ich schließlich zu den Hörern des letzten Kursus gelangte. Das waren alles in allem vier Mann. Diese Leute kannten sich wirklich sowohl in der japanischen Sprache als auch in der Diplomatie sehr gut aus. Nach einem flüchtigen Blick auf das Amulett und raschem Seitenblick von einem zum anderen erklärten sie übereinstimmend, daß das nicht japanische, sondern chinesische Schriftzeichen seien. Sie bekräftigten ihre Behauptung durch einige japanische Worte und den Hinweis auf Konfuzius.

Zu guter Letzt machte ich sogar den Professor für japanische und chinesische Sprache ausfindig. Diese Leuchte der Wissenschaft betrachtete mein Amulett mit tiefgründigen Blicken und sprach mit fester Stimme, die jeden Zweifel ausschloß: “Diese Hieroglyphen sind weder japanischer noch chinesischer Herkunft. Es sind äußerst seltene Zeichen. Nämlich – koreanische Hieroglyphen! Ja, ja... echt koreanische Schriftzeichen.”

Auf diese Weise hatte sich das Geheimnis des Amuletts für mich gelüftet. In meiner Seele herrschten wieder Ruhe und Frieden – wie in einem Buddha-Tempel. Jetzt begriff ich die Worte des Mannes, der an die Front desertiert war – “Wer diese Hieroglyphen entziffert, kann mit dem Studium der japanischen Sprache Schluß machen.” Er hat wahrscheinlich mit dem Amulett dieselben Erfahrungen gemacht wie ich und sich daraufhin entschlossen, an die Front zu entweichen. Das Amulett hat also wirklich geholfen – ihm und mir. Ich faßte den festen Vorsatz, bei erstbester Gelegenheit der Japanischen Sprache Valet zu sagen. Solange diese Möglichkeit nicht gegeben ist, muß ich mich aber wohl oder übel damit befassen, mich an dem neuen Dienstort einzuleben.

Die Akademie ist erst vor kurzem aus der Evakuierung zurück-gekehrt. Sie hat sich vorübergehend in mehreren vierstöckigen Gebäuden rings um den Taganer Platz einquartiert. Die einzelnen Fakultäten sind irgendwo in der Umgebung von Moskau verstreut untergebracht. Unser Gebäude befindet sich in einer ruhigen Nebenstraße hoch über dem granitenen Kai des Moskwa-Flusses. Die auf den Fluß hinausgehenden Fenster geben den Blick auf die Steinbrücke und die Mauern des Kreml auf dem gegenüberliegenden Ufer des Flusses frei.

An den Abenden genießen wir häufig das erhebende und fesselnde Schauspiel, das uns der Widerschein der Mündungsfeuer der über Moskau dröhnenden Siegessalute bietet. Das Bild der abendlichen Metropole im Lichterglanz der Salutschüsse bietet sich von den Fenstern unserer Akademie in ganz besonderer Schönheit dar. Die Batterien sind in konzentrischen Kreisen um den Kreml gruppiert und von uns aus ist der Anblick von überwältigender Erhabenheit. Man erzählt sich, daß Stalin häufig auf einen der Glockentürme des Kreml steigt, um sich an den Salutschüssen zu erfreuen.

Die Militär-Diplomatische Akademie wurde in den Jahren des Krieges gegründet, in der Zeit, als die veränderten internationalen Verhältnisse die Ausweitung der militärisch-diplomatischen Verbindungen mit dem Ausland erforderten, als die Sowjetunion in ihrem Verteidigungskampf gegen Hitlerdeutschland die internationale Arena betrat. Die häufig wechselnden Lehrpläne der Akademie lassen die Pläne der Außenpolitik mehrere Jahre im voraus erkennen.

Die Militärisch-Diplomatische Akademie wurde auf der Grundlage der Hochschule für Diplomatie, der Geheimdienst-Hochschule, des Instituts für Ostkulturen und einer Reihe anderer militärischer und ziviler höherer Lehranstalten geschaffen. Um sich die Schwierigkeiten der richtigen Auslese vorstellen zu können, braucht man nur daran zu denken, daß die Hochschule für Diplomatie nur Menschen mit abgeschlossener Hochschulbildung aufnimmt – und wenn es bloß ein veterinärärztliches Institut ist -, die überdies mindestens fünf Jahre Parteimitgliedschaft nachweisen können.

Die Ost-Fakultät der Akademie umfaßt außer der japanischen und chinesischen noch je eine arabische, türkische, persische, indische und afghanische Abteilung. Die West-Fakultät außer der englischen, deutschen und französischen eine norwegische, schwedische, finnische, holländische, italienische und andere Abteilungen. Ferner gibt es eine Kriegsmarine-Fakultät, die über Abteilungen sämtlicher von Meeren und Ozeanen umspülter Mächte verfügt. Die Luftwaffen-Fakultät ist vorübergehend in eine Fallschirm-Landegruppe umgewandelt, in der besonderer Nachdruck auf die Nationalitäten gelegt wird, mit deren Ländern in naher Zukunft ein unmittelbarer Kontakt zu erwarten ist.

Da die Akademie erst seit kurzem besteht, zählen die Studierenden der ersten Kurse nach Tausenden, die der zweiten nach Hunderten, und die der dritten nach Dutzenden, während sich die letzten – vierten – Kurse im Aufbaustadium befinden. Für die Ost-Fakultät ist ein zusätzliches fünftes Studienjahr vorgesehen. Für die höheren Kurse, für die die Nachfrage außerordentlich groß, die Anzahl der Kandidaten jedoch sehr klein ist, werden geeignete Menschen aus allen Winkeln des Riesenreiches zusammengesucht.

Ausländer sind von der Aufnahme ausgeschlossen, russische Bürger mit fremdsprachigen Kenntnissen gibt es aber nur sehr selten. In den ersten Kursen besteht annähernd die Hälfte der Hörer aus Kindern von Generälen oder hohen Funktionären aus Partei- und Staatsdienst. Für einen Menschen “gemeiner” Herkunft ist die Aufnahme in den ersten Kursus praktisch ausgeschlossen. Eine Ausnahme bilden allerdings die “Helden der Sowjetunion”, junge Offiziere, die sich im Kriege besonders ausgezeichnet haben, und “Berühmtheiten” überhaupt.

Die ganze Akademie kennt die junge Tadshikin Mamlakat. Einst, in den dreißiger Jahren, flog das Bild eines kindhaften Mädchens, das mit Blumen in den Händen von Stalin persönlich empfangen wird, durch die ganze Sowjetunion. In dem fernen Tadshikistan war es der kleinen Mamlakat gelungen, eine Rekordleistung im Baumwollpflücken zu erreichen. Zur gleichen Zeit fand in Moskau eine Tagung von Stachanow-Arbeitern der Kolchosfelder statt, eine Sensation war also höchst willkommen. So wurde Mamlakat nach Moskau gebracht und auf der Tagung mit dem Leninorden dekoriert; Stalin schenkte ihr höchstpersönlich eine goldene Armbanduhr und ließ sich mit ihr in väterlicher Pose fotografieren.

Seitdem sind Jahre vergangen. Mamlakat pflückt zwar längst keine Baumwolle mehr, sonnt sich aber nach wie vor in ihrem Ruhm und der Gnade ihres Führers. In der Akademie erzählt man sich schmunzelnd die Einzelheiten ihrer Karriere. In dem luxuriösen Appartement des Hotels “Moskwa” stürzte sich die vor Freude über ihren Ruhm und das Führergeschenk glühende Mamlakat in die Badewanne, ohne daran zu denken, die wertvolle Uhr abzulegen. Die Uhr blieb stehen, die kleine Tadshikin aber versetzte das gesamte riesengroße Hotel in helle Aufregung durch ihr wildes, stundenlanges Geheul. Ihr Heulen glich, wie die Chronisten erzählten, dem eines Rudels Wölfe.

Jetzt ist Mamlakat fast zwanzig Jahre alt. In der Zwischenzeit bat sie es verstanden, im Stachanow-Tempo vier verschiedene Institute zu beehren und schließlich in den Hafen unserer Akademie einzulaufen. Nach jeder Prüfungsperiode ist sie erneut gezwungen, Studienort und Studienfach zu wechseln. Wenn Leninorden und Stalinuhr auch nicht imstande sind, die Tätigkeit der Gehirnwindungen zu beeinflussen, so öffnen sie doch ihren Besitzern spielend sämtliche Türen. Man erzählt sich gerüchtweise, daß Mamlakat wieder einmal auf dem Sprung ist, den Ort ihrer Tätigkeit zu wechseln, übrigens hat die Akademie noch mehr solcher Schmarotzer ruhmvoller Vergangenheit aufzuweisen.

Irgendwo in der Umgebung von Moskau existiert eine zweite Lehranstalt mit den gleichen Aufgaben wie unsere Akademie. Dort werden ausschließlich Ausländer auf Empfehlung und Veranlassung der offiziell zwar aufgelösten, trotzdem aber in vollem Umfange tätigen Komintern ausgebildet. Es ist das Massenreservoir der sowjetischen Auslandsagenten. Sie verfügen über keine Diplomatenpässe, ihre Arbeit ist aber wichtiger und jedenfalls weitaus aktiver als die der offiziellen Diplomaten.

Außerdem haben viele bekannte Kommunisten des Auslandes wie Rakosi, Dimitrow, Anna Pauker, Schulungskurse an der Kommunistischen Universität “Sun Jat Sen” oder an der Politischen Akademie “Lenin” durchgemacht. Man sieht nicht überall durch! über unsere Akademie wird auch nicht viel gesprochen, obwohl ihre Tätigkeit absolut legal ist – nämlich Ausbildung von Personal für die sowjetischen militärischen Vertretungen im Ausland. Ein interessantes und völlig gefahrloses Handwerk. Wenn man im schlimmsten Falle auch mal hereinfällt, kann einem nicht mehr passieren, als nach Hause zurückgeschickt zu werden. Was einem zu Hause blüht – das ist allerdings eine andere Frage!

Wie sonderbar es auch sein mag, so ist den Juden die Aufnahme in unsere Akademie kategorisch verschlossen. Hier stoße ich zum erstenmal auf eine offizielle Bestätigung jener Gerüchte, welche seit einiger Zeit hartnäckig im Lande kursieren. Der Kreml hat in der Frage der Nationalitätenpolitik einen ziemlich unerwarteten Kurs eingeschlagen. Bis in die jüngste Zeit hinein spielten und spielen die Juden eine wichtige Rolle in der sowjetischen Diplomatie wie überhaupt im Auslandsdienst. Womit läßt sich erklären, daß ihnen jetzt die Tore der diplomatischen Akademie verschlossen bleiben? Vielleicht kann Stalin nicht verzeihen, daß in den Moskauer Prozessen der Jahre 1935-1938 der überwiegende Teil der Angeklagten Juden waren.

Unwillkürlich entsinne ich mich einiger Tatsachen der jüngsten Vergangenheit. Während des Rückzuges im Jahre 1941 wurden die Juden aus den zu räumenden Gebieten nicht evakuiert, sondern ganz bewußt der Ausrottung durch die Deutschen überantwortet. Die Moskauer haben die Herbsttage des Jahres 1941 noch gut im Gedächtnis. Fast keiner der Moskauer Juden erhielt die Erlaubnis zur Evakuierung. Als die Deutschen am 16. Oktober in gewaltigem Ansturm die Zufahrtsstraßen nach Moskau besetzten, suchten Tausende und aber Tausende von Menschen ihr Heil in panischer Flucht.

Die Mehrzahl davon waren Juden, da die Parteifunktionäre bereits planmäßig evakuiert waren, während die einfache Moskauer Bevölkerung weder die Möglichkeit noch den Wunsch hatte zu fliehen. Damals warf Stalin eine Abteilung NKWD als Sperre auf die Chaussee Moskau- Gorkij-Tscheboksara und erließ den Befehl, auf der Stelle jeden zu erschießen, der ohne Evakuierungserlaubnis auf der Flucht angetroffen wird. Der Befehl wurde absichtlich erst einige Zeit nach der Einsetzung der NKWD-Abteilung veröffentlicht. Die Folge – Hekatomben jüdischer Leichen zu beiden Seiten der Moskauer Chaussee.

Während der Kriegsjahre wurde die Einigkeit der Völker der Sowjetunion einer harten Prüfung unterzogen. Die nationalen Minderheiten hatten die Hoffnungen des Kreml nicht gerechtfertigt. Heute vernimmt man in der Armee auf Schritt und Tritt ein neues unverständliches Schimpfwort: “Jaldasch”. In den Sprachen der kleinasiatischen Völker bedeutet dieses Wort “Genösse”. In der Revolutionszeit als neue offizielle Anrede eingeführt, verwandelte es sich nun in ein verächtliches Schimpfwort.

Ein weiteres asiatisches Wort, das während der Kriegszeit den Wortbestand der Armee bereicherte, ist “Belmejdy”. Die nationalen Minderheiten liefen anfangs massenweise zu den Deutschen über, verübten Selbstverstümmelungen und gingen später zu passiven “Belmejdy” über. Unbegreiflich! Mit echt asiatischer Ruhe beantworteten die zur Armee einberufenen Turkmenen und Tadshiken jede Frage mit einem kurzen “Belmejdy!” Kommandierte man “Links um kehrt”, machten sie unweigerlich rechts um kehrt.

Eine von der leichten Hand des Vorsitzenden des Allslawischen Komitees, General Gundorow, stammende Wortschöpfung war – “Slawische Brüder”. Oft, wenn man in der Armee die Spuren irgendeiner Schweinerei, einer Plünderung oder sinnlosen Dummheit beobachtet und diskutiert, wird hinzugesetzt: “Das sind mir die richtigen slawischen Brüder!” Damit geißeln die einfachen Soldaten gewisse Dinge, die, von höchster Stelle gefördert, die dunklen Instinkte und Triebe des verantwortungslosesten Teiles, der Armee entfesseln. Wenn eine dieser “Kampagnen” sich überlebt hat, dann wälzt dieselbe “höchste Stelle” die ganze Verantwortung auf die Ausführenden, erläßt einen entrüsteten Befehl und führt die Erschießung der Sündenböcke durch.

Die spöttische Bezeichnung “slawische Brüder” wird häufig auf die polnischen und baltischen Formationen der Roten Armee angewandt. Von den Esten und übrigen Balten, die auf der Seite der Deutschen kämpften, sprachen die Soldaten mit größter Hochachtung. Die Sowjetsoldaten wissen zwar nicht, was für eine “Selbständigkeit” die Deutschen den Balten zu geben gedenken, dafür wissen sie aber um so besser, was für eine “Unabhängigkeit” diese im Jahre 1940 von der Sowjetmacht erhielten.

Die russischen Soldaten, die bis in die letzte Zeit hinein sorgfältig im Geiste abstrakten Internationalismus erzogen worden waren, dann aber während des Krieges wieder die Gelegenheit hatten, die Ereignisse vom nationalen Standpunkt aus zu betrachten, wissen den Wert des Strebens nach nationaler Freiheit selbst bei ihren Feinden zu schätzen.

“Die stehen fest, die Teufel!” hörte man manchmal, und aus den Worten sprach mehr heimliche Hochachtung als Wut.

Einige Monate nach Kriegsbeginn traf ich beim Bau des zweiten Ringes von Flugplätzen in der Nähe der Stadt Gorkij Tausende und aber Tausende von Ausländern, die mit Spaten und Schubkarren ausgerüstet, mit Erdarbeiten beschäftigt waren. Man konnte sie an ihrer Kleidung sofort als Ausländer erkennen. Ihre Gesichter waren reichlich mürrisch.

Es waren seinerzeit mit den neuen Machthabern liebäugelnde und konspirierende Bürger der estnischen, lettischen und litauischen SSR. Die Konjunktur ausnutzend, hatten sie sich zu Milizionären, Partei- und Staatsfunktionären der neuen Sowjetrepubliken machen lassen. Als sie dann vor den anrückenden hitlerschen Heerscharen in die Heimat des Weltproletariats flüchteten, drückte man ihnen kurzerhand Spaten in die Hände, damit sie einmal lernten, was es heißt, Proletarier zu sein.

Marionetten konnte man zwar in ihrem Heimatland ganz gut gebrauchen, hier aber leisteten sie als Arbeitsvieh bessere Dienste. Später wurden sie allesamt in die Zwangsarbeitslager der NKWD eingegliedert. Als es in der Folge notwendig wurde, nationale Truppeneinheiten aufzustellen, wurden sie den estnischen und sonstigen nationalen Brigaden zugeteilt, wo die Mehrzahl von ihnen schon bald ins Gras beißen mußte. Solcherart sieht die Karriere der kleinen Konjunkturritter aus. Nicht jedem ist ein warmes Plätzchen im Komintern, ein Führertitel oder eine Operettenmarschall-Uniform bestimmt. Das sollten sich jene hinter die Ohren schreiben, die in Zukunft in Versuchung geraten könnten...

Die Zeit vergeht. An den Fronten erdröhnt der Donner der Schlachten, in Moskau knallen die Salute. Der September bricht an und damit der Beginn des regulären Unterrichts. Ich kann mich immer noch nicht mit dem Gedanken abfinden, dazu verdammt zu sein, die Karriere eines japanischen Diplomaten einzuschlagen. Wenn ich mit meinen Bekannten darüber spreche, lachen sie fröhlich wie über einen gelungenen Scherz. Kann es wirklich möglich sein, daß mir das Glück nicht mehr lächelt?

Eines Tages pralle ich beim eiligen überqueren des Hofes unserer Akademie heftig mit einer Frau in Militäruniform zusammen. Beim Militär gilt der erste Blick den Schulterstücken. Erstaunt, die für eine Frau ungewöhnlichen Rangabzeichen eines Majors zu erblicken, sehe ich auf.

“ Olga Iwanowna?!” rufe ich freudig aus, überrascht durch die unerwartete Begegnung.

Vor mir steht Olga Iwanowna Moskalskaja – Doktor der Philologie, Professor und Dekan der Deutschen Fakultät der I MPIIJ (MPIIJ = Das Erste Pädagogische Institut für Fremdsprachen). Früher bin ich ihr dann und wann begegnet. Sie war damals angenehm berührt von meinem Sprachinteresse und schenkte mir ihre liebenswürdige Aufmerksamkeit. Sie war ein Mensch von hoher Kultur und außergewöhnlichem persönlichen Charme. Kein Wunder, daß mir ein Ausruf freudigsten Erstaunens entschlüpft, als sie so unerwartet vor mir steht.

“Genösse Klimow?!” tönt es ebenso überrascht zurück, während sie mich mit einem raschen Blick von Kopf bis Fuß betrachtet. “In Uniform? Was treiben Sie hier?”

“Ach, fragen Sie nicht, Olga Iwanowna”, antworte ich verwirrt.

“Nun gut, aber immerhin... Studieren Sie etwa wieder Deutsch?”

“Nein, Olga Iwanowna, viel schlimmer... Japanisch!” erwidere ich traurig.

“Wa-a-as?! Japanisch? Nicht möglich! Sie scherzen.”

“Mir ist nicht nach scherzen zumut, Olga Iwanowna.”

“Aha, so-o-o ist die Sache!” nickt Olga Iwanowna verständnisvoll.

“Kommen Sie doch mal mit in mein Arbeitszimmer.”

Auf der Tür des Zimmers, das wir betreten, lese ich das Schildchen “Chef des West-Sektors” und ihren Namen. Olga Iwanowna bekleidet demnach einen wichtigen Posten in der Akademie.

“Welcher Idiot hat Sie denn nun eigentlich in die japanische Abteilung gesteckt?” fragt Olga Moskalskaja. Sie kennt sich auch ohne mein Zutun in den Verhältnissen der Akademie sehr gut aus.

“Kein Idiot, sondern Oberst Gorochow”, antworte ich.

“Wären Sie mit einer Versetzung in die deutsche Abteilung einverstanden?” fragt Olga Moskalskaja kurz und sachlich.

“Ich bin eben mit der Auswahl für den letzten Kursus beschäftigt und zerbreche mir vergebens den Kopf, wo ich Leute dafür hernehmen soll” – erklärt sie auf meine Zustimmung. “Wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich heute noch dem General Meldung erstatten mit der gleichzeitigen Bitte, Sie versetzen zu dürfen. Was meinen Sie dazu?”

“Wenn nur Oberst Gorochow dahinter um Gottes willen nicht einen persönlichen Wunsch von mir vermutet... Sonst garantiere ich nicht für die Folgen”, entgegne ich und drücke voll Dankbarkeit die mir entgegengestreckte Hand.

“Das lassen Sie meine Sorge sein. Auf baldiges Wiedersehen!” lacht Olga Moskalskaja, während ich das Arbeitszimmer verlasse.

Am folgenden Tage läßt mich der Chef das japanischen Vorbereitungskurses zu sich rufen und empfängt mich mit der mißtrauischen Frage, als sähe er mich zum erstenmal in seinem Leben:

“Sie sind also Klimow?”

“Zu Befehl, Genösse Major!” antworte ich.

“Es liegt ein Befehl des Generals vor, einen gewissen Klimow”, der Major betrachtet die Papiere, “zum... vierten Kursus der West-Fakultät zu versetzen.”

Skeptisch blickt er bald mich, bald wieder die Papiere an.

Die Verhältnisse in der Akademie sind recht eigentümlich. Diejenigen, die in den Vorbereitungskursus aufgenommen werden, schwimmen in Seligkeit. Die Hörer des ersten Kurses – insbesondere die der “soliden” Nationalitäten – schwellen von Selbstbewußtsein. Die Hörer des zweiten Kurses werden als “gemachte Leute” betrachtet.

Von den Hörern des dritten Kurses flüstert man sich heimlich zu, diese Leute müßten ganz besonders wirkungsvolle Protektion genießen, über die Existenz des vierten Kurses weiß man nicht viel – er gilt als göttlicher Olymp. Daraus erklären sich auch die sonderbaren Blicke und Fragen des Chefs des Vorbereitungskursus. Ein trauriges Würmchen, ein jämmerlicher Anfänger – und untersteht sich nun, irgendwohin in den Himmel zu fliegen.

“Ist Ihnen irgend etwas darüber bekannt?” fragt er mißtrauisch.

“Nein, Genösse Major”, entgegne ich.

“Nun gut! Da haben Sie den Befehl – wir haben vorläufig keinen anderen Hauptmann Klimow – und begeben Sie sich in die westliche. Ich nehme an, daß es sich um einen Irrtum handelt und wir uns bald wiedersehen werden”, meint er abschließend.

“Zu Befehl, Genösse Major!” Ich schlage die Hacken zusammen. Nun bin ich also im letzten Kursus der deutschen Abteilung der Akademie. Zu diesem Glück kommt noch hinzu, daß von dort aus jederzeit alle Wege zur Front offenstehen. Wirklich, es gibt noch gute Menschen auf der Welt! Das Glück hat mir nun doch gelächelt.


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